Der DDR-Strafvollzug im KSZE-Prozess

Der DDR-Strafvollzug im KSZE-Prozess - von Tobias Wunschik

Veränderungen im Kontext internationaler Vereinbarungen und unter den Augen der Weltöffentlichkeit

Systemkonkurrenz im Strafvollzugsrecht

Gegen Ende der 1960er Jahre näherten sich die großen Machtblöcke und die beiden deutschen Staaten vorsichtig einander an. Obwohl die systembedingte Rivalität fortbestand und die Regierung in Ostberlin weiterhin von der Überlegenheit des Sozialismus überzeugt war, suchte sie im Rahmen der „friedlichen Koexistenz“ vertragliche Bindungen mit dem Westen. Die internationalen Vereinbarungen, die dann etwa im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) geschlossen wurden, schufen wechselseitiges Vertrauen und stifteten Sicherheit. Zugleich entfalteten sie im Inneren der DDR eine gewisse rechtliche bzw. politische Bindungswirkung: Zunehmend hatte das SED-Regime nun auch bezüglich seines Gefängniswesens internationale Standards zu bedenken,[1] auch wenn es diese nicht zwangsläufig beachtete, wie nachfolgend deutlich werden wird. Eine wichtige Triebfeder war dabei das Bemühen der DDR-Machthaber, in den Augen der Weltöffentlichkeit an Reputation zu gewinnen.

Dass auch die ostdeutsche Strafvollzugspolitik von der Systemkonkurrenz und von Erwägungen der politischen Optik beeinflusst wurde, zeigte sich bereits in den 1960er Jahren, als die Verrechtlichung des Gefängniswesens in Westdeutschland ähnliche Entwicklungen auch in Ostdeutschland induzierte. Denn bis in diese Zeit existierte weder diesseits noch jenseits der Grenze ein einschlägiges Gesetz für den Strafvollzug. Nun entwickelte sich jedoch ein bemerkenswerter Wettlauf der beiden deutschen Staaten um die erstmalige Kodifikation des Strafvollzugsrechts. Sowohl Ostberlin als auch Bonn sahen hier einen normativen Regelungsbedarf, getragen wohl auch durch die systemübergreifende Modernisierungseuphorie der damaligen Zeit.

In der Bundesrepublik wurde zwar bereits mit der Dienst- und Vollzugsordnung des Jahres 1961 das Gefängniswesen in allen Bundesländern erstmals gleichlautend geregelt, doch ein Strafvollzugsgesetz fehlte weiterhin.[2] Das ostdeutsche Ministerium des Innern erarbeitete dann bis Juni 1963 einen Entwurf für ein DDR-Strafvollzugsgesetz, doch wurde dieses wegen administrativer Unklarheiten nicht in Kraft gesetzt.[3] In der Bundesrepublik erhöhten Medienberichte über Missstände in den Gefängnissen den Reformdruck, so dass Justizminister Gustav Heinemann 1967 eine Kommission berief, die ein Strafvollzugsgesetz ausarbeiten sollte.[4] Jetzt konnte die DDR-Regierung einen eigenen Gesetzesentwurf aus dem Hut zaubern und 1968 stolz verkünden, dass "in Deutschland überhaupt der Strafvollzug e r s t m a l i g durch ein umfassendes Gesetz geregelt" worden sei.[5] Angesichts des Reformstaus im Westen konnte Ostberlin hier vergleichsweise leicht punkten.[6]

In der Bundesrepublik zogen sich die Debatten dann noch viele Jahre hin, bis schließlich im Januar 1977 ein Strafvollzugsgesetz in Kraft trat. Nur vier Monate später zog die DDR auffälligerweise mit einem novellierten Strafvollzugsgesetz nach. Allerdings eilte im westlichen Teil Deutschlands die Vollzugspraxis den gesetzlichen Regelungen "regelmäßig voraus",[7] so dass Gefängnisleiter Erleichterungen gewährten, die sie eigentlich (noch) gar nicht genehmigen durften, während in der DDR die oberste Strafvollzugsleitung die Gefängnisleiter öfter ermahnen musste, den Gefangenen zumindest die ihnen zustehenden Rechte zu gewähren.[8]

Auch Funktion und Genese des Strafvollzugs waren in den beiden deutschen Staaten grundverschieden: Auf der östlichen Seite dominierte ein repressiver Erziehungsstrafvollzug, auf der westlichen Seite ein zwar defizitärer, doch reformorientierter Strafvollzug in einem rechtsstaatlichen Rahmen.[9] Sollten die Inhaftierten hier zur Beachtung der allgemeinen Gesetze "befähigt werden", waren sie in der DDR zur Einhaltung der „sozialistischen“ Gesetzlichkeit "zu erziehen".[10] Weitere Unterschiede (hinsichtlich der politischen Justiz, der Gefangenenrate, des Sanktionssystems, der Strenge des Haftregimes, des Spitzelwesens, des Arbeitseinsatzes und der politischen Indoktrination) seien hier nur angedeutet.

Westliche Besuche und internationale Verpflichtungen

Als nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages 1972 nach und nach 130 Staaten diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahmen, gewann die SED-Führung neues Selbstbewusstsein.[11] Dies hatte für den Strafvollzug einen positiven Nebeneffekt: Erstmals seit 1960 gestattete Ostberlin, dass westliche Delegationen DDR-Haftanstalten inspizierten.[12] Die etwas verbesserten Zustände hinter den Gefängnismauern hielt man nun wohl wieder für vorzeigbar, hoffte auf einen politischen Punktgewinn und stand unter entsprechendem Erwartungsdruck des Westens und der Weltöffentlichkeit.

So durften beispielsweise Delegationen der Vereinten Nationen das Frauengefängnis Hoheneck (mit vielen politischen Insassinnen) und das Jugendhaus Halle (u.a. mit jugendlichen politischen Gefangenen) besuchen. Die Staatssicherheit beabsichtigte, diese Besuche vor Ort durch nicht näher genannte „op[erative] Maßn[ahmen]“ genau zu kontrollieren.[13] Und auch der Mitbegründer der schwedischen Sektion von amnesty international (ai), Hans Göran Franck, durfte 1984 mehrere Haftanstalten in Ostdeutschland besichtigen.[14]

Als Bundeskanzler Helmut Kohl 1987 im Wahlkampf von „Gefängnissen und Konzentrationslagern“ in der DDR sprach, wurde eine offizielle Gegenerklärung in den ostdeutschen Medien abgedruckt,[15] die auch vielen Häftlingen zugänglich wurde. Einer von ihnen befand dann, Kohl habe sich bei dem Vergleich „was dabei gedacht“, denn auch in DDR-Gefängnissen sei der Umgang mit den Insassen „menschenunwürdig und erniedrigend“.[16] Ostberlin hingegen hielt die Worte des Bundeskanzlers für eine Steilvorlage und genehmigte dem Journalisten des Stern Peter Pragal, die Haftanstalt Brandenburg-Görden zu besuchen – vermutlich weil hier auch Schwerverbrecher und NS-Täter inhaftiert waren, die in jedermanns Augen ihre gerechte Strafe verbüßen mussten, und weil der erst zu Weimarer Zeiten errichtete Bau vergleichsweise modern war. Auch dass vor 1945 Erich Honecker selbst hier eingesessen hatte, spielte vermutlich eine Rolle. Bei der dreistündigen Visite, die von der Staatssicherheit überwacht und abgehört wurde, tischte Gefängnisleiter Harry Papenfuß einige faustdicke Lügen auf, etwa dass es in der Haftanstalt keine Arbeitsverweigerer und keine verurteilten Republikflüchtlinge gebe.[17] Pragal hatte zwar mit Beschönigung, aber nicht mit so viel Manipulation gerechnet.[18] Erst nach dem Mauerfall bekannte der Journalist, „nicht ganz zu Unrecht“ der Schönfärberei beschuldigt worden zu sein.[19]

Die Staatssicherheit hingegen klopfte sich seinerzeit auf die Schultern, denn „durch die erfolgreiche Realisierung aller Maßnahmen“ sei dem beabsichtigten „politischen Anliegen entsprochen“ worden.[20] So konnte ein paar Monate später auch ein Journalist des Spiegel Brandenburg-Görden besuchen.[21] Und 1989 wurden im Ministerium für Staatssicherheit Überlegungen angestellt, amnesty international  erneut Zutritt zu einigen Haftanstalten zu gewähren, weil andere osteuropäische Staaten entsprechend vorausgegangen waren und die DDR dadurch unter Zugzwang stand.[22] Allerdings hielt die DDR-Führung einige Haftanstalten, wie etwa in Cottbus, prinzipiell für nicht vorzeigbar - wohl wegen der baulichen Verhältnisse und der vielen politischen Gefangenen.[23]

Die DDR musste seit dem Amtsantritt des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow 1985 bestimmten humanitären Erleichterungen zustimmen, um im KSZE-Prozess nicht den Anschluss an die anderen (kompromissbereiten) sozialistischen Staaten zu verlieren.[24] So stellte sich Ostberlin darauf ein, zumindest pro forma Informationspflichten gegenüber internationalen Organisationen nachkommen zu müssen. Unter Bezugnahme auf die Mindest-Standards der Vereinten Nationen zur Behandlung von Gefangenen von 1955 verlangte etwa die Abteilung Sicherheitsfragen des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) deswegen vom Organ Strafvollzug Auskünfte[25] und inspizierte vorsorglich (und einigermaßen oberflächlich) einige Haftanstalten.[26]

Als der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (UN) im Juni 1987 wissen wollte, welche Gegenmaßnahmen gegen die Misshandlung inhaftierter Frauen ergriffen worden seien,[27] besuchte im Folgemonat der Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED Klaus Sorgenicht das Frauengefängnis Hoheneck und sprach mit Aufseherinnen und inhaftierten Frauen. Der SED-Repräsentant gewann dabei einen „positiven Gesamteindruck“,[28] nachdem eine vorgeführte kriminelle Gefangene von den Haftbedingungen geschwärmt hatte.[29] Der Spitzenfunktionär riet dem Personal dennoch, „unser Tun und Handeln immer unter dem Gesichtspunkt der Einheit von Innen- und Außenpolitik zu betrachten“, was die Aufseherinnen wohl zu einem umsichtigeren Umgang mit den inhaftierten Frauen veranlassen sollte.[30] Und in Brandenburg-Görden sollte 1989 ein Gefängnistrakt als „Vorzeigeobjekt für eventuelle Besichtigungen im Rahmen der UNO-Menschenrechtskommissionen“ hergerichtet werden. Die größeren Zellen hätten freilich dazu geführt, dass die übrigen Gefängnistrakte noch stärker überbelegt worden wären, als sie es ohnehin schon waren.[31]

Nicht einer umfassenden Inspektion dienlich, aber doch mit Vor-Ort-Besuchen verbunden waren zudem die sogenannten Diplomatensprecher. Hierbei handelte es sich um überwachte Besuche bundesdeutscher und anderer westlicher Botschaftsvertreter bei ihren inhaftierten Landsleuten. Nach Abschluss der Grundlagenverträge konnten etwa Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR ab Mitte 1974 inhaftierte Bundesbürger besuchen.[32] Zwar wurden beispielsweise 1977 über mehrere Monate Besuche bei westlichen „Spionen“ untersagt.[33] Doch zwischen 1978 und 1982 fanden jährlich durchschnittlich 120 Diplomatensprecher in Bautzen II und rund 400 Zusammenkünfte dieser Art in Berlin-Rummelsburg statt.[34] Auf den einzelnen bundesdeutschen Häftling umgerechnet waren dies allerdings auch zuletzt nicht mehr als vier Besuche im Jahr.[35] Dies addierte sich bis 1989 insgesamt angeblich auf 3.400 Sprechstunden mit Diplomaten.[36]

Bei diesen Zusammenkünften durften nur persönliche Belange und - in gewissem Rahmen - die Verurteilung besprochen werden; Aufseher und Mitgefangene zu erwähnen war tabu.[37] Immerhin konnten sich die westlichen Häftlinge über die Haftbedingungen beschweren[38] und die Botschaftsvertreter dann eine Auskunft der Gefängnisverwaltung verlangen. Als Antwort kamen zwar überwiegend Ausflüchte, Gegenbehauptungen und Unterstellungen, doch standen die Verantwortlichen nun immerhin unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Einem politischen Gefangenen gelang es gar, sich von der Ständigen Vertretung die erwähnten Mindeststandards der UN für die Behandlung Gefangener von 1955 aushändigen zu lassen, nachdem sich die oberste Gefängnisverwaltung damit beruhigt hatte, dass diese Normen nur Richtwerte darstellen würden und keine einklagbaren Rechtsansprüche begründen könnten.[39]

Der Häftlingsfreikauf im Schatten der KSZE

Zwischen 1963 und 1989 wurden 33.755 Häftlinge aus den Haftanstalten der DDR durch Freikauf vorzeitig entlassen,[40] was etwa einem Drittel aller politischen Gefangenen in diesem Zeitraum entsprach. Die internationalen Vereinbarungen im Rahmen der KSZE hätten jedoch dieses humanitäre „Geschäft“ beinahe in Mitleidenschaft gezogen. Denn die Bundesregierung wollte ab Februar 1989 nicht länger für die vorzeitige Freilassung jener politischen Gefangenen bezahlen, die wegen Ausreisebemühungen verurteilt worden waren. Dies stand im Einklang mit den Vereinbarungen des dritten KSZE-Folgetreffens in Wien.[41] Stattdessen wollte die Bundesregierung im zweiten Halbjahr 1989 pauschal 115 Millionen DM für Familienzusammenführungen, Häftlingsfreikäufe und Ausreisen von Botschaftsflüchtlingen entrichten. Im Gegenzug wollte die DDR sich verpflichten, mit der bisherigen Entlassungspraxis fortzufahren und im gleichen Zeitraum wenigstens 600 politische Gefangene mindestens zwei Monate „zu früh“ freizulassen.[42] Allerdings wurde dies aufgrund der Friedlichen Revolution nicht mehr wirksam.[43]

Im Hinblick auf seine internationale Reputation hatte das SED-Regime im Einzelfall sogar ein Interesse daran, bestimmte politische Gefangene in die Freiheit zu entlassen. So wurden 1975 „politisch-operative Maßnahmen“ der Untersuchungsabteilung der Staatssicherheit „mit den außenpolitischen Interessen der DDR“ koordiniert, wie es der Staatssicherheitsdienst umschrieb. So sei ein Bundesbürger so kurzfristig aus der Haft entlassen worden, dass dies „für die DDR den größten Nutzen“ hatte.[44] „In weiterer Auswertung der KSZE“, wie es hieß, wurde dies im Folgejahr auch mit Bürgern anderer westlicher Staaten „unter Hervorhebung der Förderung der bilateralen Zusammenarbeit“ praktiziert.[45] Das Interesse Ostberlins an gutnachbarschaftlichen Beziehungen wirkte sich hier zum Vorteil – allerdings nur sehr weniger – ausländischer bzw. bundesdeutscher Gefangener aus.

Ausreiseanträge hinter Gefängnismauern

Mit Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 stieg in der gesamten DDR die Anzahl der Anträge auf Übersiedlung in die Bundesrepublik dramatisch.[46] Bemerkenswerterweise trauten sich auch (oder gerade) in ostdeutschen Haftanstalten jetzt viele Menschen, einen solchen Antrag zu stellen. Weil dies im Haftalltag Nachteile mit sich brachte, wagten eher die politischen als die kriminellen Gefangenen diesen Schritt, zumal nur sie sich gewisse Chancen auf Bewilligung bzw. Freikauf ausrechnen konnten.

Je nach Haftanstalt, Verurteilungsgründen und zu befürchtenden Repressalien artikulierten unterschiedlich viele Insassen einen Übersiedlungswunsch. Bereits im ersten Quartal 1976 stellten beispielsweise in Brandenburg-Görden 109 Gefangene[47] (und im weiteren Jahresverlauf weitere 114 Insassen) einen entsprechenden Antrag, was einem Anteil von 7,1 Prozent aller Gefangenen am Jahresende entsprach.[48] In der Strafvollzugsanstalt Halle wiederum hatten 1988 (nach der großen Amnestie im Vorjahr) gar 25 von 92 Gefangenen einen Ausreiseantrag gestellt. Dagegen waren es im Haftarbeitslager Bitterfeld angeblich nur 4 von 464 Häftlingen, die freigekauft werden wollten – oder dies zu artikulieren wagten.[49] In halbwegs realistischer Einschätzung der Befindlichkeiten zählte die Staatssicherheit deswegen 1985 in Brandenburg-Görden zusätzlich zu jenen Häftlingen, die förmlich einen Antrag gestellt hatten, weitere 385 "potentielle Übersiedlungsersuchende“.[50]

Veränderungen der Haftbedingungen

Das SED-Regime wurde sich zunehmend bewusst, wie wichtig auch das Erscheinungsbild des Gefängniswesens für die internationale Reputation der DDR war. Dies legte nahe, Missstände (noch besser) zu vertuschen, führte aber über die Jahre auch zu gewissen Verbesserungen der Haftbedingungen. Die erst 1974 eingeführte „verschärfte Vollzugsart“[51] wurde bereits drei Jahre später wieder abgeschafft.[52] Das neue Strafvollzugsgesetz von 1977 ließ Staats- und Parteichef Erich Honecker persönlich etwas milder gestalten;[53] der Gesetzestext orientierte sich aus Rücksicht auf die westliche Öffentlichkeit inhaltlich an den Mindeststandards der Vereinten Nationen für die Behandlung Strafgefangener von 1955.[54] Der strenge Arrest wurde abgeschafft, die formale Höchstdauer einer Arreststrafe auf 21 Tage begrenzt und die Sprechzeit der Angehörigen von 30 Minuten alle drei Monate auf bis zu eine Stunde alle ein bis zwei Monate erhöht.[55] Dass im neuen Gesetzestext „7 Pflichten 10 Rechten [für die Gefangenen] gegenüberstehen“, so die Staatssicherheit, sei „optisch gewollt“.[56]

Als sich wenige Jahre später das Klima zwischen den beiden deutschen Staaten erneut verschlechterte, war dies möglicherweise auch hinter den Gefängnismauern spürbar. Am Einspruch Honeckers scheiterte jedenfalls 1983 der gut gemeinte Plan, sozial und psychisch extrem auffällige Gefangene in einer gesonderten Einrichtung unterzubringen.[57] Und der Leiter der obersten Gefängnisverwaltung Wilfried Lustik warnte 1986 zwar in den Dienstbesprechungen vor „Ungesetzlichkeiten“ und „Willkür“, befürwortete aber zugleich ein „schroffes Regime“. Jeder Verstoß gegen „Ordnung und Disziplin“ müsse „geahndet werden – kein ‚humanitäres’ Gefas[e]le“.[58]

Dennoch hat sich die wachsende Rücksichtnahme der SED-Machthaber auf die Meinung der Weltöffentlichkeit und internationale Vereinbarungen insgesamt zum Vorteil der Gefangenen ausgewirkt. Besonders bei inhaftierten Bundesbürgern war die DDR in den 1980er Jahren geneigt, die Haftbedingungen im Interesse guter innerdeutscher Beziehungen zu gestalten.[59] Allerdings wurden ostdeutsche Häftlinge vermutlich weit seltener mit Glacéhandschuhen angefasst. Zumindest musste die DDR (stärker als andere osteuropäische Staaten) durch den Freikauf von Häftlingen stets mit dem Durchsickern diskreditierender Informationen rechnen – und Aufsehern drohten bei Gefangenenmisshandlung Vorermittlungen durch die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter.[60]

Trotz aller Rücksichtnahmen wurden die „Daumenschrauben“ im DDR-Strafvollzug streckenweise aber auch wieder angezogen. Zudem blieb die Behandlung der politischen Häftlinge bis 1989 strenger als die der übrigen Insassen, weil sie die politischen Feindperzeptionen der Aufseher unmittelbar zu spüren bekamen. Doch obwohl das SED-Regime westliche Forderungen nach Freilassung und Besserbehandlung der Gefangenen stets als Einmischung ablehnte, schenkte es internationalen Normen intern durchaus Beachtung. Von deren Einhaltung konnte freilich nicht im Entferntesten die Rede sein, weil es dem SED-Regime stets fremd blieb, Menschenrechte zu gewährleisten.

Dr. Tobias Wunschik ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesarchivs/Stasi-Unterlagenarchivs (StUA). Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie. 1995 promovierte er. Von 2019 bis 2023 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas der Humboldt-Universität zu Berlin.


[1]         So musste die DDR 1979 eine Norm der Vereinten Nationen zur Übergabe bzw. Übernahme von Verurteilten in ihre Heimatstaaten in nationales Recht umsetzen. Vgl. Konzeption des Ministeriums der Justiz zur Ausarbeitung einer Vereinbarung zur Übernahme von Verurteilten vom 20.11.1979; Bundesarchiv (BArch), MfS, HA VII/8 ZMA 113/80, Bl. 21-26.

[2]         Böhm, Alexander: Die Entwicklung des Strafvollzugs und des Sanktionssystems von 1945 bis in die Gegenwart, in: Busch, Max; Krämer, Erwin (Hrsg.), Strafvollzug und Schuldproblematik, Pfaffenweiler 1988, S. 39-50.

[3]         BArch, DO 1 32/47967; Protokoll Nr. 12/63 über die Beratung des Kollegiums [des Ministerium des Innern] am 8.11.1963; BArch, DO 1 32/47966.

[4]         Walter, Michael: Strafvollzug, Stuttgart 1999, S. 40.

[5]         Buchholz, Erich; Tunnat, Hans; Mehner, Heinrich: Die Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzugs im System der Kriminalitätsbekämpfung in der DDR, Berlin (Ost) 1969, S. 46 (Hervorhebung im Original).

[6]         Schmidt, Johann: Überbelegung im Strafvollzug. Ein Versuch, juristische Kriterien für die zulässige Belegung von Strafanstalten bzw. Hafträumen zu entwickeln, Frankfurt a. M. 1987.

[7]         Walter, Michael: Strafvollzug, Stuttgart 1999, S. 28.

[8]         Wunschik, Tobias: Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989. Göttingen 2018, S. 306.

[9]         Vgl. u.a. Ramsbrock, Annelie: Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch. Eine bundesdeutsche Geschichte, Frankfurt a.M. 2020.

[10]       Essig, Karen: Die Entwicklung des Strafvollzuges in den neuen Bundesländern. Bestandsaufnahme und Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Strafvollzugsbediensteten aus der ehemaligen DDR, Bad Godesberg 2000, S. 50 und S. 64.

[11]       Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 265.

[12]       Wunschik, Tobias: Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989. Göttingen 2018, S. 841-865 und S. 875-885

[13]       Treffbericht des IME »Erwin« vom 25.2.1989; BArch, MfS, AIM 12256/89, Band 2, Bl. 342–347.

[14]       Mihr, Anja: Amnesty International in der DDR. Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi, Berlin 2002, S. 1.

[15]       Berliner Zeitung vom 6.1.1987.

[16]       Auszug aus dem Treffbericht mit dem IMS »Dreher« vom 27.1.1987; BArch, MfS, BV Potsdam Vorl. Archiv 100/88, Bl. 325.

[17]       Anlage 1 zur Information des Leiters der Hauptabteilung VII über die politisch-operative Sicherung des Pressegesprächs vom 16.1.1987; BArch, MfS, Neiber 226, Bl. 294–303; Stern Nr. 5 vom 22.1.1987, S. 150.

[18]       Pragal, Peter: Der geduldete Klassenfeind. Als West-Korrespondent in der DDR, Berlin 2008, S. 195.

[19]       Pragal, Peter: Die Jagd auf OV »Kumpan«. In: Berliner Zeitung vom 3.8.1993; Jedes Land wählt seine Lösung. In: Stern vom 9.4.1987, S. 140–144; zit. nach: Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin 2001, S. 92.

[20]       Information des Leiters der Hauptabteilung VII über die politisch-operative Sicherung des Pressegesprächs und der Besichtigung vom 16.1.1987; BArch, MfS, Neiber 226, Bl. 288–293.

[21]       Information zum geplanten Besuch von NSW-Journalisten in der StVE Brandenburg vom 10.4.1987; BArch, MfS, BV Potsdam AIM 1983/89, Band II, Bl. 262–263.

[22]       Überlegungen der HA IX zu einigen Konsequenzen, die sich aus einer Neubewertung der Position der DDR zur Organisation »Amnesty International« ergeben vom 22.6.1989; BArch, MfS, HA IX 9913, Bl. 14–21.

[23]       Alisch, Steffen: Strafvollzug im SED-Staat. Das Beispiel Cottbus, Frankfurt a.M. 2014, S. 107.

[24]       Protokoll Nr. 49 der Sitzung des Politbüros vom 8.12.1987; BArch, DY 30 J IV 2/2–2251.

[25]       1. Entwurf des Berichts [des Generalstaatsanwalts] über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug in der DDR (mit Anlagen) o.D. [1987]; BArch, DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 78–95.

[26]       Abteilung Sicherheitsfragen: Information über die Verwirklichung des Untersuchungshaft- und Strafvollzuges in der Magdalenenstraße vom 20.7.1987; BArch, DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 125–129.

[27]       Schreiben des Stellvertreters des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten Florin an Giel vom 19.6.1987; Schreiben von Dickel an Mielke von 1987; BArch, DO 1/11445, o. Pag.

[28]       Niederschrift der Abteilung Strafvollzug der BDVP Karl-Marx-Stadt über den Arbeitsbesuch einer Arbeitsgruppe des Staatsrates der DDR vom 17.7.1987; Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz 30441 BDVP Karl-Marx-Stadt Abgabe 1999/1 Nr. 0055, o. Pag.

[29]       Thiemann, Ellen: Wo sind die Toten von Hoheneck? Neue Enthüllungen über das berüchtigte Frauenzuchthaus der DDR, München 2013, S. 25.

[30]       Niederschrift der Abteilung Strafvollzug der BDVP Karl-Marx-Stadt über den Arbeitsbesuch einer Arbeitsgruppe des Staatsrates vom 17.7.1987; Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz 30441 BDVP Karl-Marx-Stadt Abgabe 1999/1 Nr. 0055, o. Pag.

[31]       Information der OPG über Vorstellungen der Perspektive der StVE Brandenburg vom 6.1.1989; BArch, MfS, BV Potsdam, Abt. VII 747, Bl. 151; Schreiben der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII an den Leiter der Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 16.2.1989; BArch, MfS, BV Potsdam, Abt. VII 747, Bl. 154–155.

[32]       Pfütze, Peter: Besuchszeit. Westdiplomaten in besonderer Mission, Berlin 2006, S. 26.

[33]       Information der Hauptabteilung IX/9 über die gegenwärtige Praxis der Konsularbetreuung vom 19.2.1979; BArch, HA IX 2320, Bl. 254–257.

[34]       Geheime Kollegiumsvorlage des Ministeriums des Innern vom 10.5.1983; BArch, MfS, AIM 1536/87, Band 1, Bl. 190–204.

[35]       Hauptabteilung IX/10: Zur Besuchstätigkeit von Mitarbeitern der Ständigen Vertretung vom 21.4.1988; BArch, MfS, HA IX 2320, Bl. 21–25.

[36]       Coburger, Karli; Skiba, Dieter: Die Untersuchungsorgane des MfS (HA IX im MfS/Abt. IX der BV). In: Grimmer, Reinhard; Irmler, Werner; Opitz, Willi u.a. (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS, 2 Bände, Berlin 2002, S. 426–494, S. 448.

[37]       Anweisung 115/76 des Ministers des Innern über die Verfahrensweise für die Gestaltung der konsularischen Betreuung inhaftierter Bürger der BRD vom 17.6.1976; BArch, MfS, BdL/Dok. 009184.

[38]       Vermerk des Referates II 1 im Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen vom 30.1.1979; abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe/Band 6 (1979/80), bearb. von Jansen, Hans-Heinrich, München 2015, S. 33-35.

[39]       Schreiben des Mitarbeiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland vom 5.9.1978; BArch, DO 1 32/46926; Schreiben des Leiters der Verwaltung Strafvollzug Tunnat an den Leiter der Strafvollzugseinrichtung Berlin vom 19.10.1978; BArch, DO 1 32/46926.

[40]       Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989, Berlin 1991, S. 247.

[41]       [Vereinbarung zwischen] RA Prof. Dr. Vogel und Staatssekretär Dr. Priesnitz vom 10.2.1989; BArch, MfS, Rechtsstelle 203, Bl. 7–8. S.a. Wölbern, Jan Philipp: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, Göttingen 2014, S. 352.

[42]       Entwurf einer Vereinbarung o.D. [Juli 1989]; BArch, MfS, Rechtsstelle 203, Bl. 13–14; Übersicht [des MfS] über die vereinbarten Leistungen und Gegenleistungen [1989]; BArch, MfS, Rechtsstelle 203, Bl. 15.

[43]       Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers, Köln 2000, S. 287.

[44]       Bericht der Hauptabteilung IX/9 über die Tätigkeit der Hauptabteilung IX vom 5.1.1976; BArch, HA IX 2320, Bl. 482–487. Der Name des Häftlings wird in dem Dokument nicht erwähnt.

[45]       Bericht der Hauptabteilung IX/9 über die Tätigkeit der Hauptabteilung IX/9 vom 5.1.1977; BArch, HA IX 2320, Bl. 412–419.

[46]       Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe (Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden. MfS-Handbuch), Berlin 1995.

[47]       Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppeneinsatz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42.

[48]       Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der StVE Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BArch, MfS, BV Potsdam Abt. VII 706, Bl. 101–129.

[49]       Stand 30.6.1988. Vgl. Abteilung VII der BV Halle: Entwicklungstendenzen unter den SG/VH im 1. Halbjahr 1988 (Bezirk Halle) vom 4.7.1988; BArch, ZA, HA VII 911 (Wg. 10-13), o. Pag.

[50]       Abteilung VII der BV Potsdam: Einschätzung der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit sowie des POZW mit dem Organ Strafvollzug und der AR I/4 der Kriminalpolizei zur Zurückdrängung von Ersuchen Strafgefangener auf Übersiedlung vom 5.12.1985; BArch, MfS, BV Potsdam, Abt. VII 747, Bd. 2, Bl. 83-87.

[51]       Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz vom 12.1.1968, hrsg. von der Verwaltung Strafvollzug des MdI; BArch, MfS, MfS-BdL/Dok. Nr. 010068, Bl. 10–14; Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz vom 12.1.1968 in der Fassung vom 19.12.1974, hrsg. von der Publikationsabteilung des MdI, S. 16.

[52]       Zitiert nach Finn, Gerhard; Fricke, Karl Wilhelm: Politischer Strafvollzug in der DDR, Köln 1981, S. 24.

[53]       So strich Honecker einen Absatz, der Ausnahmen bei der Haftunterbrechung für Schwangere gestattet hätte, die erst 1974 eingeführt worden war. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers, Köln 2000, S. 119.

[54]       Diskussionsbeitrag Gen. Rothe/Rechtsstelle [des Ministeriums für Staatssicherheit] auf Dienstkonferenz 28.4.1977; BArch, MfS, ZAIG 13698, Bl. 1–22.

[55]       [Arbeitsmaterialien zur] 37. Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 8.7.1977; BArch, MfS, HA VII/8 ZMA 272/79, Bl. 1–17.

[56]       [Hauptabteilung IX]: Einführung in die neuen gesetzlichen Bestimmungen o.D. [1977]; BArch, MfS, ZAIG 13698, Bl. 58–124.

[57]       Windmüller, Joachim: Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren… - „Asoziale“ in der DDR, Frankfurt a.M. 2006, S. 435, 443.

[58]       [Protokoll der] Dienstbesprechung mit dem Leiter VSV vom 13.3.1986; BArch, MfS, Abt. XIV 1748, Bl. 20-25.

[59]       Weinke, Annette; Hacke, Gerald: U-Haft am Elbhang. Die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Dresden 1945 bis 1989/90, Dresden 2004, S. 83.

[60]       Sauer, Heiner; Plumeyer, Hans-Otto: Der Salzgitterreport. Die zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat, München 1991; Fröhlich, Claudia: Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter und die Stasi – Strafrechtliche Ermittlungen und Ermittler von DDR-Unrecht als Objekte des MfS. In: Enquetekommission „Verrat an der Freiheit - Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten“: Stasi in Niedersachsen, Göttingen 2017, S. 73-85.