Putin Verstehen?

Lange vor seiner Präsidentschaft und dem Ukraine-Angriff offenbarte Putin seine Skrupellosigkeit und seine Fähigkeit, Menschen aus dem alten Apparat um sich zu scharen, die wie er Macht und eigenen Vorteil miteinander zu verbinden wissen. In gemeinsamer Erinnerung an alte Zeiten, will diese Elitenkohorte Russland zu neuer (alter) Größe führen. Offenbar mit allen Mitteln.

Recherche David Crawford/ Marcus Bensmann zusammengefasst von Christian Booß

Stand 28.6.2022

Putin scheint für viele bis heute ein Rätsel. Die deutschen Außenministerin Anna-Lena Baerbock empörte sich, von ihm angelogen, zu sein. Kanzler Olaf Scholz sah sich schon zuvor getäuscht. Andere kritisieren seinen angeblich immensen Reichtum. Viele hielten ihn für eine Marionette wahlweise der Geheimdienste oder der wohlhabenden Oligarchen.

 

Das zeigt, wie wenig in Deutschland offenbar zur Kenntnis genommen wurde, was über Putin schon gesichert bekannt war und ist, was sein Denken und sein Verhalten durchaus plausibel und aus seiner Warte zweckrational erscheinen lässt, selbst da, wo es „irre“ Züge zu tragen scheint. Christian Booß versucht die Fakten, die Crawford/Bensman für das Wallstreet Journal und Correctiv recherchiert haben, vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse einzuordnen.

 

Putins Lehr- und Wanderjahre

 

Da ist zunächst seine Sozialisation. Weniger die oft beschriebene Jugend, in der er sich gerne raufte und dabei unbedingt siegen wollte.[1] Durchsetzungswillen wird ihm wohl heute keiner absprechen. Jedoch läutern sich jugendliche Schläger normalerweise im Erwachsenenalter, nicht jedoch Putin. Das hängt wohl mit seiner KGB-Ausbildung in den 1970er Jahren zusammen. Putin sollte, soweit bekannt, zunächst Auslandsagent im Westen werden. Kommunistische Spione mussten sich, das weiß man heute zur Genüge aus den Akten, besonders gut tarnen und 24 Stunden am Tag auf der Hut sein, um in der ihnen an sich fremden westlichen Umgebung nicht aufzufliegen. Im schlimmsten Fall, der Entdeckung, drohten im Westen erst einmal harte, lange Strafen, die durch diszipliniertes hartnäckiges Schweigen zu überstehen waren. Für derartige Persönlichkeiten gehörte Täuschung und äußerste Wachsamkeit zum Alltag. Sie können gar nicht anders, weil sonst ihre Existenz bedroht ist. Putin soll sein Klassenziel nicht deswegen verspielt haben, weil es ihm an derartigen Charaktereigenschaften und Verstellungskunst fehlte, sondern weil er draufgängerische Disziplinlosigkeiten beging, d.h. weiter raufte. Putin war also nicht einfach Apparatschik, sondern ihm haftete von vornherein etwas von der skrupellosen Ruchlosigkeit dessen an, der sich seine eigenen Regeln gibt.

 

Dies wurde gleich bei seinem ersten Einsatz deutlich, der ihn nach der ersten Karrieredelle nicht mehr in den richtigen Westen, aber immerhin nach Dresden führte. Die DDR war für sowjetische Offiziere wegen des dort höheren Lebensstandards immerhin ein Traumland. Und für Putin, der die deutsche Sprache liebte, allzumal. Nach allem, was heute bekannt ist, legte Putin dort die Anfänge seiner wundersamen Karriere, wohl ohne selbst zu ahnen, wie weit sie ihn und seine Entourage führen würde. Ihre Charakteristika: Verwobenheit mit dem KGB-Apparat, Anwerbung von nützlichen Personen mit allen geheimdienstlich probaten Mitteln, dabei Deals zum eigenen Vorteil und die Schaffung eines Netzes von ihm verpflichteten „Kollegen“, die von Putins Netzwerk auch weiterhin karrieremäßig und finanziell profitieren sollten, z.T. bis heute.

 

Der Putinismus, jene Verwobenheit von Macht und Selbstbereicherung hat hier seine frühen Wurzeln. Durch akribische Recherchen von Wallstreet Journal und Correctiv ??? konnten schon seit den 1990er Jahren zwei Journalisten, Putins Dresdener Zeit an Hand von Akten und Zeugenaussagen, u.a. von früheren Kollegen, rekonstruieren.[2] Während Putin von sich selbst behauptete, er habe seine Dresdener Zeit weitgehend müßig und mit Biertrinken verbracht,[3] scheint daran nur so viel zu stimmen, dass er nicht der fleißigste Agentenführer war. Er ließ gerne andere für sich arbeiten, die er offenbar mal durch Erpressung mit Sexmaterial, mal durch Vergünstigungen-gewogen machen wollte. So jedenfalls die damaligen Recherchen, die vom russischen Präsidialamt weder auf Anfrage kommentiert und auch nicht dementiert wurden.

 

Putin war in einem Bereich eingesetzt, der mit Finanz- und Wirtschaftsspionage zu tun hatte. Es sollten auch Finanz- und Wirtschaftsleute als Agenten, als Schläfer für den künftigen Einsatz oder nur, um von ihnen Informationen abzuschöpfen, geworben werden. Putin erledigte diese Aufgaben offenbar nicht erfolglos.

 

Wer also meint, Putin heute mit Sanktionen oder Gasdiskussionen einfach aufs Kreuz legen zu können, unterschätzt, dass er durchaus eine gewisse Ahnung von Finanzwirtschaft hat und noch heute manchen Besucher und Zuhörer mit Zahlen zu traktieren weiß. Sein exzellentes Gedächtnis war eine Grundvoraussetzung für einen Auslandsagenten, schnelle Auffassungsgabe und Kombinationsfähigkeit auch. Strategien, und blitzschnell Gegenstrategien zu entwickeln, ganze Szenarien oder Legenden oder nur einfache Notlügen zu stricken, gehört zur Grundausstellung des guten Agenten und wird in der Ausbildung systematisch trainiert. Wen hätte es da eigentlich wundern können, dass Putin auf viele Folgen der Sanktionen offenbar gut vorbereitet war und Schwachstellen des „Gegners“ sieht und zu nutzen weiß. Siehe nur das Ausscheren von Victor Orbans Ungarn bei der Öl,- Gas- und Sanktionsfrage.

 

Die Dresdener Aktivitäten im Wirtschafts- und Finanzmilieu bescherten Putin möglicherweise auch Bekanntschaften und Kontakte, die bis heute weiter wirken. Allein drei seiner damaligen KGB-Kollegen gehören laut einer jüngeren Recherche von MDR-Fakt[4] noch heute zu Putins Gefolgschaft, die Russland beherrscht und darüber hinaus Macht ausüben will. Möglicherweise rührt auch schon aus dieser Zeit die Bekanntschaft zu einem der schillerndsten Deutschen in Putins Russland: Matthias Warnig, ehemaliger Stasi-Mann der DDR-Auslandsspionage, der HV A. Dienstzeit und Tätigkeit in Dresden -im Bereich der Wirtschaft parallel zu Putins DDR-Aufenthalt- legen nahe, dass Putin und Warnig damals dort kameradschaftlich kooperiert haben könnten. Das wird jedoch von beiden bestritten, wie Warnig auch -aus naheliegendem Grund- dementiert, seinerzeit Agenten geführt zu haben. Dies allerdings wäre eher untypisch für einen Stasimann in solch einer Funktion und Position, zuletzt als Major.[5] Beide, Warnig und Putin hätten Gründe, eine frühe Bekanntschaft zu verschleiern, denn sie sollten nach der „Wende“ in Russland in neuen Funktionen miteinander verkehren und zwielichtig wirkende Geschäfte machen, ohne dass ihre Arbeitgeber Verdacht schöpften.

 

Petersburger Goldrausch

 

Putins Karriere in Dresden endete abrupt. Er soll von Moskau zurückgezogen worden sein. Angeblich habe er, um sich als besonders erfolgreich zu profilieren, Agenten angeworben, die längst verbrannt waren, also von der westlichen Gegenspionage verdächtigt wurden.[6] Die DDR-Auslandsspionage hatte das wohl aufgedeckt und Putin bei seinen sowjetischen Chefs verzinkt. Putins Karriere bekam wegen derart eigenmächtiger Methoden einen zweiten Knick, gerade in der Zeit, als das Sowjetsystem unter Gorbatschow anfing zu bröckeln.

 

Putin konnte damals am eigenen Leib verspüren, wie der Untergang des Sowjetreiches auch mit seinem persönlichen Niedergang und dem seiner KGB-Kameraden im heimischen Petersburg einherging. Zu Sowjetzeiten, unter Breshnev hatte die Welt noch Respekt vor der UdSSR. Und den KGBisten ging es gut. Als der KGB Anfang der 1990er Jahre im Sinkflug war und man von Beamtengehältern kaum noch eine Familie ernähren bzw. keinen Wohlstand erzielen konnte, kamen Putin alte Kontakte zugute: Mathias Warnig und einer seiner ehemaligen Juraprofessoren: Anatoli Sobtschak, der in der Umbruchzeit Bürgermeister von Petersburg wurde, vormals Leningrad. Der sprachgewandte, wirtschafts- und auslandserfahrene Putin wurde zunächst dessen Berater, dann sein Stellvertreter für wirtschaftliche Außenbeziehungen, also eine Art Senator für Auswärtiges. Diese Position war in den russischen Chaosjahren eine ideale Voraussetzung, ein Netzwerk zur Machteroberung bei gleichzeitiger Bereicherung zu spinnen. Zumal da ein weiterer Geheimdienstler zur Stelle war, der wundersamer Weise zum Repräsentanten der Petersburger Außenstelle der deutschen Dresdener Bank aufstieg. Die Deutsche Bankzentrale beschwor zwar, von Warnigs Vergangenheit nichts gewusst zu haben, merkwürdig bleibt dieser Karriere dennoch.[7] Offenbar kooperierten Putin und Warnig gemeinsam zum Vorteil ihrer Arbeitgeber, aber wohl auch nicht uneigennützig. Putin hatte im damaligen wilden Russland eine einmalige Stellung. Er konnte westlichen Finanziers und Wirtschaftsleuten die Erlaubnis geben, Geschäfte zu tätigen und sie dabei von lästigen Auflagen aller Art befreien.[8] Derartige Türöffnerfunktionen sind geradezu strukturell das Einfallstor für Korruption. Do ut des. Kommunistische Geheimdienstler waren im Verkehr mit dem Klassenfeind sogar darauf trainiert, Firmengeflechte zu konstruieren, die es ihnen ermöglichten, im Ostwesthandel heimlich Provisionen abzuzweigen, die es dem Geheimdienst ermöglichten, mit schwarzen Kassen eigene Operationen zu finanzieren oder im Auftrag der Partei z.B. kommunistische Partner im Ausland finanziell zu fördern. All das wurde in Deutschland nach der Vereinigung jahrelang in Untersuchungsausschüssen des Bundestages an Hand von Akten und Zeugen ausgebreitet.[9] Es wundert daher schon, wie naiv deutsche Wirtschaftsleute in Russland agierten. Oder wie „naiv“ die mecklenburgische Landesregierung in den vergangenen Jahren eine deutsch-russische Stiftung mit dem Stasi-Mann Warnig im Hintergrund gründete, ohne argwöhnisch zu werden.[10]

 

Laut der Recherchen von Correktiv und The Wall Street Journal damals gelangte Putin seinerzeit zu erheblichem Reichtum, während die Dresdener Bank unter Warnig zu einem der führenden Finanziers von Petersburger Geschäften wurde. Die Dresdener Bank war dann Putin mehrfach auf ungewöhnliche Weise zu Diensten, sei es bei eine Operation seiner damaligen Gattin in Deutschland, sei es bei Auslandsurlauben des Ehepaars.[11] Bei derartig werthaltigen Vergünstigungen von Wirtschaftsleuten gegenüber Politikern ist in Deutschland schnell der Staatsanwalt wegen des Verdachtes der Vorteilsgewährung oder gar Bestechung auf dem Plan. Im Russland von damals schien das der Dresdener Bank wohl zur russischen Landschaftspflege zu passen. Putins Wirtschaftsaktivitäten im Auftrag der Stadt waren eine zeitlang jedenfalls derart erfolgreich, dass Petersburg überall im Westen als Eldorado galt. Die besondere Nachsicht des ehemaligen Hamburger Oberbürgermeisters von Dohnany, mag sich auch aus der Erfahrung dieser Zeit speisen.[12]

 

In dieser Phase gelangten mehrere Petersburger KGBisten in die Petersburger Stadtverwaltung, die Putin vermutlich schon vorher kannte und die bald Teil seines „Clan“ wurden.[13] Einer war Victor Cherkessov, der zuvor wohl beim Petersburger KGB Oppositionelle verfolgt haben soll. Putin machte ihn später zum Chef der Antidrogenbehörde, einer Verfolgungsbehörde mit weitreichenden Möglichkeiten. Cherkessov ließ schließlich den Yukos-Chef Michail Chordorkowski verhaften, was den Weg frei machte für den Petro-Staatskapitalismus Putins und einen seiner weiteren KGB-Vertrauten an die Spitze von Yukos hievte.

Die Menschenrechtsorganisation Memorial Petersburg zählte damals befremdet acht ehemalige Petersburger KGBisten in verantwortlichen Stellen der Stadtverwaltung.[14] Ehemalige Dresdner KGB-Kollegen meinen, dass Putin selbst weiterhin für den Geheimdienst arbeitete. Noch 1993 bekamen sie verschlüsselte Radiobotschaften unter seinem Namen.

 

Zusammen mit den Dresdenern war damit endgültig das Fundament für die später sogenannten „Silowiki“ gelegt, also jener Seilschaft, die heute Russland beherrscht. Die meisten Mitglieder im heutigen russischen Sicherheitsrat stammen aus Petersburg oder absolvierten dort einen Teil ihrer Ausbildung bzw. ihres Berufslebens. Ebenso hatten die meisten zumindest Berührung mit dem KGB, wenn sie nicht ohnehin aus dessen Reihen stammten. Die meisten gehören auch zu der gleichen Alterskohorte. Sie sind nach dem zweiten Weltkrieg geboren, haben also keine Kriegserfahrung, sind in den verhältnismäßig angenehmen Chrustschow-Jahren relativ behütet aufgewachsen. Zum Anfang ihrer Karriere konnten sie sehen, wie eine militärisch starke Sowjetunion zwar gefürchtet, aber auch respektiert wurde. Als Elite u.a. in der Staatssicherheitsbehörde waren ihre Karriereerwartungen mit der Entwicklung und Sicherung des kommunistischen Staates eng verbunden. Geradezu traumatisch musste es auf sie wirken, als das Imperium unter Gorbatschow zusammenbrach, während Jelzins Anarchie die Machtapparate zerfielen und sich Einzelne immens bereicherten, ohne dass dies zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung führte, wie westlich inspirierte Apostel und Jelzin-Berater damals behauptet hatten.

 

Für Putin kam noch das Trauma von Dresden 1989 hinzu. Dresden war die ostdeutsche Stadt, in der -entgegen dem Etikett von der „friedlichen Revolution“- am meisten Gewalt vom Volk ausging. Bekannt sind die Prügeleien mit der Polizei am Bahnhof vom 4. Dezember. Weniger bekannt ist, dass es auch Auseinandersetzungen am 5. Dezember im Zusammenhang mit der Besetzung der Dresdener Stasizentrale gab. Aufgebrachte Bürger drangen in das Stasi-Wohngebiet nahe der Bautzener Straße ein und drohten, Einzelne zu lynchen, bis die Stasi Pfarrer und Bürgerrechtler zu Hilfe rief, um den Konflikt zu entschärften.[15] Putins damalige Dienststelle war nur Meter weit vom Ort dieses Geschehens entfernt. Es ist naheliegend, dass sich die Erfahrung, wie riskant es ist, die Zügel im Staate locker zu lassen, tief in Putins Gedächtnis einbrannte. Seine harsch-autoritären Reaktionen auf die Demonstrationen der russischen Oppositionellen Boris Nemzov und Alexej Nawalny wirken in diesem Lichte wie die autoritär-terroristische Antwort des Potentaten auf seine Dresdener Erfahrung.

 

Oligarchie der Reichen oder heimliche Machtübernahme des KGB?

 

Der Westen scheint mehrfach angenommen zu haben, dass Russland von den Reichen regiert wird. In der Tat haben in den 1990er Jahren fünf Oligarchen durch eine Absprache und Wahlkampfförderung die fast aussichtslos erscheinende Wiederwahl des ihnen genehmen schwachen und angeschlagenen Boris Jelzin bewirkt. Das war kurz bevor Putin in Moskau Karriere machte. Es kann einem geschulten Marxisten-Leninisten wie Putin nicht gefallen haben, dass hier Businessleute die Politik steuerten und nicht umgekehrt. Das war nach der reinen Lehre ein Übel des Imperialismus, während es im (sowjetischen) Russland umgekehrt sein sollte. Putin ging denn auch bald daran, als FSB-Chef, als Ministerpräsident und dann als Präsident, die alten Machtapparate wieder zu stärken. Der KGB war unter Gorbatschow und Jelzin kaum reformiert worden, selbst nach der Beteiligung am Putschversuch von 1991 nicht.[16] Ein schwerer Fehler wie sich heute herausstellt. Der in FSB umbenannte Inlandsgeheimdienst erfuhr also im Wesentlichen nur eine Delle, bis er von Putin mithilfe seiner Buddies wieder aufgepäppelt wurde. Den Oligarchen wurde bald die rote Linie gezeigt. Nur wenn sie sich aus der Politik heraushielten, könnten sie weiter so viel Geld verdienen. Die Folge war die Affaire Chodorkowski. Dieser war nicht nur deswegen ein willkommenes Opfer, weil er sich als politische Alternative zu Putin profilieren wollte. Die Enteignung des Ölmagnaten schuf auch die Voraussetzung für jenen Staatskapitalismus im Energiegeschäft, der dem Staat die notwendigen finanziellen Ressourcen zufließen ließ und gleichzeitig westliche Partner in Abhängigkeit bringen sollte. Nicht zufällig stehen an der Spitze der wichtigsten Energiekonzerne Russlands alte Vertraute von Putin wie Alex Miller (Gasprom) und Matthias Warnig (Nordstream). Altkanzler Gerhardt Schröder wirkte in diesem Geflecht wie der Frühstücksdirektor für den Westen.

 

Korruption

 

Beinahe wäre Putins Karriere an seinem Gebaren, seine jeweilige Machtposition mit wirtschaftlichen Vorteilen für sich und seine Gefolgschaft zu paaren, endgültig gescheitert. In Petersburg entgingen er und sein Bürgermeister Sobtschak nur knapp einer Amtsenthebung wegen Korruption. Sobtschak verpasste die Wiederwahl, Putin musste eine Auszeit von der Politik nehmen.[17] Manche behaupten, Putin habe sich in dieser Zeit nur leicht bekleidet mit einem Geldkoffer in der Hand durch einen Sprung aus dem Fenster seiner Datscha vor dem Zugriff der Fahnder retten können. Falls nicht wahr, so zumindest gut erfunden, um Putins Zähigkeit zu charakterisieren. Ein Agent gibt nie auf. Dieser Tage bekommt die Welt und v.a. die Ukraine eine Lektion zu diesem Thema.

 

Offenbar durch ein System von gegenseitiger Patronage gelang es Putin abermals die Karrieredelle zu überwinden. Ehemalige Sobtschak-Leute holten ihn nach Moskau in die Präsidialverwaltung, ausgerechnet in die Vermögenverwaltungsabteilung. Mit der dahinschwindenden Macht Jelzin stieg Putin auf. Im Julio 1998 wurde er FSB Chef. Dies erlaubte ihm alte Vertraute aus alten Tagen, wie Cherkessov, in höhere Positionen zu hieven. Im August 1999 wurde dann Putin er zum Ministerpräsidenten ernannt, im Dezember überraschte Jelzin die Welt mit der Eröffnung, dass Putin sein Nachfolger werden sollte. Nach den chaotischen Jahren sollte Putin sich zur Aufgabe machen, die staatliche Autorität wiederherzustellen. Oder war es in Wirklichkeit ein lautloser Putsch des KGB, der sich damals im Kreml vollzog?

 

Dass Putin vor dem Gipfel der Macht nicht vorsichtiger wurde, sondern im Gegenteil, dieses System Macht und wirtschaftlichen Nutzen geschickte zu paaren, weiterhin zu seinem Erfolgsmodell machte, zeigt eine Episode aus den Anfängen seiner Moskauer Zeit. Damals spann Putin ein KGBistisch anmutendes Intrigenspiel, um Jelzins korrupte Familie und damit sich zu retten. So jedenfalls recherchierte es vor einigen Jahren Correktiv.[18] Über den russischen Generalstaatsanwalt, Juri Skuratow, der gegen Korruption im Umfeld des Jelzin-Clans ermitteln wollte, wurde ein Sexvideo verbreitet. Der Ermittler stürzte, bevor sich die Sache als Fake erwies. Die Strategie, mit Sexerpressungsmaterial zu operieren, erinnert manchen stark an die KGB-Praxis aus Putins Zeiten in Dresden.[19] In Moskau wurden 1999 als Nachfolger des gestürzten Generalstaatsanwaltes zwei Staatsanwälte ernannt, die offenbar zuvor fest in das Netzwerk eingebunden waren. Durch im Einzelnen schwer nachzuvollziehende Transaktionen, die auch teilweise durch Unternehmen in Deutschland mitorganisiert wurden, konnten -wie nach altem KGBistischen Muster- Bestechungs-Gelder von einem Staatsauftrag für Bürocomputer an Hewlett-Packard abgezweigt werden.[20] Allem Anschein nach, so stand es damals rechtlich unangefochten in Correktiv, konnte die neue Leitung der Generalstaatsanwaltschaft davon profitieren.[21] Der Personalwechsel an der Spitze hatte auf jeden Fall genehme Folgen: Mehrere Ermittlungsverfahren gegen den Jelzin-Clan wurden eingestellt, von dessen weiterer Existenz auch Putins weitere Karriere abhing.

 

Silowiki

 

Putin hat das Geflecht der Silowiki immer weiterentwickelt, mit deren Hilfe mehrere Machtorgane, alte wie neu geschaffene, über Staat und Gesellschaft thronen, wie einst im Sowjetkommunismus. Nur mit dem Unterschied, dass nun die Partei als Befehlsgeber nicht mehr existiert. Die Partei ist jetzt Putin, umgeben von einer Gefolgschaft, die ohne ihn weder zu Macht noch zu Geld gekommen wäre. Es sind Lakaien, Wachs in Putins Händen, wie zu Kriegsbeginn zu sehen war.[22]

Die rein wirtschaftlichen Oligarchen, sofern nicht eng mit dem Staatskapitalismus verbunden, sind machtpolitisch inzwischen eher abgeschlagen. Der Versuch des Westens, sie oder die Entourage von Putin durch personengebundene Sanktionen zum Putsch gegen den Führer zu motivieren, mutet daher eher naiv an. Zumal offenbar vergessen worden ist, dass es Putin und den Seinen keineswegs (nur) um Geld geht. Putin strebt offenkundig die Wiederaufrichtung der alten Macht an, unter der er und seinesgleichen groß geworden sind. Seine Entourage ist mit Putin und seinem Staat auch persönlich verbunden, da er ihnen persönliche Vorteile und die persönliche Sicherheit garantiert. Es ist eine rückwärts gewandte „Utopie“, die ihren Neo-Imperialismus leitet. Dass Staaten zum gegenseitigen Vorteil nebeneinander existieren können, kommt in ihrer Logik nicht vor. Anders als die jüngere besser und weltläufig ausgebildete Führungsschicht der Ukraine, kennen sie nichts Anderes, als das, was sei früher gelernt und erfahren haben. Dieses Spiel von gestern dürften sie a la Longue verlieren. Das macht sie jedoch kurz- und mittelfristig nicht minder gefährlich. Eher im Gegenteil. Ihr eindimensionales, skrupelloses und kompromissunfähiges Denken wird uns noch länger beschäftigen, und die Ukrainer viel Blut, Schweiß und Tränen kosten.

 

 


[1] Christian Neef: So wurde Putin, wie er ist. Der Spiegel. 02.03.2022

[2] Crawford, David; Bensmann, Marcus: Putins frühe Jahre. Correktiv 2015

[3] Gloger, Katja: Das neue Russland, die Ukraine und der Westen.

[4] www.ardmediathek.de/video/fakt/der-tschekist-aus-dresden-putin-und-seine-seilschaften/das-erste/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy80NjkxZjhkNC03NzUzLTRiMDktYTFmMS0zN2VmMGQxMWI3MzM/

[5] Chazan, Guy, Crawford, David:  Tale of Two Spies Shows How Putin's KGB Past Has Left Mark on Russia --- Ex-German Agent Now With Dresdner Makes Big Score as a Top Deal Maker --- Pivotal Players in the Halls of Power. The Wall Street Journal Europe. 23 February 2005

[6] Crawford, David; Bensmann, Marcus: Putins frühe Jahre. Correktiv 2015

[7] Chazan, Guy, Crawford, David:  Tale of Two Spies Shows How Putin's KGB Past Has Left Mark on Russia --- Ex-German Agent Now With Dresdner Makes Big Score as a Top Deal Maker --- Pivotal Players in the Halls of Power. The Wall Street Journal Europe. 23 February 2005

[8] Ein Beispiel: Crawford, David; Bensmann, Marcus: Putins frühe Jahre. Correktiv 2015

[9] Der sog. Koko-Untersuchungsausschuss deckte zahlreiche derartige GmbHs auf, die durch Provisionsgeschäfte Geld für die SED und das MfS erwirtschaften, die zur Finanzierung von politischen und geheimdienstlichen Angelegenheiten außerhalb des Staatshaushaltes dienten.

[10] https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Klimastiftung-MV-hat-165-Millionen-Euro-fuer-Nord-Stream-2-ausgegeben,klimastiftungmv126.html (Zugriff 12.6.2022)

[11] Crawford, David; Bensmann, Marcus: Putins frühe Jahre. Correktiv 2015

[12] von Dohnanyi, Klaus: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler UmbrücheSiedler Verlag, München 2022

[13] Cullison, Alan, Crawford, David: The Leningrad Enigma: In Putin's Past, Glimpses Of Russia's Hardline Future. The Wall Street Journal. 21 December 2007

[14] Booß, Christian: Reportage aus Petersburg, SFB, 1992

[15] https://stasibesetzung.de/dresden/default-title (Zugriff 12.6.2022)

[16] Chmelnitzki, Dimitrij: KGB-FSB-System. In: h-und-g.info/default-title-2/default-title, 2022 (Zugriff 12.6.2022)

[17] Cullison, Alan, Crawford, David: The Leningrad Enigma: In Putin's Past, Glimpses Of Russia's Hardline Future. The Wall Street Journal. 21 December 2007

[18] Crawford, David; Bensmann, Marcus: Sex.Schmiergeld, Staatszerfall. Correktiv

[19]  Laut Zeugenaussagen sollen Putins Mitarbeiter damals geplant haben einen Wissenschaftler mit Pornobildern zu erpressen. Crawford, David; Bensmann, Marcus: Putins frühe Jahre. Correktiv 2015

[20] Crawford, David; Bensmann, Marcus: Sex.Schmiergeld, Staatszerfall. Correktiv

[21] Crawford, David; Bensmann, Marcus: Sex,Schmiergeld, Staatszerfall. Correktiv

[22] Rede Putins am 21. 2. als er seinen FSB-Chef demütigte. Text in H-und-G.info