"Taugt die Entspannungspolitik heute noch? – Nein, Russland muss verlieren lernen!"

Roderich Kiesewetter

Wer heute nach einer neuen Entspannungspolitik ruft, nach einem „Interessenausgleich“ mit Russland, einem „Waffenstillstand jetzt“, der verkennt, dass es genau diese Form von Entspannungspolitik war, die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und Europa befördert hat. Die Selbsttäuschung Deutschlands mit dem Narrativ Wandel durch Handel, mit dem man sich überzeugte, das selbstgewählte Abhängigkeitssystem Deutschlands aus billiger Sicherheit durch die USA, billigen Wertschöpfungsketten mit China und vor allem mit billigem Gas aus Russland, sei besonders intelligent, war ein wichtiger Faktor, der Russlands Krieg gegen die Ukraine ermöglichte. Wandel durch Handel hat nicht Russland gewandelt, sondern uns. Es hat uns schwächer gemacht, den Blick verstellt auf die Bedeutung unserer Werte wie Freiheit und Demokratie, uns vulnerabel gemacht und es hat Russland in seiner Entwicklung zu einem Terror- und Gewaltstaat nicht gestoppt. Unsere Entspannungspolitik war es, mit der wir dieser Veränderung „entspannt“ zusahen, anstatt mit Stärke und Konsequenz für Demokratie in Europa einzutreten.

Entspannung führt zu Inkonsequenz und Schwäche

Deutsche Entspannungspolitik gegenüber Russland steht symbolisch für Fehler der regelbasierten, demokratischen Staaten. Diese Fehler lagen in fehlender Stärke und Konsequenz gegenüber Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbruch. Russlands völkerrechtswidriges Vorgehen in Tschetschenien, in Syrien, die Cyberangriffe auf Estland 2007, der Krieg in Georgien 2008, blieben ohne klares geschlossenes Zeichen wie wirksame Sanktionen, Strafmaßnahmen oder die Unterstützung angegriffener Staaten. Der Bruch des Budapester Memorandums durch den Angriff auf die Ostukraine 2014 und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, blieben ohne Konsequenz. Russland hatte der Ukraine für die Abgabe der Nuklearwaffen vertraglich im Budapester Memorandum geregelte Sicherheitsgarantien gegeben, die Sicherheit der Grenzen von 1991 zugesagt, Souveränität der Ukraine und territoriale Unversehrtheit garantiert. Der Bruch dieses Vertrags, er blieb, bis auf softe Sanktionen, nahezu folgenlos.

Das lag auch daran, dass man Putin immer wieder auf den Leim ging. Aus Angst, Putin zu weiteren Eskalationen zu provozieren, hat man der Ukraine und Georgien 2008 einen Membership Actionplan für einen künftigen NATO-Beitritt verwehrt. William Burns hatte 2008 als damalige US-Botschafter in Moskau gewarnt, ein NATO-Beitritt der Ukraine würde „einem russischen Eingreifen auf der Krim und in der Ost-Ukraine einen fruchtbaren Boden bereiten"[2]. Es ist diese Beschwichtigung, diese Selbstabschreckung, die Russland ermunterte 2014 und 2022 die Ukraine genau deshalb anzugreifen, weil sie kein NATO-Mitglied war und auch keine nennenswerte Perspektive mit einem MAP hatte.

Auf militärischen Angriff und Drohung, also Hard Power durch Russland, hat man ausschließlich mit Soft Power und Beschwichtigung reagiert. Unsere deutsche Antwort auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und 14.000 Tote in der Ostukraine war Nord Stream 2. Russland wurde also für das Vorgehen mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit belohnt, die Rechte und Sicherheitssorgen der Ukraine wie weiterer mittel- und osteuropäischer Staaten faktisch ausgeblendet.

Es ist dieselbe Selbstabschreckung, die in Deutschland auch nach über 500 Tagen eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs die Diskussion bestimmt. Nach 14 Millionen Flüchtlingen und zehntausenden Toten drehen wie uns weiter immer noch im Kreis, wir machen die gleichen Fehler immer und immer wieder. Bei jedem Waffensystem, das neu im Gespräch ist, kommt von Deutschland: Nein, das liefern wir nicht, denn das könnte Putin provozieren. Bei jedem Schritt, der Ukraine eine Perspektive in NATO und EU zu geben, kommt aus Deutschland sinngemäß: Oh mein Gott, was sagt Putin dazu? Die Ukraine wurde überfallen, weil sie nicht Mitglied der NATO war, weil sie nicht Mitglied der EU war, weil sie keine militärische Abschreckung hatte. Unser Appeasement, unsere Beschwichtigung, unser Zögern hat mit dazu beigetragen, dass für Russland dieser Angriff möglich war.

Der NATO-Summit in Vilnius war deshalb eine große Enttäuschung, denn es war eine verpasste Chance für die europäische Sicherheit, Putin sehr klar deutlich zu machen, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nach dem Krieg unverhandelbar und unzweifelhaft ist. Es wurde die Chance verpasst, ein klares Signal der Stärke und Konsequenz an Russland zu senden. Die einzige Sprache die Autokratien wie Russland verstehen.

Die europäische Sicherheitsarchitektur braucht Sicherheit vor Russland

Der Krieg tobt mitten in Europa, Russland führt nicht nur einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mit hunderttausenden Toten und Verwundeten, mit Folter, Vergewaltigung und Kindesentführung. Russland führt einen hybriden Krieg gegen die gesamte regelbasierte Ordnung: Desinformation, Hunger, Flucht und Vertreibung, Sabotage kritischer Infrastruktur, werden als Mittel eines hybriden Kriegs durch Russland verwendet. Lange Zeit wird Europa deshalb nicht entspannt, sondern angespannt sein. Die europäische Sicherheitsarchitektur braucht mittelfristig vor allem Sicherheit vor Russland, nicht mit Russland. Die hybriden Angriffe auf Europa werden auch nicht einfach aufhören, sollte die Ukraine gewinnen und den russischen Aggressor vollständig aus dem Land drängen und die Grenzen von 1991 wiederhergestellt sein. Cyberangriffe, nukleare Erpressung, Staatsterrorismus, Mord und Unruhen in Afrika durch die Gruppe Wagner und andere, Desinformation und Spaltung, also alles, was das Vorgehen autokratischer Terrorstaaten kennzeichnet, es würde weitergehen, auch wenn Russland militärisch geschwächt und unter hoher Verluste und wirtschaftlicher Schäden militärisch verliert. Putin wäre sicher nicht mehr Präsident, wenn die Krim befreit wird. Sein System aber würde voraussichtlich bestehen bleiben. Die künftige europäische Sicherheitsarchitektur muss dies berücksichtigen.

Für einen gerechten und nachhaltigen Frieden in Europa reicht es deshalb nicht mehr, dass die Ukraine gewinnt. Unsere verfehlte Entspannungspolitik hat dazu geführt, dass es nicht mehr reicht, dass die Ukraine gewinnt, sondern Russland muss auch verlieren[3] lernen, d.h. seine kolonialen und imperialen Ambitionen aufgeben und das uneingeschränkte Existenzrecht wie die Souveränität seiner Nachbarn umfassend akzeptieren.

Putin-Russland ist nicht die Sowjetunion

Die Welt verändert sich. Putin hat Russland in den letzten 20 Jahren verändert. Laut des unabhängiges Meinungsforschungsinstituts Lewada stimmten im März 2023 70-75 Prozent[4] der russischen Bevölkerung dem Krieg zu, unterstützen Putins Vorgehen. Es ist nicht Putins Krieg, sondern Russlands Krieg. Russland sieht Krieg nicht als Versagen von Politik, sondern als Machterhalt und legitime Form der Politik. Putin hat Angst vor Demokratie-Bewegungen, wie sie im Rahmen des Euromaidan in der Ukraine zum Ausdruck kamen. In seinen Aufsätzen im Juni 2020 zum 75. Jahrestags des Großen Sieges und im Juli 2021 wurde das russische Denken in Einflusszonen sichtbar. Russland hat sich unter Putin zu einem Terrorstaat entwickelt, einem Staat geprägt von Imperialem und kolonialen Denken, der die Vernichtung eines Nachbarstaates anstrebt und ein Großreich erschaffen will. Dabei ist ein faschistischer Staat mit totalitären Zügen entstanden,[5] der die Bevölkerung durch den Geheimdienst überwacht und auf Gewalt basiert, die vom Staat über die Familien bis in die Kinderzimmer reicht.

Die Mehrheit der russischen Bevölkerung unterstützt den Krieg und hat selbst einen überwiegend imperialen, kolonialistischen Blick auf die Nachbarländer.[6] Russland ist auf einen langen Krieg vorbereitet. Putin hat die russische Gesellschaft in den letzten 10-15 Jahren systematisch und gezielt militarisiert.[7] Putin hat vormilitärische Ausbildung[8] massiv ausgeweitet, Medien wurden gleichgeschaltet und für die etwaige Zivilbevölkerung drakonische Strafen eingeführt, Geschichtsbücher wurden geändert und ein imperiales Denken in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es gibt keine organisierte Opposition in Russland mehr. Oppositionelle wurden ermordet[9], sind inhaftiert oder leben im Exil.

Entspannung bringt keinen Frieden

Wir alle wollen Frieden, ganz Europa will Frieden, v.a. will ich für die Ukraine Frieden. Aber einen Frieden in Freiheit, einen gerechten Frieden, einen nachhaltigen Frieden. Wir haben 2014 gesehen, was folgt, wenn wir einen Krieg einfrieren und gegenüber Russland entspannen: Georgien wie auch die Ukraine 2014 waren frozen conflicts. In von Russland besetzten Gebieten passierten dann weiter Mord, Folter, Vergewaltigung, Kindesentführung. All das passiert, wenn man den Krieg heute einfriert – dann kann Russland sich eingraben, Kriegsverbrechen vertuschen und dann neu sortiert und neu gestärkt angreifen. Ein Frieden ist dann möglich, wenn Russland als Gesellschaft verlieren lernt. Die brutalisierte, ideologisierte und militarisierte Gesellschaft muss begreifen, dass Russland verloren hat und das der Weg des Imperialismus, der Einflusszonen, der Unfreiheit und Gewalt falsch ist, wie die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas richtig formuliert: „I think that the war will end when the Russians realize that it was a mistake“[10].

Russland hat keine berechtigten Interessen, sondern will die Ukraine vernichten. Da kann es keinen Ausgleich von Interessen geben, keine Entspannung. Denn die Lehren aus 2014 und Minsk I/II zeigen: Ein Kompromiss, eine Entspannung mit Russland bedeutet lediglich, dass es einige Jahre später umso intensiver erneut angreift. Jedes Entgegenkommen versteht Russland als Einladung, nach der Ukraine, in Moldau, in Polen oder dem Baltikum weiterzumachen. Deswegen ist es im sicherheitspolitischen Eigeninteresse klug, Russland jetzt militärisch unschädlich zu machen, um den Anstoß zum Verlieren lernen zu geben.

Verlieren lernen ist für die Stabilität Europas wichtig. Dazu gehören eigene Forderungen der europäischen Sicherheitsarchitektur an Russland zu stellen: Abzug russischer Truppen aus Transistrien, Abzug aus Georgien, Abzug der Nuklearwaffen aus Kaliningrad, Demilitarisierung und weitgehende Selbstständigkeit von Königsberg, Stopp hybrider Kriegsführung in Europa, Ende der Destabilisierung des Balkans, militärische Abrüstung Russlands und Verifikationsmaßnahmen, Abzug russischer Nuklearsprengköpfe aus Syrien…

Verlieren lernen ist mit Blick auf China wichtig, das Europa als Testfeld für ein mögliches militärisches Vorgehen gegen Taiwan sieht. Verlieren lernen ist für die russische Bevölkerung wichtig. Es würde ein Ende von Militarisierung, Terror und Gewaltherrschaft und für viele Frauen[11] Freiheit,  Sicherheit und das Ende von Gewalt in den Familien bedeuten.

Verlieren lernen ist wichtig, damit ein nachhaltiger und gerechter Frieden für Ukraine und Europa möglich ist.

Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit

Das Konzept Frieden gegen Land funktioniert nicht. Ein gerechter Frieden bedeutet den vollständigen Abzug Russlands aus der Ukraine und die Wiederherstellung der Grenzen von 1991. Dazu bedarf es zwingend der Aufklärung sämtlicher Kriegsverbrechen und die Verfolgung im Rahmen eines internationalen Kriegsverbrechertribunals. Russland muss Reparationen leisten und die regelbasierten Staaten müssen Sicherheitsgarantien leisten, bis die Ukraine möglichst rasch in die NATO aufgenommen werden wird.

Nachhaltig wird der Frieden, wenn Russland so militärisch geschwächt wird, dass keine Gefahr für Nachbarländer ausgeht. Militärisch vor allem aber durch eine Veränderung der russischen Gesellschaft. Ein regime change von innen reicht allein nicht aus, es muss auch ein gesellschaftlicher Lernprozess einsetzen. Die russische Gesellschaft muss Freiheit wollen, Demokratie wollen und selbst Gerechtigkeit verlangen für die Verbrechen Russlands gegen die Ukraine, die sie nicht verhindert hat. Denn in einem offenen Systemkonflikt, wie wir ihn erleben, ist Neutralität oder Gleichgültigkeit keine Option. Wer schweigt, verhindern einen Völkermord nicht. Wer schweigt, macht mit. Im Systemkonflikt bedarf einer klaren Haltung: Für Frieden in Freiheit. Entspannung kann es erst dann wieder geben, wenn die Ukraine Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit erkämpft hat, wenn sie für die Freiheit Europas siegt. Dabei kämpft sie für uns, für unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Werte und bringt dabei als einziges Land unfassbare Opfer. Unsere Aufgabe ist es deshalb nicht, nach Entspannung mit Russland zu rufen, sondern für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, die Ukraine endlich mit allem zu unterstützen, was wir selbst verwenden würden, all in für Freiheit! Slava Ukraïni!


Roderich Kiesewetter ist ein deutscher Politiker (CDU) und Oberst a. D. der Bundeswehr und seit 2009 direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages.

[2] www.dw.com/de/ukraine-ewig-im-wartesaal-der-nato/a-60727097

[3] www.theatlantic.com/ideas/archive/2023/05/ukraine-victory-russia-defeat/674112/

[4] www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-russland-putin-umfrage-zustimmung-regime-bevoelkerung-verkommen-und-unterwuerfig-92130532.html

[5]     www.swp-berlin.org/publikation/russland-auf-dem-weg-in-die-diktatur

[6] www.zdf.de/nachrichten/politik/kreml-opposition-kolonialismus-ukraine-krieg-russland-100.html

[7] www.deutschlandfunk.de/2015-in-russland-die-militarisierung-der-gesellschaft-100.html

[8] www.zdf.de/nachrichten/politik/junarmija-kinder-armee-ukraine-krieg-russland-100.html

[9] www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/putin-moskau-nemzow

[10] www.washingtonpost.com/opinions/2023/06/26/estonia-prime-minister-ukraine-war-nato/

[11] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/gewalt-in-russland-aljona-popowa-ueber-krieg-und-haeusliche-gewalt-18581594.html