„Nur die Weltöffentlichkeit kann uns schützen“

Helsinki-Gruppen in der Sowjetunion

von Uta Gerlant1

 

Sacharows Idee der Annäherung und seine Verleumdung durch das KGB2

 

In seinem Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ vertrat Andrej Sacharow 1968 das Konzept der Konversion, also der Annäherung der einander feindlich gegenüber stehenden Machtblöcke.3 Damit war er ein Pionier der Entspannung. Den Gedanken, dass Fortschritt, Frieden und Menschenrechte untrennbar zusammengehören, entwickelte er in seiner Nobelpreisrede weiter, die seine Frau Elena Bonner an seiner statt am 10. Dezember 1975 in Oslo vortrug.4

 

Als Sacharow seine „Gedanken über Fortschritt…“ 1968 in den Samizdat sowie den Tamizdat5 gab, war das zugleich der Schritt aus seiner privilegierten Stellung als hoch geehrter Wissenschaftler in die Dissidenz. Die sowjetischen Institutionen begannen sofort, sich gegen ihn zu wenden, entzogen ihm den Arbeitsplatz und versuchten, ihn sozial zu isolieren. Denn zur Entspannung sahen die sowjetischen Machthaber nur sich selbst autorisiert. Alle Akte individueller geistiger Freiheit fürchteten und bekämpften sie. Ein Mittel der Isolierung (vor der Verbannung nach Gorki 1980) war die öffentliche Verleumdung: Nachdem Sacharow im August 1973 westlichen Korrespondenten mehrere Interviews gegeben hatte, wurde in der Sowjetunion eine Pressekampagne gegen ihn organisiert, in der sich hunderte Vertreter unterschiedlicher Berufe (darunter auch ehemalige Kollegen) gegen ihn wandten. Am 8. September erklärte Sacharow: „Die Zeitungskampagne im Zusammenhang mit meinen neuesten Interviews bedient sich als Hauptargument des Vorwurfes, ich sei angeblich gegen die internationale Entspannung, wenn nicht gar für den Krieg. Dies ist eine gewissenlose Spekulation mit der antimilitaristischen Einstellung des Volkes, das im Zweiten Weltkrieg Schwerstes zu erleiden hatte...“6

 

Zugleich warnte Sacharow in einem Interview, das er der Nachrichtenagentur AFP7 gab, dem Prozess der Annäherung wohnten auch Gefahren inne: „Die Macht in unserem Land […] unternimmt bereits jetzt den Versuch, die Annäherung nicht für die Demokratisierung des Regimes zu nutzen, sondern zu seiner Stärkung, Verhärtung.“8 Deshalb müsse der Westen Druck auf die Sowjetunion ausüben. „Andernfalls wäre das eine Kapitulation vor unserem antidemokratischen Regime“, so Sacharow.9

 

Der skeptische Blick der Dissidenten auf die Entspannungspolitik

 

Scharow also begleitete die KSZE10-Gespräche, die im Juli 1973 in Helsinki eröffnet worden waren, aufmerksam und kritisch. Eine ähnliche Sicht wie er vertrat General Petro Hryhorenko – wie Sacharow ein Dissident, der seine Privilegien um seines Gewissens willen aufgegeben hatte. In seinen Memoiren schreibt er über die Vereinbarungen von Helsinki: „Der 1. August 1975 wird auf ewig als großer Sieg der sowjetischen Diplomatie in die Geschichte eingehen und als Schandfleck in die Geschichte der westlichen Demokratie.“11 Warum dieses harsche Urteil? Weil Osteuropa unter sowjetischer Besatzung blieb und die Sowjetunion das Recht bestätigt bekommen hatte, dort Truppen jeder Art und Stärke zu stationieren. Und weiter schreibt Hryhorenko: „Uns war klar, dass die außenpolitischen Erfolge der sowjetischen Regierung es ermöglichen würden, den Druck im Inneren des Landes zu verstärken. Die Versprechungen auf humanitärem Gebiet in der Helsinki-Schlußakte konnten uns nicht beeindrucken. Wir kennen viele internationale Verträge, in denen die Sowjetunion sich verpflichtete, die Menschenrechte zu wahren und zu schützen; sie hat diese Verpflichtungen niemals erfüllt.“12 Wladimir Bukowski, der zu den Dissidenten gehörte, die als Studenten der Universität verwiesen wurden, merkte an: „Wenn überhaupt praktische Ergebnisse [für die Menschenrechte in der UdSSR] erzielt wurden, dann nicht dank, sondern trotz der Entspannungspolitik.“13 Und weiter: „Die Unterzeichnung eines Vertrages mit der UdSSR ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines Kampfes.“14

 

Einer, der diesen Kampf aufnahm, war der Physiker Jurij Orlow. Zusammen mit Anatolij Schtscharanskij und Andrej Amalrik schrieb er 1976 die Gründungserklärung der Moskauer Helsinki-Gruppe, deren Vorsitzender er wurde. Den Zweck der Helsinki-Gruppe beschrieb er so: „Bloße Appelle an die Öffentlichkeit hätten uns […] nicht weitergeholfen. Wir mussten ein eigenes Komitee gründen und den westlichen Regierungen Gutachten schicken, in denen die Verstöße der Sowjetunion gegen von ihr unterzeichnete politische Verträge genau beschrieben wurden.“15

 

Aus der Mitte der Dissidenz: Helsinki-Gruppen

 

Als 1975 in Helsinki die KSZE-Schlussakte unterzeichnet wurde, hatten die nationalen und religiösen Dissidentenbewegungen wie auch die Menschenrechtler in der Sowjetunion bereits ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein entwickelt. So kam es, dass sie trotz einer gewissen Reserviertheit gegenüber den außenpolitischen Implikationen der Schlussakte in ihr eine Bezugsgröße erblickten, Menschenrechte einzufordern. Im Mai 1976 wurde in Moskau die „Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Vereinbarungen von Helsinki in der UdSSR“ (Moskauer Helsinki-Gruppe) gegründet. Es folgten im November 1976 die ukrainische und die litauische Helsinki-Gruppe, im Januar 1977 die georgische und im April 1977 die armenische Helsinki-Gruppe. Außerdem entstand im Januar 1977 im Rahmen der Moskauer Helsinki-Gruppe die „Arbeitskommission zur Untersuchung des Missbrauchs der Psychiatrie für politische Zwecke“. Sie verfügte über Psychiater und Juristen als Berater und war bis 1981 tätig, als ihr letztes Mitglied verhaftet wurde.

 

Helsinki-Gruppen in Moskau und in der Ukraine

 

Die Chronik der laufenden Ereignisse – ein Samizdat-Journal, das unzensiert im Selbstverlag erschien und in dem die Dissidenten Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Sowjetunion dokumentierten - informierte am 20. Mai 1976, also acht Tage nach Gründung der Moskauer Helsinki-Gruppe, über erste Reaktionen seitens der Staatsmacht: „[…] am Sonnabend den 15. Mai haben sie ihn [Jurij Orlow] von der Straße weg festgenommen und […] erteilten ihm eine Verwarnung […]. Am selben Tag veröffentlichte TASS im Ausland folgende Erklärung […]: […] Die Tätigkeit von Orlow kann schwerlich anders qualifiziert werden denn als ein Versuch, die aufrichtigen Anstrengungen der Sowjetunion, gerichtet auf die unbedingte Umsetzung der durch sie eingegangenen internationalen Verpflichtungen, in den Augen der internationalen Öffentlichkeit in Zweifel zu ziehen […]“16

 

Die „Initiation“ der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, gegründet am 9. November 1976, fiel etwas anders aus und ist in deren erstem Memorandum vom 6. Dezember 1976 beschrieben: „In der Nacht zum 10. November 1976 wurde die Wohnung des Leiters der Gruppe Mikola Rudenko angegriffen. Unsichtbare Personen warfen Ziegelsteine in das Fenster. […] ein Mitglied der Gruppe wurde verletzt: Oksana Meschko. Die herbeigerufene Miliz lehnte es ab, eine Anzeige aufzunehmen. […]

Wenn man erwägt, dass M. Rudenko mitten im Wald wohnt, wohin Angehörige der Nomenklatura kommen, um Wildschweine und Elche zu jagen, dann wird man verstehen, dass der Angriff auf seine Wohnung ein eindeutiger Wink war. Nur die Unterstützung der Weltöffentlichkeit kann die Gruppe vor schonungslosen Gewaltakten schützen.“17

 

Von Mai 1976 bis zur Einstellung ihrer Tätigkeit im September 1982 gab die Moskauer Helsinki-Gruppe 195 Dokumente heraus. Sie waren folgenden Themenkomplexen gewidmet:

- Gleichberechtigung und das Recht der Völker, ihr Schicksal selbst zu bestimmen

- die Freiheit, den Wohnort zu wählen

- die Freiheit, aus dem Land auszureisen und zurückzukehren

- Gewissensfreiheit

- das Recht, seine Rechte zu kennen und in Übereinstimmung mit ihnen zu handeln

- politische Gefangene

- Kontakte zwischen den Menschen (via Post und Telefon)

- das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

- soziale und wirtschaftliche Rechte

- Vorschläge an die Konferenzen von Belgrad und Madrid18

 

Die Ukrainische Helsinki-Gruppe entfaltete ebenfalls eine umfangreiche Tätigkeit. Über ihre Erklärungen zu konkreten Menschenrechtsverletzungen hinaus veröffentlichte sie ab 1978 im Samizdat ein Informationsbulletin, das ähnlich wie die Chronik der laufenden Ereignisse Menschenrechtsverletzungen – hier bezogen auf die Ukraine – dokumentierte. Infolge der staatlichen Repressionen gelangten nach 1984 keine Verlautbarungen der Ukrainischen Helsinki-Gruppe mehr in Umlauf.19

 

Helsinki-Gruppen in Litauen, Georgien und Armenien

 

Kurz nach Gründung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, am 26. November 1976, wurde bei einer Pressekonferenz in Moskau die Gründung der Litauischen Helsinki-Gruppe bekannt gegeben. Die russische Historikerin und Dissidentin Ljudmila Alekseeva beurteilte deren Rolle wie folgt: „Die Litauische Helsinki-Gruppe nahm nicht eine so führende Stellung in der litauischen Opposition ein wie die Moskauer Gruppe in der Menschenrechtsbewegung oder die ukrainische in der Ukraine. Jedoch die reine Menschenrechtsposition der Litauischen Helsinki-Gruppe machte gerade sie zum Anziehungspunkt für die Kräfte des nationalen und zivilen Widerstands der Nachbarn der Litauischen Republik – Estland und Lettland.“20 Die Georgische Helsinki-Gruppe und die in Armenien, gegründet am 14. Januar bzw. 1. April 1977, widmeten sich hingegen ähnlich wie die ukrainische auch nationalen Fragen, die vor allem den Schutz der eigenen Sprache und Kultur betrafen.

 

Bereits im April 1977 wurden vier Mitglieder der Georgischen Helsinki-Gruppe verhaftet. Die Armenische Helsinki-Gruppe erklärte im Dezember nach Verhaftung von zwei Mitgliedern ihre Auflösung. Während die armenische Gruppe immerhin einige Erklärungen über Menschenrechtsverletzungen in der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik sowie eine Mitteilung an die Belgrader KSZE-Konferenz herauszugeben geschafft hatte, konnte die georgische Gruppe lediglich ein Dokument über die Entlassung ihres Mitglieds Viktor Rccheladze aus dem georgischen Kulturministerium und über dessen Einsatz für die Mescheten veröffentlichen.21

 

Verstärkte Repressionen und das Überwintern der Helsinki-Bewegung

 

Zu Beginn der 1980er Jahre, als nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan der internationale Ruf sowieso angeschlagen war, verstärkte das Regime die Verfolgung der Dissidenten noch. Während in den 1970er Jahren gerade in der Moskauer und der Ukrainischen Helsinki-Gruppe nach Verhaftungen immer neue Mitglieder nachgerückt waren, bedeuteten die verstärkten Repressionen 1981/82 de facto das Ende der noch aktiven Gruppen. In Litauen wurden vier Mitglieder der Helsinki-Gruppe inhaftiert, ein weiteres Mitglied, der Priester Bronislovas Laurinavičius, wurde ermordet.22 Als 1982 in Moskau der 74-jährigen Rechtsanwältin Sofia Kallistratowa die Verhaftung drohte, erklärten die letzten noch in Freiheit verbliebenen Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe die Beendigung ihrer Tätigkeit.23

 

Die Ukrainische Helsinki-Gruppe (UHG) hingegen hat formal ihre Existenz nie aufgegeben. Ihre Mitglieder, von denen sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre 18 allein im Lager Kutschino im Ural befanden, sprachen von einer „Verlagerung“ ihrer Aktivitäten in die Lager.24 Außerdem verfügte die UHG seit 1977 über eine Auslandsvertretung, die Leonid Pljuschtsch in Frankreich sowie Nadija Switlytschna, Petro Hryhorenko und Nina Strokata in den USA wahrnahmen.25 Als 1987 bereits Glasnost' und Perestroijka aufkeimten und die ersten ukrainischen Helsinki-Aktivisten aus den Lagern zurückkehrten, erneuerten sie ihr Engagement für eine demokratische Ukraine in der Ukrainischen Helsinki-Vereinigung, die später zur Keimzelle für mehrere Parteien und andere demokratische Initiativen wurde.26

 

Die Moskauer Helsinki-Gruppe organisierte sich Ende der 1980er Jahre neu. Die eingangs zitierte Ljudmila Alekseeva, 1977 ausgebürgert und 1993 aus den USA zurückgekehrt, stand ihr von 1996 bis zu ihrem Tod 2018 vor. Am 25. Januar 2023 ordnete das Oberste Gericht Moskaus die Auflösung der Moskauer Helsinki-Gruppe an.

 

„Innere Angelegenheit“: Gesetze im Widerspruch zur Schlussakte

 

Wladimir Bukowski, der 1972 inhaftiert und im Dezember 1976 in Zürich gegen den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chiles Luis Corvalán ausgetauscht wurde, schrieb 1981: „Die Unterzeichnung der Vereinbarungen von Helsinki im Jahre 1975 änderte die in der UdSSR bestehende Situation nicht. Verhaftungen, langjährige Gefängnisstrafen und andere Verfolgungen für völlig legale Tätigkeit setzen sich fort und werden nicht wesentlich eingeschränkt. Die Machthaber dachten nicht einmal daran, ihre Praxis und Gesetzgebung mit dem neuen internationalen Abkommen in Einklang zu bringen.“27 Er konstatierte: „Vielen mag es seltsam erscheinen, dass die Lage innerhalb der UdSSR sich von Beginn der ‚Entspannungsära‘ an nur verschlechtert hat. Aber das ist durchaus nicht erstaunlich. Erstens muß man seinem Volk zeigen, […] dass die Gespräche über den Frieden, das Nachlassen der Spannung und über irgendwelche Rechte […] gar nicht für ihre Ohren bestimmt sind, sondern nur für die der Ausländer. Zweitens, wozu soll man noch seine Bereitschaft zur ‚Liberalisierung‘ demonstrieren, wenn man vom Westen schon alles Nötige erhalten hat?“28

 

Die Dissidenten kritisierten die westliche Politik gegenüber der Sowjetunion als naiv und nachgiebig und fühlten sich im Stich gelassen, als nach Inkrafttreten der Vereinbarungen von Helsinki Menschenrechtsfragen als „innere Angelegenheit“ der Sowjetunion behandelt wurden. Sie forderten ihre vertraglich verbrieften Rechte ein. Das Regime jedoch verfolgte sie gnadenlos und zeigte damit, wie wenig es sich an die Vereinbarungen gebunden fühlte und lieferte damit den Beweis für seinen undemokratischen Charakter, auf den die Dissidenten hingewiesen hatten.

 

Deutsche Ostpolitik

 

Und wie reagierte der Westen darauf? Die Kulturwissenschaftlerin Sonja Hauschild beschreibt die bundesdeutsche Ostpolitik als „Annäherung ohne Wandel“. Westdeutsche Linksliberale hätten sich im Spagat geübt zwischen Solidarität mit den sowjetischen Dissidenten und Zurückweisung derer Kritik an der Entspannungspolitik: „Den deutschen Intellektuellen, die die Ostpolitik Brandts befürworteten, war das problematische Verhältnis von Entspannungs- und Menschenrechtspolitik bewusst. Sie hielten jedoch eine Unterstützung von Entspannung und Dissidenten nicht für gänzlich unvereinbar, da es angesichts der Lage Deutschlands für sie keine Alternative zur Ostpolitik gab. Deshalb musste mit dem sowjetischen Regime verhandelt werden, auch wenn es offensichtlich die Menschenrechte missachtete. Da ihrer Meinung nach langfristig durch die Entspannung auch die Situation der Menschenrechte verbessert werden würde, schreckten sie auch nicht davor zurück, die Haltung der Dissidenten zur Entspannungspolitik zu diskutieren und mehr oder weniger abzulehnen, ohne ihnen jedoch ihre Solidarität zu entziehen. Die Dissidenten konnten die deutschen Entspannungsbefürworter zwar nicht umstimmen, doch warnten sie vor allzu großen Illusionen und trugen dazu bei, dass die Forderung nach Entspannung mit der Forderung nach Freiheit verbunden wurde.“29 Konservative Politiker in der Bundesrepublik der 1970er/80er Jahre wiederum hätten die Kritik der Dissidenten an der Entspannungspolitik für eigene Zwecke instrumentalisiert.30

 

Die Haltung westdeutscher Eliten zu den sowjetischen Dissidenten kennzeichnet also eher politische Konfrontationslinien in der Bundesrepublik des Kalten Krieges, als etwas über die Dissidenten selber auszusagen. Kommen wir noch einmal zum Spagat zurück: Einerseits ist es Ausdruck demokratischer Gesinnung, Menschen zu unterstützen, deren Ansichten man nicht teilt. Gleichzeitig wohnt dieser Praxis aber auch die Versuchung inne, durch bittere Erfahrungen gewonnene Einsichten Anderer beiseite zu schieben (oder eben zu instrumentalisieren). Westdeutsche Intellektuelle behandelten die Dissidenten also eher als Objekte denn als Subjekte.

 

Fazit

 

Die Dissidenten waren Realisten, und deshalb sahen sie Helsinki nicht euphorisch. Gleichwohl beriefen sie sich auf die vertraglich zugesicherten Rechte und wandten sich damit gegen den sowjetischen Rechtsnihilismus, dass Gesetze und Verträge nur Popaganda für’s Ausland seien.31 Indem die Dissidenten zeigten, dass ihre Regierung sich nicht an die KSZE-Schlussakte hält, wurden sie von denjenigen im Westen, die in der Vereinbarung ausschließlich einen Erfolg sehen wollten, als Störenfriede empfunden. Die Dissidenten haben gegen Menschenrechtsverletzungen gekämpft, die im Westen nur wenige wirklich berührten. Dafür haben sie mit Gefängnis- und Lagerhaft, mit Zwangspsychiatrisierung und Verbannung einen hohen Preis gezahlt.

 

Was aber haben sie uns heute zu sagen? Erstens wären wir gut beraten, Menschen mit anderen Erfahrungshorizonten als den unseren sorgfältig zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Anders sind wir nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen internationaler Tragweite zu treffen. Zweitens beobachten wir in Russland gerade erneut, dass Aggression nach außen und Repression nach innen Hand in Hand gehen. Das Denken Andrej Sacharows, der Fortschritt, Frieden und Menschenrechte als untrennbar miteinander verbunden sah, könnte ein wirksames Gegengift sein. Und drittens erscheint der Gedanke, den Petro Hryhorenko angesichts der Verhandlungen um die KSZE-Schlussakte äußerte, brandaktuell: „Aggressiven Absichten ist die Unentschiedenheit einer widerspruchsvollen Situation günstig.“32 Weshalb wir gut daran täten, klug und entschieden Gemeinsamkeiten zu stärken – in unserem Land, in Europa, in der Welt.

1 Uta Gerlant ist freie Osteuropahistorikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. sowjetische Dissidenz, NS-Zwangsarbeit und Erinnerungskultur. 2016 bis 2020 war sie Leiterin der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. Davor arbeitete sie 15 Jahre in der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. 1993 war sie Mitbegründerin von Memorial Deutschland.

2 KGB, Komitet Gosudarstvennoj Bezopasnosti - Komitee für Staatssicherheit

3 Sacharow, Andrej, Mein Leben, München, Zürich (2) 1991 S. 307ff

4 Sacharow, Andrej Dimitrijewitsch, Furcht und Hoffnung. Neue Schriften bis Gorki 1980, Wien, München, Zürich, Innsbruck1980, S. 16ff

5 Samizdat – im Selbstverlag unzensiert herausgegebene Literatur und Dokumentationen (sam heißt selbst und izdatel’stvo heißt Verlag); Tamizdat – im Ausland kursierende unzensierte Werke und Informationen aus der Sowjetunion (wörtlich Dortverlag von tam - dort)

6 Sacharow, Andrej Dimitrijewitsch, Stellungnahme, Wien, München, Zürich 1974, S. 137

7 AFP - Agence France Presse; die französische Presseagentur ist eine der international führenden Nachrichtenagenturen

8 CA FSB. F. 5os. Op. 20. D. 65. L. 372-374; SA, S.II.2.5.22 in: Ob’ekt nabljudenija. KGB protiv Sacharova, hrsg. v. NIPC „Memorial“, Moskva 2023, S. 202 (übersetzt von der Autorin)

9 Ebenda; Andrej Sacharow wurde nicht Mitglied einer Helsinki-Gruppe. Er war Individualist, verband sich informell mit vielen Dissidenten und setzte sich für Verfolgte ein. 1970 gründete er das Komitee für Menschenrechte, trat danach aber keiner Gruppe mehr bei.

10 KSZE – Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa;

11 Grigorenko, Pjotr, Erinnerungen, München 1981, S. 534; Die ukrainische Schreibweise des Namens ist Petro Hryhorenko. Hryhorenko trat übrigens sowohl der Moskauer Helsinki-Gruppe als auch der Ukrainischen Helsinki-Gruppe bei, denn er lebte in Moskau und war Ukrainer.

12 Grigorenko, Erinnerungen, S. 534; Diese Ansicht teilte auch Solschenizyn vgl. Hauschild, Sonja, Propheten oder Störenfriede? Sowjetische Dissidenten in der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich und ihre Rezeption bei den Intellektuellen (1974—1977), Saarbrücken 2005, S. 35 https://epub.ub.uni-muenchen.de/1359/1/hauschild-dissidenten.pdf (23.06.2023)

13 Bukowski, Wladimir, Dieser stechende Schmerz der Freiheit. Russischer Traum und westliche Realität, Stuttgart-Degerloch (2) 1983, S. 282

14 Ebenda, S. 272

15 Orlow, Jurij, Ein russisches Leben, München, Wien 1992, S. 229

16 Chronika Tekuščich Sobytii (ChTS), Nr. 40, Moskva 20.05.1976, S. 117Ff (übersetzt von der Autorin)

17 Memorandum Nr. 1. In: Ukraȉns'ka Gromads'ka Grupa spryjannja Hel'sinks'kych uhod. Tom 2 Dokumenty i materialy 9 lystopada 1976 – 2 lypnja 1977, Charkiv 2001, S. 36 (übersetzt von der Autorin)

18 KSZE-Nachfolgekonferenzen zu Helsinki: Belgrad 1977/78 und Madrid 1980-83; Dokumenty Moskovskoi Chel’sinkskoi gruppy 1976-1982, hrsg. v. Moskovskaja Chel’sinkskaja gruppa, Moskva 2006

19 Gromads'ka Grupa, hrsg. v. Charkivs’ka pravozachysna grupa, Tom 2-4, Charkiv 2001

20 Alekseeva, Ljudmila, Istorija Inakomyslija v SSSR. Vilnjus, Moskva 1992, S. 51 (übersetzt von der Autorin)

21 Alekseeva, Istorija, S. 76f und S. 88; zur Gründung der georgischen Helsinki-Gruppe s.a. ChTS, Nr. 44, 16.03.1977, S. 27; Mescheten sind in Georgien lebende türkischsprachige Muslime.

22 Alekseeva, Istorija, S. 51; ChTS Nr. 63, 31.12.1981, S.102f

23 Dieser Nachricht war das Dokument Nr. 195 der Moskauer Helsinki-Gruppe gewidmet. Vgl. ChTS Nr. 65, 31.12.1982; zu Sofia Kallistratowa s.a. Zastupnica. Advokat S.V. Kallistratova (1907-1989). Moskva 1997

24 Ovsienko, Vasil', Pravozachysnyj ruch v Ukraȉni (Seredyna 1950-ch – 1980-i roky). In: Gromads'ka Grupa, Tom 1 Osobystosti, Charkiv 2001, S. 38

25 Ebenda, S. 30

26 Ebenda, S. 39ff

27 Bukowski, Schmerz, S. 268f

28 Ebenda, S. 277f

29 Hauschild, Propheten, S. 83

30 Ebenda, S. 77

31 Andrej Amalrik berichtet in seinen Memoiren, dass er nach Rückkehr aus der Verbannung unter der Anschuldigung vorgeladen wurde, keiner geregelten Arbeit nachzugehen. Er erwiderte, dass er arbeite (zu Hause am Schreibtisch) und berief sich auf die auch von der Sowjetunion unterzeichnete Konvention zur Abschaffung der Zwangsarbeit. Der Staatsanwalt antwortete: „Aber die haben wir doch nicht Ihretwegen unterschrieben.“ Amalrik, Andrej, Aufzeichnungen eines Revolutionärs, Berlin, Frankfurt/Main, Wien 1983, S. 391; Dies ist nur ein Beispiel von vielen dieser Art; Untersuchungsführer, Staatsanwälte und Richter sagten immer wieder, dass beispielsweise die sowjetische Verfassung nicht für die Bürger, sondern für das Ausland da sei.

32 Grigorenko, Erinnerungen, S. 533f