Willy Brandt, Egon Bahr und der russische Angriff auf die Ukraine

von Stefan Müller

Seit letztem Jahr wird wieder über die Entspannungspolitik Willy Brandts gestritten, insbesondere, ob es eine Kontinuität über die deutsche Russlandpolitik nach dem Epochenbruch 1989/91 bis hin zur „Zeitenwende“ im Februar 2022 gibt. Eine solche Tradition wird in diesem Beitrag verneint, denn die politischen Rahmenbedingungen und die Ziele haben sich geändert. Aber auch die Grundannahmen, auf denen „Wandel durch Annäherung“ und „Annäherung durch Verflechtung“ beruhen, sind unterschiedlich. Nicht alle halten der Realität stand. Und schließlich markiert die sicherheitspolitische Komponente einen entscheidenden Unterschied: in der alten Ostpolitik grundlegend, wurde sie in der Russlandpolitik ab 1990 sträflich vernachlässigt.

Seit Kriegsbeginn wird über Geschichte gestritten. Wladimir Putin rechtfertigt den russischen Angriff auf die Ukraine mit Geschichte, aber auch in Deutschland spielt Geschichte eine große Rolle, wenn es um die Ursachen des Krieges geht. An die deutsche Politik und insbesondere die Sozialdemokratie richtet sich die Kritik, die autoritäre Entwicklung in Russland zu lange nicht wahrgenommen zu haben. An die Sozialdemokratie ist zudem der Vorwurf gerichtet, Dialog und wirtschaftliche Kooperation mit Russland seien die Fortsetzung der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts. Und weiter: Bereits in der historischen Entspannungspolitik hätten Menschenrechte zugunsten von Sicherheitsbelangen hintenan gestanden. Aber nicht nur die Kritiker:innen ziehen diese Traditionslinie, sondern auch viele derjenigen, die aktuell ein Mehr an Diplomatie fordern und die Fokussierung auf Waffenlieferungen bemängeln, beziehen sich positiv auf Willy Brandt und Egon Bahr. Sowohl Kritik als auch Rechtfertigung übersehen dabei mindestens zwei fundamentale Unterschiede zwischen der deutschen (und sozialdemokratischen) Russlandpolitik seit 1991 und der Ostpolitik Brandts und Bahrs vor dem Zusammenbruch der Staatssozialismen.

Erstens: Die sozialdemokratische Ostpolitik vor 1989 war eingebettet in ein Gefüge atomarer Bedrohung und globaler Entspannung. Eine Bedingung der Brandt‘schen und Bahr’schen Politik war das parallel vorhandene Potenzial globaler Vernichtung. Gleichzeitig waren beide Supermächte über lange Zeit von dem Wunsch nach Abrüstung getragen, um ihre Rüstungsausgaben in den Griff zu bekommen. Entspannung und atomare Drohung waren zwei Seiten derselben Medaille und in diesem Spannungsfeld gelang es den sozialdemokratischen Entspannungspolitikern, eigene Interessen zu platzieren.

Damit wären wir beim zweiten Punkt: Im Zentrum der sozialdemokratischen Entspannungspolitik stand Deutschland. Es ging um Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands und in einer langen Perspektive um einen alternativen Weg zur deutschen Einheit. Ohne Zweifel setzte sich die Sozialdemokratie für eine europäische Friedensordnung ein. Dabei zielte die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt vor allem auf die DDR und West-Berlin.

Strategie des Friedens und Wandel durch Annäherung

Egon Bahr und Willy Brandt knüpften an die von US-Präsident John F. Kennedy entwickelte „Strategie des Friedens“ an. Im Sommer 1963 hatte Kennedy das Ziel von Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR formuliert und von einer friedlichen Koexistenz der Systeme gesprochen. Die USA und die UdSSR müssten sich nicht lieben, so Kennedy in seiner Rede an der American University in Washington am 10. Juni 1963. Es sei lediglich erforderlich, tolerant zusammenzuleben „und Streitpunkte auf gerechte und friedliche Weise beizulegen“. Beide Parteien hätten, so Kennedy weiter, „ein tiefes, auf Gegenseitigkeit beruhendes Interesse daran, dass ein gerechter und ehrlicher Frieden herrscht und dem Wettrüsten Einhalt geboten wird“.

Die Neuorientierung US-amerikanischer Außenpolitik folgte auf zwei Krisen, welche die Welt an den Rand des Abgrunds gebracht hatten: Der Mauerbau in Berlin 1961 und insbesondere die Kubakrise 1962. Warb die UdSSR bereits seit den 1950er Jahren für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, so wuchs nun auch in den USA angesichts dessen, dass bei einem Krieg die vollständige eigene Vernichtung oder zumindest immense Verluste gedroht hätten, die Einsicht in notwendige Abrüstungsschritte. Dahinter standen natürlich in Anbetracht hoher Kosten ökonomische Motive. Die atomare Hochrüstung der 1950er Jahre war ursprünglich dazu gedacht, die wirtschaftlichen Belastungen durch riesige konventionelle Armeen zu reduzieren. Nun war die atomare Rüstung selbst zur Belastung geworden.

Einen Monat nach der Rede Kennedys, am 15. Juli 1963, stellte Egon Bahr das Konzept „Wandel durch Annäherung“ bei einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing vor. Bahr nahm ausdrücklich Bezug auf Kennedy, stellte aber die Teilung Deutschlands ins Zentrum seiner Überlegungen. Er kritisierte die Alles-oder-Nichts-Politik der Regierung Adenauers, wie er es nannte, welche die Demokratisierung der DDR als Voraussetzung für gemeinsame deutsch-deutsche Gespräche forderte. Der 17. Juni 1953, die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 und schließlich auch der Mauerbau ließen Bahr und Brandt zu dem Schluss kommen, dass ein Sturz des SED-Regimes aus dem Inneren nicht möglich sei. Die Erfahrung zeigte, so Bahr, dass jeder Druck von innen und außen das stalinistische System der DDR stabilisiere. Bahr hingegen ging es um „den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, daß sich hierdurch nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischen Interesse zwangsläufig auslösen würde“. Die kommunistische Herrschaft sollte nun nicht mehr mit einem Ruck beseitigt, sondern verändert werden. Ein Nahziel sah Bahr unter anderem in der „Auflockerung der Grenzen“.

Wandel – Handel – Annäherung

„Wandel durch Annäherung“ bedeutete also, dass der „Westen“ glaubhaft auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Staaten verzichtete (auf einen militärischen Konflikt sowieso). Die Annäherungspolitik richtete sich an die kommunistischen Eliten: Ihnen sollte hierdurch Raum für vorsichtige innergesellschaftliche Reformen eröffnet werden. Das Ziel dieser Politik der „Annäherung“ war also der „Wandel“ im kommunistischen Machtbereich – mit dem Ziel, den Menschen das Leben zu erleichtern. Wenn man den Status quo, also die deutsche Teilung, ändern wolle, so die Schlussfolgerung Egon Bahrs, müsse man ihn zunächst als Grundlage der eigenen Politik anerkennen. Erste Erfolge zeitigte diese Politik mit dem Passierscheinabkommen bereits Jahre vor dem Regierungswechsel: Zu Weihnachten 1963 konnten erstmals seit dem Mauerbau West-Berliner Bürger:innen ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen. Willy Brandt war seinerzeit Regierender Bürgermeister von Berlin und Egon Bahr Leiter des West-Berliner Presseamtes.

„Wandel durch Handel“, also die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Ost und West, nahm eine zentrale Rolle in diesen Überlegungen ein. Ökonomische Beziehungen sollten zu gesellschaftlichen Verflechtungen führen und ein höherer Lebensstandard in der DDR Druck vom Regime nehmen. Gewaltverzicht, Nichteinmischung und Wirtschaftsbeziehungen ergänzten sich in diesem Konzept. Egon Bahr argumentierte, dass „soviel Handel mit den Ostblockländern entwickelt werden sollte, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden“. Mit dieser Prämisse, die eigene Sicherheit nicht zu gefährden, knüpfte Egon Bar ausdrücklich an Kennedy an.

Der ökonomische Teil des Konzepts „Wandel durch Annäherung“ verfolgte eine politische Logik und hatte in den 1960er Jahren kaum etwas mit westdeutschen Wirtschaftsinteressen zu tun. Diese gab es zwar, insbesondere im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, allerdings hatten sie keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) öffnete sich erst Ende der 1960er Jahre für Geschäfte mit der Sowjetunion, was aber nicht gleichbedeutend mit Sympathien für die sozial-liberale Regierung war. Einen Meilenstein stellte das Erdgasröhrengeschäft von 1970 dar. Die Bundesrepublik lieferte Großröhren an die UdSSR und die UdSSR dafür Erdgas an die Bundesrepublik. Beim deutsch-sowjetischen Handel der 1970er Jahre ging es um Kompensationsgeschäfte: Der Handel war ausgeglichen; der Export stand ökonomisch und teils auch technologisch im engen Zusammenhang mit dem Import. In den 1980er Jahren stieg der Gasimport aus der Sowjetunion zwar deutlich an, aber alles in allem spielte das UdSSR-Geschäft nur eine geringe Rolle für den westdeutschen Außenhandel.

Neben den schwachen ökonomischen Motiven der Ostwirtschaftspolitik war eine Grundlage der Annäherungspolitik der 1960er und 1970er Jahre – und dies wird in der aktuellen Debatte häufig ausgeblendet – das Bekenntnis Brandts und Bahrs zur NATO und zur europäischen Integration. Der Militäretat Westdeutschlands lag damals weit über dem heute von der NATO geforderten Zwei-Prozent-Ziel. Weder der Osten noch der Westen sollten Zweifel haben, auf welcher Seite die Bundesrepublik stand.

Sozialdemokratische „Nebenaußenpolitik“ in den 1980er Jahren

Die 1970er Jahre waren davon geprägt, die entspannungspolitische Konzeption mit Leben zu füllen. Mit den Verträgen von Moskau und Warschau (1970), dem Viermächteabkommen über Berlin (1971), dem Grundlagenvertrag mit der DDR (1972) sowie schließlich dem Prager Vertrag (1973) erkannte die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens an, akzeptierte die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, verzichtete für alle Zukunft auf Gebietsansprüche im Osten und erklärte das Münchner Abkommen von 1938 für nichtig. Im Gegenzug wurde es für westdeutsche Bürger:innen und für West-Berliner:innen einfacher, in die DDR zu reisen; DDR-Bürger:innen konnten, wenn auch in deutlich geringerem Maß, ihrerseits Westbesuche absolvieren; sogenannten Spätaussiedler:innen aus Polen wurde die Ausreise nach Westdeutschland gestattet; insgesamt entwickelte sich ein intensiver West-Ost-Begegnungsdialog.

Mit dem Regierungswechsel 1982 musste sich die SPD jedoch neu orientieren. Die Regierung Helmut Kohl setzte zwar die Politik der Entspannung und des Dialogs trotz manch schärferer Töne fort, aber dies war nicht von Beginn an klar. Um die Entspannungspolitik abzusichern, nahm die SPD eigenständige Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Osteuropas auf. Von konservativer Seite wurde dieses Engagement als „Nebenaußenpolitik“ kritisiert. Besonders intensiv gestalteten sich die Gespräche mit der SED, die 1987 in das gemeinsame Grundsatzpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ mündeten. Beide Seiten bekannten sich in dem Papier zur friedlichen Koexistenz und zum friedlichen Wettbewerb der Systeme. Der Widerspruch zwischen den Gesellschaftssystemen wurde keinesfalls verneint, die Konfliktaustragung sollte aber im Kontext einer integrativen Sicherheitsarchitektur erfolgen.

Die hinter dem Konzept des „Wandels durch Annäherung“ stehenden Überlegungen wurden fortgeschrieben, allerdings stand immer weniger die Deutschlandpolitik im Fokus, sondern viel mehr die internationale Friedenspolitik. Der „Deal“ lautete nun nicht mehr, Nichteinmischung des Westens gegen vorsichtige Liberalisierung im Osten zu tauschen, sondern Nichteinmischung gegen Friedenssicherung. Auf deutsch-deutscher Ebene lag dies nicht zuletzt daran, dass die Beziehungen ein hohes Maß an Stabilität erreicht hatten und im Vergleich zu den 1960er Jahren erhebliche menschliche Erleichterungen umgesetzt worden waren. Die Beziehungen waren dermaßen stabil, dass diese sogar weitgehend von der erneuten Phase der Hochrüstung in den 1980er Jahren unberührt blieben. Beide deutsche Staaten sahen sich gar potenziell als die ersten Opfer eines Atomkrieges, so dass Erich Honecker 1983 Bundeskanzler Kohl eine „Koalition der Vernunft“ anbot (auf die dieser drei Jahre später einging). In der SPD verengte sich zu dieser Zeit die Entspannungspolitik zunehmend auf Sicherheitspolitik (vgl. Egon Bahr: Sozialdemokratische Sicherheitspolitik, in: Die Neue Gesellschaft, 02/1983). Im Ergebnis scheute die SPD den Kontakt zu oppositionellen Bewegungen im kommunistischen Machtbereich wie der Charta 77 (ČSSR), der Solidarność (Polen) oder der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR. Stattdessen fokussierte die sozialdemokratische „Nebenaußenpolitik“ nach dem Regierungswechsel 1982 weiterhin auf die kommunistischen Eliten und Staatsspitzen – auch wenn es hier Ausnahmen gab wie beispielsweise die Übernahme von 250 Patenschaften von inhaftierten Solidarność-Mitgliedern durch die nordrheinwestfälische SPD.

Russlandpolitik seit 1991

Die deutsche Russlandpolitik seit 1991 unterscheidet sich von der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts. Nicht nur die geopolitischen Rahmenbedingungen haben sich geändert, sondern auch die deutsche Ostpolitik. Ab den 1990er Jahren wurde Russland nicht mehr wie zuvor die Sowjetunion als weltpolitischer Gegner wahrgenommen, sondern als ein kapitalistischer Staat, der allerdings in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht noch Nachholbedarf hatte. Nach der „Stabilisierung“ des politischen Systems in Russland in den 2000er Jahren unter Putin (die sich im Kern durch eine zunehmend autoritäre Politik auszeichnete) wurde im Auswärtigen Amt das Konzept der „Annäherung durch Verflechtung“ entwickelt. Das Erfolgsmodell der Europäischen Union mit seiner Verflechtung und allmählichen Harmonisierung von Interessen, so das Konzept, sollte auch gegenüber Russland verankert werden. Die Attraktivität der EU sollte die Nachbarn animieren, Normen und Lebensstandards an die der EU anzunähern. Das Konzept „Annäherung durch Verflechtung“ weist zwar semantisch eine Nähe zur historischen Ostpolitik auf und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte es auch in diese Tradition. „Wandel durch Annäherung“ zielte aber trotz seiner Prämisse, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der UdSSR und der sozialistischen Staaten einzumischen, unmittelbar auf deren gesellschaftlichen Wandel. Dies war in der deutschen Russlandpolitik seit den 2000er Jahren und über die verschiedenen Regierungen hinweg nicht mehr der Fall. Zwar war noch davon die Rede, dass Russland den Wandel zu einem demokratischen Rechtsstaat vollziehen solle; dem lag aber lediglich eine generelle modernisierungstheoretische Annahme zugrunde. Dass die Modernisierung der Ökonomie nur durch Demokratie und eine lebendige Zivilgesellschaft erfolgen könne, wurde quasi als Automatismus vorausgesetzt. Unberücksichtigt blieb dabei insbesondere die Frage, ob die gesellschaftlichen Eliten Russlands tatsächlich ein umfassendes Interesse an der Modernisierung ihrer Ökonomie haben oder ob es ihnen nicht ausreicht, die immensen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft in ihre privaten Taschen fließen zu lassen.

Fazit

Die historische Ostpolitik wird in der aktuellen Debatte zu Unrecht in eine historische Linie mit der deutschen Russlandpolitik der vergangenen 30 Jahre gestellt. Die historische Entspannungspolitik zielte auf die Verbesserungen in den deutsch-deutschen Beziehungen (mit dem langfristigen Ziel der deutschen Einheit) und war in diesem Sinne Menschenrechtspolitik. Willy Brandt, Egon Bahr und viele andere wussten um die Interdependenz von Dialog, den sie suchten, und der dahinterstehenden atomaren Drohung, derer sie sich durch die Politik der Westintegration versicherten. Auch wenn dieses konzeptionelle Denken in den 1980er Jahren etwas erstarrte und der Stabilitätsgedanke Oberhand gewann, so geschah dies im Rahmen einer 1945 entstandenen Grundkonstellation zweier sich gegenüber stehender feindlicher Blöcke mit völlig unterschiedlichen politisch-ökonomischen Systemen. Diese Konstellation war nach 1989/1991 nicht mehr gegeben. Das Ziel der historischen Entspannungspolitik, einen Wandel beim Gegner herbeizuführen, wurde damit nach 1991 aufgeben.

Auch die Idee eines Wandels durch Handel in den Beziehungen zum Ostblock unterscheidet sich von den Wirtschaftsbeziehungen mit Russland nach 1991. Die Sowjetunion hatte ein ausdrückliches Interesse an der Modernisierung ihrer Wirtschaft und war in diesem Sinne auf den Handel mit dem Westen angewiesen. Ein wichtiges Ziel dieser Modernisierung war, den Lebensstandard der breiten Bevölkerung zu heben, um so die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus unter Beweis zu stellen. Heute hingegen ist die russische Ökonomie eine Extraktionswirtschaft: Der Handel mit Erdöl und Erdgas dient der Bereicherung einer gesellschaftlichen Elite. Die Gewinne werden privatisiert und der Handel mit Rohstoffen ist nicht verknüpft mit kulturellem, wissenschaftlichem oder technologischem Austausch.

Die seit den 1990er Jahren vorherrschende Gleichsetzung von kapitalistischer Modernisierung und Demokratie führte schließlich dazu, Sicherheitsaspekte außen vor zu lassen. Während in der historischen Ostpolitik der Handel mit den Staatswirtschaftsländern dort seine Grenze fand, wo Sicherheitsfragen berührt wurden, stellt sich dies heute anders dar. Sicherheitsfragen bezogen sich vornehmlich auf die nach einer kontinuierlichen Energieversorgung. Es wurde dabei jedoch nicht die Frage gestellt, ob Russland selbst einmal die Energiesicherheit gefährden könne.

 

Dr. Stefan Müller ist Historiker. Er leitet das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und lehrt als Privatdozent Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen