Fallbeispiel

Zerstörung einer Familie. Fall einer DDR-Bürgerin, die zu ihrem Verlobten ausreisen wollte

Kombination von Zersetzungsmaßnahmen am Beispiel des Vorgangs „Verlobung“

von Sandra Pingel-Schliemann, 2021

Im Rahmen seiner Zersetzungspläne operierte der Staatssicherheitsdienst nicht mit einer einzigen Maßnahme. Im Gegenteil: Es war die genau kalkulierte Mischung repressiver Methoden, die für die Betroffenen in einem Psychokrieg mündete. „Gerade in der Kombination von Bildungsverweigerung, Berufsverbot, Schikanen gegen die Familie, Reisesperre und Druck auf Ausreise bestand eine der wirksamsten Repressionsstrategien unterhalb der Ebene von Verhaftung und juristischer Verurteilung.“[1]

Im folgenden soll an einem konkreten Beispiel die destruktive Wirkung kombinierter Zersetzungsmaßnahmen deutlich gemacht werden.

Bis zu Beginn der siebziger Jahre verlief das Leben von Karin S. wie das der meisten Menschen in der DDR. Sie ging ihrer Arbeit nach, erzog als allein erziehende Mutter ihr Kind, fuhr gelegentlich in den Urlaub, und sie passte sich den politischen Gegebenheiten an. Im Jahr 1973 brach sie jedoch aus diesen geordneten Bahnen aus: der Liebe wegen. Während eines Urlaubs im Sommer jenes Jahres in der ČSSR lernte sie einen westdeutschen Mann kennen und wollte mit ihm eine neue Zukunft beginnen. In der ČSSR verlobten sich beide. Kurz nach ihrer Heimkehr aus der ČSSR stellte sie für sich und ihren damals 11jährigen Sohn einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik, weil sie den Mann heiraten wollte. Dass sie mit diesem Schritt einen Verfolgungsmechanismus sondergleichen durch den Staatssicherheitsdienst auslöste, der das Leben einer ganzen Familie zerstören würde, war weder für sie noch für ihre Angehörigen damals zu erahnen gewesen.

Die Abteilung XVIII des MfS in Neubrandenburg, die die Federführung für die Sicherung der volkswirtschaftlichen Bereiche und Einrichtungen hatte, legte im August 1973 eine personenbezogene Akte gegen die damals 36jährige Frau unter dem Decknamen „Verlobung“ an, weil der Verdacht bestand, dass sie wegen der Beziehungen zu dem westdeutschen Mann die DDR illegal verlassen würde.

Die federführenden Offiziere des Vorgangs „Verlobung“ Hauptmann Schiffner und Oberleutnant Rossow von der Abteilung XVIII des MfS in Neubrandenburg schlossen den Vorgang erst im Jahr 1978, so dass dieser nach fünf Jahren intensiver Verfolgung gegen die Frau auf ein Aktenvolumen von sieben Bänden mit ca. 1850 Blatt anwuchs.

Karin S. wurde zunächst zu einer „gläsernen Person“ für den Staatssicherheitsdienst: ihr alltägliches Leben wurde rund um die Uhr kontrolliert. Die Maßnahmen der Postkontrolle, Wohnungsdurchsuchungen, die Installierung einer Wanze in der Wohnung, das Abhören des Telefons bei den Nachbarn, bei denen Karin S. mit ihrem Verlobten telefonierte, die Überprüfung ihrer Konten und der Einsatz der besten Freundin als IM (Deckname „Elfriede Dingo“) machten es für den Staatssicherheitsdienst möglich, über nahezu jeden Schritt von Frau S. informiert zu sein.[2]

Seit dem Frühjahr 1974 setzten die Stasi-Offiziere der Abteilung XVIII zudem alles daran, das Liebesverhältnis zwischen dem westdeutschen Bürger und Frau S. zu zerstören. So wurde ihr im Auftrag des MfS der Personalausweis für ein Jahr entzogen. Ersatzweise erhielt Karin S. einen so genannten PM 12, der ihr entsprechend seiner Auflagen nur Bewegungsfreiheit auf dem Gebiet der DDR ermöglichte. Darauf, so wurde in einen Bericht der Polizei für das MfS anschließend festgehalten, habe die Frau schockiert reagiert: „Sie teilte mit, daß sie bei uns keinerlei Rechte hat. Am besten wäre es, sie würde sich das Leben nehmen.“[3] Wenige Tage nach diesem massiven Eingriff in ihre Freiheitsrechte belegte der Staatssicherheitsdienst ihren Verlobten mit einer Einreisesperre bis in das Jahr 1990 hinein.[4] Gleichzeitig ordnete die Abteilung XVIII des MfS in Neubrandenburg an, dass keiner der beiden mehr Briefe voneinander erhalten sollte. Oder anders gesagt: Die Postkontrolle, die Abteilung M des MfS, wurde beauftragt, jegliche Briefe beider aus dem Postverkehr verschwinden zu lassen.[5] Die Kommunikation zwischen dem Paar wurde damit nahezu völlig unterbunden. Hinzu kamen weitere Maßnahmen: So erhielt die Schwester von Karin S. anonyme Briefe, die suggerierten, dass der Verlobte in Düsseldorf eine Geliebte habe. Karin S. selbst wurde durch anonyme Telefonanrufe auf ihrer Arbeitsstelle mit den Worten „Guten Tag Karin, Küsschen“ belästigt.[6]

Die rigorose Abschottung des Paares, die Belästigungen und die Gerüchte waren effiziente Strategien des Staatssicherheitsdienstes gegen Karin S., die sie psychisch stark belasteten, wie in den geheimpolizeilichen Sachstandsberichten festgehalten wurde. Weil die Frau aber weiter an ihrem Ausreisewunsch festhielt, kam ab 1975 eine neue Strategie zum Einsatz, in die die IM „Elfriede Dingo“ des MfS in Neubrandenburg involviert wurde. Die Strategie war, die Beziehung zwischen Mutter und Sohn negativ zu beeinflussen, um ein Verbleiben der Familie in der DDR zu erreichen.

Der Wunsch von Karin S. war es, gemeinsam mit ihrem Sohn die DDR zu verlassen und zu ihrem Partner nach Düsseldorf zu ziehen. Ein Weggehen ohne den Sohn kam für sie nicht in Frage. Als die Frau im September 1973 ihren ersten Ausreiseantrag stellte, bezog sie ihren Sohn mit ein, ebenso bei ihren wiederholten Anträgen im Oktober 1974 und Oktober 1975.

Einen ersten tiefen Einschnitt organisierte das MfS im Oktober 1975. Karin S. wurde in jenem Monat gemeinsam mit ihrem Sohn zu einem Gespräch bei der Abteilung Inneres des Rates der Stadt Neubrandenburg geladen. Dort wurde ihr im Beisein des Sohnes eröffnet, dass ihr Antrag auf Übersiedlung „überdacht“ werde, aber ihr Sohn auf keinen Fall ausreisen dürfe.[7] Ein Schock für das minderjährige Kind, das das Gefühl eines möglichen Alleingelassen-Werdens vermittelt bekam.

Karin S. reiste kurz nach diesem Gespräch zu ihrem Anwalt nach Berlin und teilte ihm mit, dass man ihr gesagt habe, dass sie nicht gemeinsam mit ihrem Sohn die DDR verlassen dürfe. Da der Berliner Anwalt bei der Auslandsaufklärung des MfS, der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des MfS registriert war, kam es nach dem Besuch von Frau S. in Berlin zu einem Telefongespräch zwischen Oberleutnant Rossow von der Abteilung XVIII und dem Offizier der HV A Grobe. Rossow notierte als Ergebnis dieses Gespräches: „Mit der Variante, weiterhin Zwietracht zwischen Mutter und Sohn zu schüren, war der Genosse Grobe einverstanden.“[8]

Eine Schlüsselfigur bei diesem Vorgehen nahm vor allem die IM „Elfriede Dingo“ ein. Die IM war die engste Freundin von Karin S. und auch eine Vertraute des Sohnes. So hütete sie den Sohn, wenn die Mutter länger arbeitete, gestaltete mit ihm die Freizeit und erledigte mit ihm die Hausaufgaben. Sie hatte durch ihren engen Kontakt zu dem Sohn entsprechende Einflussmöglichkeiten, die sie perfide nutzte. Oder anders gesagt: „Elfriede Dingo“ unterstützte die Staatssicherheit bei ihrem Zersetzungsplan gegen Karin S. mit einer derartigen Energie, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch persönliche Interessen bei der Frau eine Rolle spielten. In einem Gespräch mit dem MfS am 5. März 1976 teilte sie mit, dass sie Torsten zu sich nehmen möchte.[9] Gleichfalls im März 1976 führte die IM „Elfriede Dingo“ ein Gespräch mit dem Vater von Torsten und gab ihm zu verstehen, dass er im Interesse des Sohnes ihr die Erziehung übertragen solle, da sie großes Vertrauen bei seinem Sohn genieße. Weiterhin hieß in der Notiz, die sie nach dem Gespräch für das MfS fertigte:  „Ich bat Genossen [Vater von Torsten, Name von BStU geschw.] gleichzeitig, daß bei einer Übertragung des Erziehungsrechtes für Torsten auf mich festgelegt wird, daß die Verwandten der S. keinerlei Einfluß auf die Erziehung des Jungen ausüben dürfen. Denn es muß damit gerechnet werden, daß diese es im Sinne und Interesse der Mutter und nicht unseres Staates tun würden.“

Der Vater habe sich einverstanden gezeigt und werde sie bei ihrem Anliegen unterstützen, wie sie abschließend für den Staatssicherheitsdienst festhielt. [10]

Vorbei an der Mutter führte die IM „Elfriede Dingo“ auch ein Gespräch mit der Pionierleiterin in Torstens Schule.  So bat sie diese bei einem persönlichen Besuch im März 1976 darum, die bei Torsten bereits erkennbare Einstellung, „daß seine Perspektive in der DDR liegt, weiter zu festigen.“ So solle die Pionierleiterin Torsten unter anderem „eine Teilnahme an einer überbezirklichen Veranstaltung der Pioniere […] ermöglichen.“[11]

Das Engagement der IM, das in Rücksprache mit dem MfS gehalten wurde, zeigt auf, dass es dem Staatssicherheitsdienst darum ging, den Sohn von der Mutter zu entfremden. Er sollte durch verschiedene Maßnahme so beeinflusst werden, dass er das Handeln seiner Mutter nicht mehr akzeptiert und zudem das Gefühl bekommt, von ihr im Stich gelassen zu werden.

Der Junge wollte ursprünglich gemeinsam mit seiner Mutter zu ihrem Düsseldorfer Freund ziehen, den auch er kennen gelernt hatte und mochte, wie Berichten zu entnehmen war. Doch er zog sich vor allem seit 1976 immer mehr von seiner Mutter zurück, produzierte handfeste Konflikte mit ihr und verschlechterte sich in der Schule. Karin S. schilderte die familiäre Situation damals in einem Brief: „Wenn der Riß nun so groß geworden ist, trage ich nicht die alleinige Schuld daran, sondern zum großen Teil diese Frau [„Elfriede Dingo“], die es sich zur Aufgabe gemacht hat, durch Intrigen, Lügen, Versprechungen und Verleumdungen […] mir meinen Sohn mit allen Mitteln zu entreißen. Denn es erscheint sehr zweifelhaft, daß sich ein Kind binnen eines halben Jahres so ins Negative verändern kann.“[12]

Was die umgesetzten Maßnahmen für einen Schaden auf der Kinderseele hinterlassen haben, wird aus einem Bericht der IM „Elfriede Dingo“ deutlich: „Während der Woche, in der seine Mutti in Leipzig war, wohnte er bei mir. Dort brachte er auch zum Ausdruck, daß ihm die Ungewißheit, was aus ihm wird, doch viele Probleme bereitet, daß er in der Schule abgelenkt wird und sich dadurch auch die Leistungen verschlechtern.“ [13]

Die Konflikte zwischen Mutter und Sohn eskalierten immer häufiger, vor allem im Jahr 1976 bestimmten sie den Familienalltag. Torsten ignorierte seine Mutter, stritt sich nur noch mit ihr und wohnte immer häufiger – gegen den Willen seiner Mutter - bei ihrer einst besten Freundin „Elfriede Dingo“. Dieser war es in der Zwischenzeit immer mehr gelungen, den Jungen auf ihre Seite zu ziehen. Sie schaffte es sogar, dass der Sohn ihr die Post seiner Mutter übergab. Die IM leitete die Briefe anschließend an das MfS weiter.[14] 

Karin S. war in dieser Zeit völlig verzweifelt, das spiegelt sich in den Sachstandsberichten des Staatssicherheitsdienstes wider. Es waren nicht nur die Konflikte mit dem Sohn, die sie belasteten und die sie nicht auflösen konnte, sondern auch das unterbrochene Verhältnis zu ihrem Verlobten, das der Staatssicherheitsdienst durch die Ein- und Ausreisesperren und das Abfangen von Briefen rigoros unterbunden hatte. Ihr Leben geriet seinerzeit völlig aus den Fugen.

Am 21. März 1977, so war einer ergänzenden Information der Abteilung XVIII zu entnehmen, wurde im Ergebnis einer Gerichtsverhandlung Frau S. das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen. Der Vater, ein überzeugter Kommunist, der nicht wollte, dass sein Sohn bei einer „Landesverräterin“  aufwächst, bekam es zugesprochen. Der Sohn lebte jedoch anschließend bei der IM „Elfriede Dingo“.[15] Am 25. Oktober 1977 hielten die Stasi-Offiziere schriftlich zu Karin S. fest: „Es gibt Hinweise, dass bei einer weiteren Ablehnung ihrer Übersiedlung ein Selbstmord nicht ausgeschlossen ist“ und entschieden, der Ausreise stattzugeben.[16] Im November 1977 wurde Karin S. mitgeteilt, dass sie ausreisen dürfe. Kurz vor Weihnachten 1977 verließ Karin S. die DDR. Im Jahr darauf heiratete sie ihren Verlobten.

Das Ministerium für Staatssicherheit leitete auch nach ihrem Weggang eine Reihe von Maßnahmen gegen die Frau ein. So wurden sie und ihr Mann mit einer Einreisesperre belegt und ihre Post an die Verwandten und umgekehrt wurde weiterhin kontrolliert.[17] Außerdem verweigerte das MfS einen Besuch von Schwester und Schwager in die Bundesrepublik anlässlich der Hochzeit von Karin S.. Am 4. Oktober 1978 schloss das MfS die Akte zu Karin S. und hielt fest: „Der in Neubrandenburg wohnende Sohn Torsten unterhält zu seiner Mutter keinerlei Verbindungen und distanziert sich von den von ihr durchgeführten Handlungen.“[18]

Die Zerstörung der Beziehung zwischen Mutter und Sohn war eine Zersetzungsstrategie, die im Fall von Karin S. und ihrem Sohn nachhaltig wirkte. Das Mutter-Sohn-Verhältnis ist bis heute vergiftet. Der Sohn weiß bis heute nicht, dass der Staatssicherheitsdienst mit Unterstützung der IM „Elfriede Dingo“ dieses perfide organisiert hat. Er selbst hat nur noch gelegentlich Kontakt zu seiner Mutter, dafür aber umso mehr zu „Elfriede Dingo“, die 1977 endgültig die Erziehung übernommen hatte und zu seiner „Ersatzmutter“ geworden ist. Karin S. selbst kann die Dimension des geheimpolizeilichen Eingriffs nicht mehr begreifen. Sie kehrte nach der politischen Wende in der DDR als kranke und gebrochene Frau in ihre Heimatstadt zurück. Sie war seitdem ein Pflegefall, psychisch krank und litt unter Wahnvorstellungen sowie Depressionen. Frau S. ist mittlerweile verstorben.

 


[1]     Wolfgang TEMPLIN u.a., Der Umgang des Staates mit oppositionellem und widerständigem Verhalten, in: Deutscher Bundestag (Hg.). Materialien der Enquete-Komission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. VII/2, Baden-Baden 1995, S. 1698.

[2]     Vgl. BStU, Ast. Nbg.(Außenstelle Neubrandenburg), MfS, AOP (Archivierter Operativer Vorgang) 944/76, Bd. 1, Bl. (Blattnummer) 152 ff.

[3]     Ebd., Bd. 1, Bl. 333.

[4]     Ebd., Bd. 2, Bl. 31.

[5]     Ebd., Bd. 2, Bl. 143.

[6]     BStU, Ast. Nbg., MfS, AOPK (Archivierte Operative Personenkontrolle) 1389/78, Bd. 1, Bl. 88 ff.

[7]     BStU, Ast. Nbg., MfS, AOP 944/76, Bd. 2, Bl. 179.

[8]     Ebd., Bd. 2, Bl. 244.

[9]     Ebd., Bd. 2, Bl. 247.

[10]   Ebd., Bd. 2., Bl. 253.

[11]   Ebd., Bd. 2, Bl. 255.

[12]   BStU, Ast. Nbg., MfS, AOPK 1389/78, Bd. 4, Bl. 113.

[13]   BStU, Ast. Nbg., MfS, AOP 944/76, Bd. 2, Bl. 206.

[14]   BStU, Ast. Nbg., MfS, AOPK 1389/78, Bd. 1, Bl. 83.

[15]   Ebd., Bd. 1, Bl. 169.

[16]   Ebd., Bd. 1, Bl. 226.

[17]   Ebd., Bd. 1, Bl. 276.

[18]   Ebd., Bd. 1, Bl. 277.