„Ohne Russland geht es nicht“  Realitäten und Illusionen der deutschen Ostpolitik und Entspannungspolitik

von Wolfgang Templin

 „Ohne Russland geht es nicht“

 Realitäten und Illusionen der deutschen Ostpolitik und Entspannungspolitik

Die Frage nach dem Stellenwert und der Qualität einer auf Osteuropa gerichteten Politik der Bundesrepublik Deutschland löst immer wieder die heftigsten Kontroversen aus. In anderen westlichen Ländern, ob in Frankreich, Großbritannien oder den USA war sie ein Politikfeld neben anderen. In Deutschland bedeutete die bis 1989 anhaltende Situation der Teilung, dass die Politik gegenüber der Sowjetunion und den anderen Ländern Osteuropas immer die Frage nach der Zukunft Deutschlands selbst einschloss. Das galt durchgehend, welche Regierungskoalition in den Jahrzehnten der Bundesrepublik auch immer an der Macht war, welcher Grad an Abgrenzung, Konfrontation oder gewollter Entspannung auch immer wieder bestimmend wurde. In weiten Teilen der deutschen Sozialdemokratie wurden die frühen Weichenstellungen für die Westbindung der Bundesrepublik durch Konrad Adenauer und die CDU, bis weit in die fünfziger Jahre hinein abgelehnt und angegriffen. Die Einsicht und Erkenntnis des Gewichts dieser Entscheidungen, für die enge Verbindung mit dem freien Teil Europas setzte sich jedoch durch und führte spätestens mit dem Godesberger Programm zur Anerkennung der Realitäten.In den entscheidenden Sätzen dieses Grundsatzdokumentes werden Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie als positive Grundwerte der eigenen Partei beschrieben. Damit setzte sich die SPD als Reformpartei des Demokratischen Sozialismus in prinzipiellen Gegensatz zum Kommunismus und seiner praktizierten Variante im Ostteil Deutschlands.

Umgekehrt gaben die CDU und mit ihr verbündete politische Kräfte, ihre anfänglichen Vorbehalte gegen den Versuch einer vom sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt favorisierten Entspannungspolitik auf und fanden später zu eigenen Varianten davon.

Entspannungspolitik hatte aber, bereits in ihrer mit dem damaligen US-Präsidenten Richard Nixon einsetzenden US-Amerikanischen Version, immer zwei Gesichter. Sie konnte den historischen Realitäten der Blockkonfrontation Rechnung tragen und zugleich versuchen, die tödliche Bedrohung durch einen Atomkrieg zu verringern oder auszuschalten. Dies jedoch, ohne den grundsätzlichen Gegensatz zwischen westlichen Demokratien und den von der sowjetischen Diktatur beherrschten Satellitenstaaten des Ostblocks zu verkennen. Friedenssicherung und Schritte zur Abrüstung bedeutete dann nicht, die eigene Verteidigungsfähigkeit und die damit verbundene notwendige Abschreckung in Frage zu stellen.

Zahlreiche, vor allem deutsche und SPD-Anhänger der Entspannungspolitik, setzten jedoch auf die Möglichkeit einer dauerhaften friedlichen Koexistenz und sogar Konvergenz der Systeme. Sie missachteten die Erfahrungen blutig unterdrückter Aufstände im Ostblock und des eisernen imperialen Beharrungswillens der Sowjetunion. Ein imperialer Anspruch, der immer den Anspruch einer künftigen kommunistischen Weltherrschaft einschloss.

Die Kluft zwischen Realismus und Illusionen durchzog alle Phasen des sogenannten Helsinkiprozesses, der mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einsetzte, die im Jahre 1973 im finnischen Helsinki begann. Es gab zahlreiche Folgekonferenzen, die sich bis über das Epochenjahr von 1989 hinaus erstreckten.

Die Höhepunkte blamabler Illusionen und ausgesprochen würdeloser Manöver, wurden in der sogenannten zweiten Phase der deutschen Entspannungspolitik erreicht, die eng mit den Namen von Egon Bahr und Helmut Schmidt verbunden ist, der Willy Brandt im Jahr 1974 ablöste und bis 1982 die Regierung der Bundesrepublik leitete. Im August 1980 läutete die Entstehung der politischen Massenbewegung Solidarność in Polen die letzte Dekade der bisherigen Nachkriegsordnung ein. Anstatt in der Wirkung dieser Ereignisse, die auf den gesamten Ostblock ausstrahlten, ein Zeichen der Zeit zu sehen und die polnischen Oppositionellen, die Akteure der Charta 77 in der CSSR, die Oppositionellen in den anderen Ländern des Ostblocks und in der Sowjetunion zu unterstützen, wurden sie im Gegenteil als Risiko und Gefährdung der Entspannungspolitik eingestuft und gemieden. Vor allem Egon Bahr, der sich als der eigentliche Architekt der Ostpolitik sah, stufte die Wirkung der politischen Massenbewegung als Risiko für den notwendigen Ausgleich mit den östlichen Machthabern ein. Er gestand faktisch der Sowjetunion das Recht zu, in ihrem Einflussbereich zu intervenieren und verteidigte die im Dezember 1981 erfolgte Verhängung des Kriegsrechts in Polen und die Maßnahmen Junta um General Jaruzelski als notwendig.

Helmut Schmidt, der sich als Realist nur wenig Illusionen über das Ausmaß und den Charakter der sowjetischen Aufrüstung machte, setzte gegen den erbitterten Widerstand großer Teile der eigenen Partei und der deutschen Friedensbewegung die Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses durch. Seine Distanz zu den Akteuren, die später die friedliche Revolution einläuteten, war jedoch so groß, dass er ihnen gegenüber mit völligem Unverstand glänzte. Vertreter des linken SPD-Parteiflügels, wie Erhard Eppler setzten noch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre lange auf die Ostberliner SED als Partner, was sich im sogenannten SPD-SED Dialogpapier von 1987 ausdrückte. Erst Mitte 1989 setzte bei Eppler zumindest gegenüber der Entwicklung in der DDR eine gewisse Nachdenklichkeit ein.[2]

Oppositionelle, Friedensaktivisten und Bürgerrechtler aus Ost- und Westeuropa hatten demgegenüber Kontakte, die bis in die siebziger Jahre und weiter zurück reichten. Sie hatten alle frühen Phasen des Helsinkiprozesses begleitet und gehörten zu den  „Helsinkier Verfolgten“, als die kommunistischen Sicherheitsorgane, politische Regungen, die sich auf die Helsinki-Charta von 1975 bezogen zu unterdrücken versuchte. Doch die Gegenbewegung schuf sich ihre eigenen Verbindungen. Darunter ein Netzwerk für den Ost-West-Dialog.In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erhielt dieses Netzwerk, weit über den KSZE-Prozess hinaus zentrale Bedeutung für die Koordinierung oppositioneller Aktionen, gemeinsame Aufrufe und Manifeste, die Stärkung der wechselseitigen Solidarität.

Zur Eröffnung der KSZE-Folgekonferenz in Wien am 3.November 1986 legte das Netzwerk ein Memorandum unter dem Titel „Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen“[3] vor, welches das Resultat zahlreicher vorangegangener Diskussionsprozesse und Abstimmungen war. Zu dem mehreren Hundert Erstunterzeichnern gehörten prominente Vertreter der demokratischen Opposition aus Polen, Ungarn, der CSSR und anderen Ostblockländern, darunter auch der DDR, sowie zahlreiche westeuropäische Friedens- und Bürgerrechtsaktivisten. Bekannte Unterzeichner aus den USA waren unter anderem die Sängerin Joan Baez und der Schriftsteller Allen Ginsberg.

Im Zentrum des Textes stand die Schlussfolgerung, dass Sicherheit, Frieden und die Garantie der Menschen- und Bürgerrechte eine untrennbare Einheit bilden, wenn es um ein gemeinsames europäisches Haus geht. Am bisherigen Verlauf des KSZE-Prozesses wurde die einseitige Fixierung auf die Großmächte, auf die Ebene der Regierungen und auf die Politik von oben kritisiert. Dem wurde die Forderung nach einem Helsinki-Prozess von unten entgegengesetzt, zu dessen Verwirklichung sich alle Unterzeichner des Memorandums verpflichtet sahen. Binnen weniger Jahre bewegte sich die reale Geschichte über die kühnsten im Memorandum enthaltenen Träume hinaus, riss die bisherigen Begrenzungen und scheinbar unüberwindlichen Teilungsschranken ein.

Der Sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow scheiterte mit dem Rettungsversuch des zum Scheitern verurteilten kommunistischen Systems, zu dessen Totengräber er letztlich wider Willen wurde. Seine Leistung und sein Verdienst bestanden darin, dass er zum friedlichen Charakter der Befreiungsrevolutionen des Jahres 1989 beitrug. Die Begrenztheit seiner Konzeption  zeigte sich darin, dass er über 1989/90 hinaus, die Sowjetunion als Imperium und damit als Völkergefängnis zu erhalten suchte, eine Umklammerung durch Russland, der sich Nationen, wie die Ukrainer, die Georgier und Kaukasier, vor allem aber auch die kleineren Nationen des Baltikums mit aller Kraft zu entziehen suchten.

Die Befreiungsrevolutionen, deren Höhepunkt im Jahre 1989 lag, wurden zum Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte Europas und der Welt. Im Streit darüber, wer ihr entscheidender Vorbereiter, Motor oder Träger war, standen sich Entspannungspolitiker in Deutschland, Vertreter westlicher Regierungen und Anhänger Gorbatschows konträr gegenüber. Beginnend mit der Solidarność in Polen, war es  der Freiheitswille und die Kraft der unterdrückten Völker und Nationen im östlichen Teil Europas, die hier eine entscheidende Rolle spielten. Einem Teil von ihnen, allen voran den Balten, aber auch den Menschen in der DDR, gelang die Ankunft im „Westen“, gelang der Sprung, in die Gemeinschaft der Länder des freien Europas, die sich mit Demokratie, Freiheit und Wohlstand zum Vorbild entwickelt hatten. Anderen, wie den Ukrainern, die zunehmend dahin strebten, blieb er noch jahrzehntelang verwehrt. Ein folgenschweres Dokument, in dem sich erneut dieser Zwiespalt diese Kluft ausdrückte, war die im November 1990 verabschiedete Charta von Paris, für ein neues Europa.[4]

Ihre entscheidenden Sätze lauten:

„Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit begründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an“.

Wie in einem Brennglas zeigten sich in diesen Sätzen alle Hoffnungen, aber auch die Illusionen, zahlreicher „Architekten“ der Entspannungspolitik, darunter deren deutscher Beteiligter. Sie wurden insoweit zu Realisten, dass sie endlich den Mut von Männern und Frauen anerkannten, die sich ihre Freiheit erkämpften. Sie blieben voll ihren bisherigen Illusionen verhaftet und nährten neue, als sie, die wolkigen Erklärungen der östlichen Gegenseite, in denen Gorbatschow und seine staatlichen Mitakteure von einer Friedensordnung von Lissabon bis Wladiwostok bis Lissabon fabelten, für bare Münze nahmen.

Für eine solche gesamteuropäische Friedensordnung hätte es nach dem Zerfall der Sowjetunion, die Gorbatschow unbedingt erhalten wollte, eines sich demokratisierenden Russlands bedurft, dass sich der eigenen totalitären Vergangenheit stellte und seine imperialen Gelüste ablegte.

Konnte man in der ersten Hälfte der neunziger Jahre noch auf die Versprechungen und Gesten von Gorbatschows Nachfolger, Boris Jelzin, setzen, stellte die Folgeentwicklung mit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg, der Entmachtung Jelzins und der Inthronisation des ehemaligen KGB-Offiziers Wladimir Putins, die Abkehr von allen Ansätzen in Richtung Friedenspolitik klar.

Man musste kein Hellseher sein, um den Charakter und die immer deutlicher formulierten neoimperialen Ziele Putins zu erkennen. Warnungen vor dieser Entwicklung gab es nicht nur von Seiten der mittelosteuropäischen Nachbarstaaten Russlands und den Staaten, die wie die Ukraine und Georgien um ihren eigenen Weg in die Unabhängigkeit suchten.

Sie wurden in der ersten und zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, von zahlreichen westlichen politischen Akteuren nicht ernst genommen und missachtet. Ebenso von einem großen Teil der politischen Klasse der Bundesrepublik, von den verschiedenen Koalitionen Bundesregierung.

Heute wird unter dem Eindruck des mörderischen Angriffskrieges Russlands, nahezu einhellig eingestanden, vor welchem Scherbenhaufen die deutsche Osteuropapolitik der letzten Jahrzehnte steht, wird ein Neuanfang beschworen.

Bei diesen Beteuerungen darf es jedoch nicht bleiben. In den mittelosteuropäischen Nachbarstaaten Deutschlands stehen Partner bereit, die den Kampf der Ukraine mit allen Konsequenzen unterstützen und von Deutschland eine ähnliche Konsequenz erwarten dürfen.


Wolfgang Templin ist ostdeutscher Publizist und ehemaliger DDR-Bürgerrechtler, Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte und Mitherausgeber der Samisdat-Zeitschrift „Grenzfall“.

[2]Rede zum 17. Juni 1953, gehalten im Deutschen Bundestag 1989. https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/zum-gedenken-an-den-17-juni-1953-sitzung-des-deutschen-bundestages-783194

[3]  Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog: Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen. Memorandum von unabhängigen Gruppen und Personen in Ost- und Westeuropa (Berlin, 1986) auszugsweise https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28328 (Zugriff 2.8.2023)

[4] Charta von Paris für ein neues Europa - Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs (teil vier von vier) vom  24.  November 1990 . https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/charta-von-paris-fuer-ein-neues-europa-erklaerung-des-pariser-ksze-treffens-der-staats-und-regierungschefs-teil-vier-von-vier--788584 (Zugriff 2.8.2023)