Unglaubliches kommt ans Tageslicht

Ein Zeitzeugenbericht

von Ulrike Poppe. November 20211

 

Foto: Ulrike Poppe bei den ersten Akteneinsichten im Januar 1992

An einem trüben Novemberabend des Jahres 1987, gegen 19:00 Uhr, verließ ich mit einer Brottüte den Bäckerladen in der Dimitroffstraße. Als ich gerade in die Rykestraße einschwenken wollte, schnellen Schrittes, da unsere Kinder auf das Abendbrot warteten, hörte ich eine Stimme hinter mir: „Frau Poppe, einen Moment!“ Ich erschrak. Stasi? Die Kinder sind allein, mein Mann ist unterwegs. Ich fing an zu rennen. „Frau Poppe, nun warten Sie doch mal. Ich will Ihnen nur was geben.“ - rief die Stimme wieder, aber nicht befehlend, sondern eher bittend. Der ungewöhnliche Sound ließ mich innehalten. „Ich bin zwar vom MfS, aber ich mache da nicht mehr mit.“ – flüsterte eine dunkle Gestalt mir ins Ohr, „Viel Glück!“- und er drückte mir ein dickes Paket von etwa DINA4 - Größe in die Hand. Starr vor Schreck blickte ich dem davon stürmenden kleinen Mann nach und begab mich mit immer noch zitternden Knien zu unserem Haus. Noch während des Abendbrotes riss ich die Tüte auf und fand einen grauen Schnellhefter darin mit allerlei Stempeln und Zeichen. Ich konnte es kaum glauben, tatsächlich hielt ich meine Stasi-Akte in den Händen. Ein offenbar abtrünniger Stasimann hat erkannt, dass WIR DIE GUTEN sind.

Was für ein naiver Traum! So etwas konnte es nie gegeben haben. Abtrünnig sind durchaus einige Stasileute geworden, aber nicht, um die Opposition zu unterstützen, sondern um sich in den Westen abzusetzen. Werner Stiller z.B., der 1979 in den Westen floh und 15 Stasi-Agenten in der Bundesrepublik hochgehen ließ. Oder Werner Teske, der vorhatte, mit geheimen Unterlagen in den Westen zu fliehen und dafür 1981 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ein Stasi-Hauptmann Wiesler, wie er in dem Film „Das Leben der Anderen“ dargestellt wurde, bleibt eine Fiktion.

Vor 30 Jahren wurden dann die Stasi-Akten wirklich geöffnet. Historisch erst- und weltweit in dieser Dimension einmalig. War es eine große Überraschung? Was wusste man in der DDR über die Staatssicherheit? Jeder, der in oppositionellen Gruppierungen in der DDR tätig war, oder sich auf irgendeine Weise kritisch zur SED-Politik geäußert hatte, konnte merken, dass die Staatssicherheit ihn überwachte. Oder zumindest konnte er oder sie es ahnen, weil in solchen Kreisen ein reger Erfahrungsaustausch über Stasiverfolgungen stattfand. So gab es z.B. undichte Stellen unter inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Eine Freundin erzählte, dass sie von einer anderen Freundin als Spitzel angeworben wurde. Ein Mitglied der Gruppe „Frauen für den Frieden“ wurde im Frühjahr 1989 enttarnt, weil sie ein Foto weitergegeben hatte, auf dessen Rückseite genau hinter den Köpfen der dort Abgebildeten ihr Name stand. Wer anderes sollte ein Interesse an der Identifizierung haben als die Staatssicherheit? Nachdem sie in ihrer Erklärungsnot absurde Geschichten erfunden hatte gab sie schließlich zu, mit der Stasi zusammengearbeitet zu haben. Welch ein Ausmaß diese Zusammenarbeit hatte, erfuhren wir allerdings erst durch die Aktenöffnung.

Auch bei mir hatte das MfS2 Anfang der 70er Jahre einen Anwerbungsversuch unternommen. Die Stasimänner gingen dabei nicht ungeschickt vor. Aber von meinen stasierfahrenen Freunden wusste ich, dass ich nichts glauben und nichts unterschreiben darf und dass ich mich als „Quelle“ unbrauchbar machen kann, indem ich allen um mich herum von diesem Anwerbeversuch erzähle. Als ich im Museum für Deutsche Geschichte arbeitete, hatten mir zwei meiner Kollegen von einem Anwerbeversuch berichtet, dem sie sich verweigert hatten. Ein anderer Kollege hatte sich mir am Vorabend der Aktenöffnung als IM offenbart und weitere Kollegen aus dem Museum habe ich dann als IM oder KP (Kontaktperson) in den Akten gefunden. Ein Einziger besuchte mich später zu Hause, um sich zu entschuldigen. Aber eigentlich hatte er sich für den Öffentlichen Dienst beworben und wollte wohl sicher gehen, dass ich ihn nicht verrate.

Die Observierungen fanden offen oder verdeckt statt. Wenn es darum ging, uns von bestimmten Vorhaben abzuhalten oder zu drohen, liefen die jungen Männer mit ihren Handgelenktäschchen ungeniert hinter uns her, manchmal in 2 Meter Abstand. Oder sie standen vor unserem Hauseingang. Oder sie saßen zu dritt im PKW, wo in kalter Jahreszeit immer wieder die Heizung angestellt werden musste. Den Bewohnern unseres Hauses und der angrenzenden Häuser blieb das nicht verborgen und sie redeten darüber. In unserem Haus in der Rykestraße im Prenzlauer Berg waren alle Mieter auf unserer Seite, und das war ein großes Glück. Die verdeckten Beschattungen gelangen immer weniger, weil wir mit der Zeit einen Blick für das Outfit und die typischen Verhaltensweisen der Stasileute entwickelt hatten. Wir kannten auch allerlei Tricks, die Verfolger aufzuspüren oder auch abzuhängen.

Dass Telefone abgehört wurden, davon gingen wir aus. Vereinzelt wurden auch Mikrophone in den Wohnungen gefunden, bei Robert Havemann, bei Rainer Eppelmann und auch bei uns. Unser Mikrophon war vom Trockenboden aus in unsere Wohnzimmerdecke gesteckt worden. Wir fanden es, weil unsere Nachbarin uns mitteilte, dass sie Männer mit Messgeräten auf dem Boden beobachtet hatte. In dem Garten eines Freundes, wo sich einige aus der Oppositionsszene zusammenfanden, entdeckten wir ein armlanges Richtmikrophon, das in einem Busch lag, der zu uns herüberreichte. Aus vielen Vernehmungen konnten wir eine Vorstellung davon bekommen, mit wie viel Aufmerksamkeit, Zeit- und Personalaufwand sich die Staatssicherheit unser annahm. Allerdings wusste niemand, - man konnte es nur ahnen, - wer wirklich alles mit der Staatssicherheit zusammenarbeitete, wem man vertrauen durfte, was von der Stasi gelenkt wurde, was ihr bekannt war und was nicht, welchen Einfluss sie auf die Leitungen von Schulen, Universitäten und Betrieben nahm und welche Ereignisse und biografische Entwicklungen auf Stasi-Maßnahmen zurückgehen.

Als seitens der Bürgerbewegungen am zentralen Runden Tisch (RT), der vom Dezember 1989 bis März 1990 tagte, die konsequente Auflösung der Staatssicherheit gefordert wurde, bekamen wir eine Fülle von anonymen Briefen. Viele davon enthielten Informationen über Mitglieder des RT, die Informanten der Stasi gewesen seien. In einigen Fällen bewahrheitete sich das später, so z.B. bei Ibrahim Böhme (Sozialdemokratische Partei - SDP)3 und Wolfgang Schnur (Demokratischer Aufbruch - DA)4. Die Atmosphäre in dieser Zeit war geprägt von vielfältigen Verdächtigungen, Beschuldigungen und Misstrauen. Allen war klar, dass nur durch eine Stasiaktenöffnung die Wahrheit gefunden und ein gesellschaftlicher Heilungsprozess gelingen kann. Die erste frei gewählte Volkskammer verabschiedete dann auch am 24. August 1990 ein Stasi-Akteneinsichtsrecht. Aber die Regierung der Bundesrepublik wandte sich strikt gegen eine Aktenöffnung und wollte den ganzen Archivbestand in Koblenz unter Verschluss bringen. Das würde zu „Mord und Totschlag“ und einer „Hexenjagt“ führen, lauteten die Argumente. Erst durch eine zweite Besetzung der Stasi-Zentrale Anfang September 1990 und massivem, öffentlichen Druck gelang es, dass eine Zusatzvereinbarung zum künftigen Umgang mit den Stasi-Akten in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde. Im Dezember 1991 verabschiedete der Deutsche Bundestag schließlich das Stasi-Unterlagen-Gesetz.

In den beiden Jahren 1990 und 1991 wurden bereits erste Kopien von Spitzelberichten durch Mitglieder der Bürgerkomitees an uns weitergeleitet. Dadurch kannten wir bereits einige IM. Zwischen Weihnachten und Neujahr rief ich einen früheren Kollegen aus dem Museum für Deutsche Geschichte an. Ich erzählte ihm, dass ich Anfang Januar in meine Stasi-Akte Einsicht nehmen darf und fragte ihn, ob er mir vielleicht vorher etwas sagen möchte. Wir trafen uns und er erklärte mir, dass er „nur Gutes“ über mich berichtet habe. Die Stasi habe sein berufliches Fortkommen von der Zusammenarbeit abhängig gemacht.

Dann kam der Januar 1992 und zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Opposition wurden uns unsere Stasi-Unterlagen vorgelegt. Die Berichte dieses Kollegen waren alles andere als gutartig. Sie waren in hohem Maße denunziatorisch, gegen mich, aber auch gegen Kollegen, die ihm in seinen Karriereambitionen im Wege sein konnten.

Dass es über alle, die dem SED-Staat kritisch gegenüberstanden umfangreiche Akten geben würde, konnte für niemanden eine Überraschung gewesen sein. Wir rechneten damit, dass sich in den Akten Observations- und Vernehmungsprotokolle, Spitzelberichte und Maßnahmepläne befinden. Aber dies alles in konkreten Ausführungen zu lesen, hat mich, - und ich denke auch viele andere, - doch einigermaßen erschüttert. Auf Teewagen wurden die Aktenkonvolute an unsere Tische gefahren. Der Aktenumfang war sehr viel größer als erwartet. Die Anzahl der IM-Berichte, die Ausführlichkeit, die Einzelheiten der Überwachungs- und Zersetzungsmaßnahmen, die Planungen strafrechtlicher Verfolgung übertrafen unsere Erwartungen um ein Vielfaches. Erst beim Durchblättern der Stasi-Aufzeichnungen erfuhr ich, welcher Art all die Eingriffe in unseren Lebensalltag tatsächlich waren. Manchmal hatte ich mich gefragt, ob ich mit den Vermutungen, dass die Stasi z.B. unser Haus per Video überwacht und sich in unserer Abwesenheit in unserer Wohnung schleicht, und dass auch mein Büro im Museum abgehört wird, nicht schon einem Verfolgungswahn anheimgefallen war. Aber alles hatte sich bestätigt, sogar die Bemühungen der Stasi, den Besuch unseres Sohnes auf der Musikschule zu verhindern. Als eine Freundin aus Mecklenburg berichtete, die Stasi sei während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung gewesen und hätte die Handtücher vertauscht, hatte auch ich Zweifel, ob sie sich das vielleicht nur einbildete. Eine andere erzählte, dass nur die bunte Bettwäsche in ihrem Schrank plötzlich fehlte, die weiße aber noch vorhanden war. Warum sollte die Stasi so etwas Sinnloses tun? Was man sich vernünftiger Weise kaum vorstellen kann, gehörte zu den sorgfältig ausgearbeiteten Zersetzungsplänen des MfS. Gerade mit völlig absurden und für uns damals nicht erklärbaren Aktionen konnten Betroffene verunsichert und, wenn sie davon erzählten, unglaubwürdig gemacht werden.

Nicht alles war aktenkundig. Zum einen waren ja bis dahin große Mengen aus dem Bestand vernichtet worden, auch noch während der Regierung de Maizière. Zum anderen gab es wohl auch Eigenmächtigkeiten der Stasi-Mitarbeiter, die nicht niedergeschrieben wurden. Aber die Aktenöffnung hat auch dazu geführt, dass es zwischen Betroffenen und IM oder Hauptamtlichen vereinzelt zu Gesprächen kam. Ich traf mich mehrere Male mit einem Offizier des MfS, der mir bestätigte, dass auch das wiederholte Durchstechen meiner Fahrradreifen und die Anordnung, unsere Familie nicht mit einer neuen Wohnung zu versorgen, zu den Stasi-Aktionen gehörte. Selbst unsere Vermutung, dass das von uns zeitweilig genutzte und später wieder entzogene Wochenendgrundstück einer Stasi-Familie übereignet worden war, bestätigte mein Stasi-Gesprächspartner. Sicher, das sind alles Kleinigkeiten, im Vergleich zu lebensbedrohlichen Repressionen, die es auch gab, aber sie offenbaren doch viel über eine Strategie, die in ihrer Gesamtheit und ihren zerstörerischen Auswirkungen nicht unterschätzt werden kann.

Aber die Aktenöffnung hat nicht nur für die von der Staatssicherheit Verfolgten zur Klärung biografischer Abläufe und Ereignisse beigetragen. Im Großen und Ganzen wird die Stasi-Überprüfungen der Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst das Vertrauen in die neuen demokratischen Verwaltungsstrukturen gestärkt haben, auch wenn es in Einzelfällen zu ungerechtfertigten Entlassungen gekommen sein mag. Inzwischen haben wir gelernt, die Tätigkeiten der Inoffiziellen Mitarbeiter differenziert zu bewerten. Es gibt IM-Berichte, die mit denunziatorischem Eifer verfasst wurden, und andere, in denen der Informant zu vermeiden versucht, Relevantes zu verraten.

Darüber hinaus können wir den Stasi-Unterlagen entnehmen, nicht nur wer andere verraten hat, sondern auch, wer Anwerbungen oder Erpressungen der Stasi widerstanden hat. In meinem Arbeits- und Wohnumfeld und in meinem Freundeskreis gab es viele solcher Menschen, die sich einer IM-Tätigkeit verweigert und damit ihre Sicherheit und ihr berufliches Fortkommen aufs Spiel gesetzt haben. Die Stasi-Unterlagen sind daher nicht nur ein Zeugnis von Repression und Verrat, sondern auch von Mut und Widerstand gegen Unrecht.

Anmerkungen:

1Ulrike Poppe gehört zu den bekanntesten Oppositionellen der DDR. Als Mitbegründerin des Netzwerkes "Frauen für den Frieden" war sie 1984 inhaftiert. Nach internationalen Protesten freigelassen war sie Mitglied der Initiative „Frieden und Menschenrechte“. Seit Dezmeber 1989 sass sie für „Demokratie Jetzt“ am Zentralen Runden Tisch der DDR. Von 2010 -2017 Beauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg.

2Ministerium für Staatssicherheit

3SDP = Sozialdemokratische Partei in der DDR, gegründet am 7. Oktober 1989 in Schwante bei Berlin. Wurde am 13. Januar 1990 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt und vereinigte sich am 26. Dezember 1990 mit der West-SPD.

4DA = Demokratischer Aufbruch, gegründet im Oktober 1989. Der DA trat am 5. Februar 1990 dem Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ mit der Deutschen Sozialen Union (DSU) und der CDU-Ost bei. Ihr Vorsitzender, Wolfgang Schnur, wurde kurz vor den Volkskammerwahlen als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) enttarnt.