Treiber oder Bremser? Wie Medien auf die Politik einwirken

von Peter Pragal

Die Entspannungspolitik der 1970er Jahre ermöglichte einen Austausch von Journalisten zwischen beiden deutschen Staaten. Die Berichterstattung westdeutscher Korrespondenten wirkte in die DDR zurück, bis diese sich 1989/90 in die Geschichtsbücher verabschiedete.

Am 10. Januar 1974, vor bald 50 Jahren, habe ich im Außenministerium der DDR meinen Presseausweis als akkreditierter Korrespondent der Süddeutschen Zeitung erhalten. Damit gehörte ich zu der kleinen Gruppe von bundesdeutschen Journalisten und Journalistinnen, die fortan mit Wohnsitz in Ost-Berlin ihre Arbeit ausüben durften. Ermöglicht wurde dies durch eine Zusatzvereinbarung zum Grundlagenvertrag, den die beiden deutschen Staaten im Zuge der Ost-West-Entspannung am 21. Dezember 1972 zur Regelung ihrer Beziehungen geschlossen hatten. In dieser zusätzlichen Abmachung in Form eines Briefwechsels wurde völkerrechtlich verbindlich beiden deutschen Staaten die Möglichkeit eingeräumt, wechselseitig Korrespondenten ins andere Land zu entsenden.

Begrenztes Zugeständnis: West-Korrespondenten in der DDR

Der SED-Führung war durchaus bewusst, welches Risiko sie mit dem Zugeständnis an die seit 1969 amtierende sozial-liberale Bundesregierung eingegangen war, westdeutschen Journalisten Informationsmöglichkeiten vor Ort einzuräumen. Bestand doch die Gefahr, dass diese Medienvertreter als vermeintliche „Agenten des Klassenfeindes“ Vorgänge und Ereignisse aufdeckten und beschrieben, die nicht bekannt werden sollten und deshalb für die von der SED und dem Staat gelenkten DDR-Medien tabu waren.

Gleichzeitig war der SED-Spitze auch klar, dass ihr politischer Spielraum eng war. Ihr Zugeständnis bei der Korrespondenten-Zulassung zählte zum Preis für die staatliche Anerkennung der DDR und die Möglichkeit, auch mit westlichen Ländern diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Hinzu kam, dass sich die DDR nicht gegen die Interessen der sowjetischen Führungsmacht stellen wollte, die Anfang der 70er-Jahre ihre Ost-West-Politik auf Entspannung ausrichtete. Warnungen aus Moskau gab es. Die frühere DDR-Diplomatin Ingrid Muth hat in einem Buch über die DDR-Außenpolitik von 1949 bis 1972 den Satz von Leonid Breschnew an SED-Chef Honecker zitiert: „Erich, ich sage dir offen, vergiss das nie: Die DDR kann ohne uns nicht existieren.“

Um die Gefahr missliebiger Berichterstattung zu begrenzen, akkreditierte die DDR-Regierung anfangs bevorzugt Vertreter von Medien und Verlagen, von denen sie annahm, dass sie die Entspannungs-Politik unterstützen oder zumindest neutral berichten würden. Dazu zählten neben der Nachrichtenagentur dpa, der SPD-Wochenzeitung Vorwärts und dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel auch die Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung, Westfälische Rundschau und Frankfurter Rundschau - später auch das Magazin Stern sowie das ZDF, das ARD-Fernsehen sowie der ARD-Hörfunk. In größerem zeitlichen Abstand folgten Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und einige Regionalblätter.

Um Sanktionsmöglichkeiten gegen unbequeme Korrespondenten in die Hand zu bekommen, hatte die DDR in der deutsch-deutschen Vereinbarung eine Vorbehaltsklausel durchgesetzt, die ihr eine Grundlage gab, die Korrespondenten an die Leine zu nehmen. Möglich wurde dies durch eine Formulierung, wonach die Vertragsparteien die vereinbarten Arbeitsbedingungen für Korrespondenten „im Rahmen ihrer geltenden Rechtsordnung“ genehmigten. Noch bevor die ersten West-Journalisten ihre Arbeit aufnehmen konnten, nutzte die DDR diese Klausel, um die vereinbarte Praxis der Korrespondententätigkeit einzuschränken.

Sie erließ eine Verordnung, nach der die in der DDR tätigen Korrespondenten unter anderem gehalten waren, „Verleumdungen oder Diffamierungen der Deutschen Demokratischen Republik, ihrer staatlichen Organe und ihrer führenden Persönlichkeiten sowie der mit der Deutschen Demokratischen Republik verbündeten Staaten zu unterlassen.“ Auch sollten die Korrespondenten nicht nur wahrheitsgetreu, sachbezogen und korrekt berichten, sie sollten auch „keine böswillige Verfälschung von Tatsachen zulassen.“

Damit war Streit programmiert. Denn diese dehnbaren Floskeln konnten unter den Bedingungen einer kommunistischen Meinungsdiktatur im Zweifelsfall gegen kritisch berichtende West-Journalisten gekehrt werden. So hätte zum Beispiel ein Bericht über die Privilegien der SED-Führungsschicht von den Betroffenen durchaus als Verleumdung gewertet werden können. Presse- und Meinungsfreiheit im Sinne der SED diente ausschließlich dazu, die „richtige“ Gesinnung zu vermitteln und - wie es in einem offiziellen Kommentar zur DDR-Verfassung hieß, „keinerlei Missbrauch der Massenmedien für die Verbreitung bürgerlicher Ideen zu dulden.“

Der Verordnung folgte eine Durchführungsbestimmung mit einschneidenden Auflagen. Sie verlangte von den Korrespondenten, das Außenministerium über Reisen außerhalb von Berlin (Ost) 24 Stunden vor Antritt „unter genauer Angabe des Reiseziels und des Reisegrunds“ zu informieren. Für journalistische Vorhaben galt eine generelle Genehmigungspflicht. Danach musste jeder Besuch bei einer Regierungsstelle, einer staatlichen Einrichtung, einem volkseigenen Betrieb oder einer Genossenschaft schriftlich beim Außenministerium beantragt werden. Das galt auch für Interviews mit führenden Persönlichkeiten, ab 1979 sogar für Befragungen jeder Art. Das Ministerium nahm die Anträge entgegen und reichte sie zur Entscheidung an die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees weiter.

Bei Verstößen drohten Sanktionen von der offiziellen Verwarnung durch Ministeriumsmitarbeiter über die Einbestellung ins Außenamt bis zum Entzug der Akkreditierung und der Schließung des Büros. All das wurde im Laufe der Jahre auch praktiziert. Vier bundesdeutsche Korrespondenten, unter ihnen Lothar Loewe von der ARD, mussten innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen. Das Spiegel-Büro wurde für einige Zeit geschlossen. Und verwarnt oder zu einer „ernsthaften Aussprache“ zitiert zu werden kam so häufig vor, dass es kaum noch registriert wurde.

Persönliche Kontakte als Basis für unabhängige Berichterstattung

Die von der SED-Führung erhoffte Wirkung blieb jedoch aus. Denn auch die Anwendung von Sanktionen machte aus den bundesdeutschen Korrespondenten keine Leisetreter. Obwohl Informationsstränge zur Regierung fehlten, waren die West-Korrespondenten keineswegs isoliert. Viele von ihnen besaßen einen Freundes- und Bekanntenkreis von DDR-Bürgern und erlebten, besonders wenn sie ihren Lebensmittelpunkt in Ost-Berlin hatten, den Alltag der DDR hautnah. Durch private Kontakte erhielten die West-Journalisten Einblicke in Bereiche, aus denen man sie offiziell fernhalten wollte. Mehr und mehr gelang es ihnen, hinter die von den staatlichen Medien errichtete Propaganda-Fassade zu schauen und die Kluft zwischen politischem Anspruch und sozialer Realität bloßzulegen.

Obwohl die beiden deutschen Staaten mit zahlreichen Abkommen ihre Verbindungen enger knüpften, blieben die fundamentalen Gegensätze bei der Auslegung des Begriffes Entspannung bestehen. Der von SPD-Kanzler Willy Brandt geführten sozial-liberalen Bundesregierung ging es vor allem darum, durch eine Politik des „Wandels durch Annäherung“ Erleichterungen für DDR-Bürger zu erreichen, die Folgen der Teilung zu mildern, den nationalen Zusammenhalt zu stärken und die Idee der Wiedervereinigung am Leben zu erhalten. Die DDR konterte dies mit der Behauptung, auf deutschem Boden gebe es zwei Nationen: die neue, sozialistische, von der Arbeiterklasse getragene Nation der DDR und - wie es SED-Politbüromitglied Albert Norden formulierte - die kapitalistische, von der historisch zum Aussterben verurteilten Bourgeoisie beherrschte Nation der Bundesrepublik, „mit der uns überhaupt keine Gemeinsamkeit verbindet und verbinden kann.“

Nach der Aufnahme staatlicher Beziehungen und der Einrichtung Ständiger Vertretungen in Ost-Berlin und Bonn im Jahr 1974 war das innerdeutsche Verhältnis durch einen permanenten Wechsel von Abgrenzung und Kooperation gekennzeichnet. Wenn es um wirtschaftliche Vorteile ging, zeigte sich die DDR-Regierung flexibel. Standen aber menschliche Erleichterungen für DDR-Bürger zur Debatte, trat die SED-Führung auf die Bremse, auch auf internationaler Ebene.

Zwar hatte die DDR, die seit 1973 wie die Bundesrepublik Deutschland einen Sitz in der UNO hatte, 1975 die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet. Doch die darin garantierte Wahrung von Menschenrechten und Grundfreiheiten enthielt sie dem Gros ihrer Bürger vor. Wer sich öffentlich darauf berief und einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik mit der Schlussakte begründete, riskierte, von der Staatssicherheit verhört oder eingesperrt zu werden. Wenn die Bundesregierung intervenierte, wurde dies als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten gewertet.

Von der jeweiligen politischen Wetterlage waren auch die bundesdeutschen Korrespondenten betroffen. Stand der Abschluss eines Abkommens bevor, an dem die DDR - wie etwa bei der Zusammenarbeit im Gesundheitswesen - besonders interessiert war, stieg die Chance, einen journalistischen Antrag genehmigt zu bekommen. Lagen die beiden Regierungen aber in einer Sachfrage im Streit, war eher mit einer Ablehnung zu rechnen. Die meisten Korrespondenten waren freilich gar nicht mehr vom Votum der Zensoren im Zentralkomitee abhängig. Sie hielten eigenständig Kontakt zu Bürgerrechtlern, informierten sich bei unabhängigen, couragierten Pfarrern und redeten mit Werktätigen, die am realen Sozialismus und seinen Einschränkungen der Freiheit litten.

Vom Osten in den Westen und zurück: westliche Berichterstattung und ihre Auswirkungen

Die Recherchen der Korrespondenten und ihre Veröffentlichungen waren für die SED-Genossen ein großes Ärgernis. Denn sie verloren damit ihr Informations- und Meinungsmonopol. Zwar konnten sie ihren Bürgern westliche Druckerzeugnisse vorenthalten. Aber der Äther über der Grenze war offen. Was die West-Korrespondenten aufspürten und in die Bundesrepublik berichteten, kam über Hörfunk und Fernsehen in den größten Teil der DDR zurück und prägte das Bewusstsein ihrer Bürger. Die meisten von ihnen zogen, wenn es um politische Information ging, die westlichen Nachrichtensendungen und Polit-Magazine den Programmen der DDR-Staatssender vor.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre, als immer mehr frustrierte DDR-Bürger ihren Unmut über die starre Politik der SED-Spitze auf den Straßen bekundeten, über andere Ostblock-Länder dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ zu entkommen versuchten oder zwecks Erzwingung ihrer Ausreise in die Ständige Vertretung in Ost-Berlin und andere westliche Botschaften flüchteten, gab die DDR-Regierung die Schuld dafür den West-Medien. Sie führten gegen die DDR eine „zügellose Hetze“ und verleiteten DDR-Bürger zum illegalen Verlassen des Landes, zürnte ein Sprecher des DDR-Außenministeriums. Mehr noch: Über organisierte Grenzdurchbrüche zelebrierten die feindlichen Medien „eine genüssliche Frontberichterstattung“.

Von den Zielen der Entspannungspolitik, vom Ausgleich gegenseitiger Interessen und Absichten war in der DDR wenig geblieben. Gewiss war man sich in Bonn und Ost-Berlin einig, eine militärische Eskalation an der Nahtstelle zwischen Nato und Warschauer Pakt zu verhindern. Aber wenn es um gesellschaftspolitische Reformen, um die Durchsetzung von Freiheitsrechten ging, schaltete die Altherrenriege des Politbüros auf stur. Die Reformpolitik des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow war ihr ebenso suspekt wie die Solidarność-Politik im Nachbarland Polen und die nach Westen orientierte Politik in Ungarn. Dass sie sich damit im sozialistischen Lager isolierte, nahm die DDR-Regierung in maßloser Überschätzung ihrer politischen und wirtschaftlichen Potenzen in Kauf.

Das kommunistische System erodiert

Das Ende kam schneller als erwartet. Die Friedliche Revolution im Herbst 1989, die auf Demonstrationen immer lauter werdenden Rufe nach Reformen und Freiheitsrechten ließ bei der SED-Führung die Einsicht wachsen, dass sie die lawinenartig zunehmende Protestwelle mit Gewalt nicht mehr werde stoppen können. Endgültig bewusst wurde dies den Machthabern am 9. Oktober 1989, dem Tag, an dem sich mehrere zehntausend Bürger in Leipzig nicht mehr von den Drohungen der Staatsmacht einschüchtern ließen. Die Bilder der Massendemonstration, heimlich aufgenommen und am Abend im Westfernsehen zu betrachten, machten auch vielen Bürgern in anderen Städten und Dörfern der DDR Mut und Hoffnung auf Veränderungen.

Der überfällige Beschluss der Parteiführung, Reisemöglichkeiten in den Westen Deutschlands per Gesetz für jedermann zu ermöglichen, wurde zum selbst verschuldeten Rohrkrepierer. Denn als Politbüromitglied und ZK-Sprecher Günter Schabowski am 9. November vor der internationalen Presse den Entwurf des neuen Reisegesetzes erläuterte, unterlief ihm ein folgenschwerer Fehler. Auf die Frage, wann die Regelung in Kraft trete, entfuhr ihm ein „unverzüglich, sofort.“ Da die irrtümliche Aussage umgehend in den Medien verbreitet wurde, folgte ein Run auf die Grenzübergänge. Mit der Folge, dass der Kommandeur am Übergang Bornholmer Straße als Erster dem Druck der auf Ausreise drängenden Menschenmenge nicht mehr standhalten konnte und ohne Erlaubnis die Schlagbäume öffnen ließ.

Die Informationspanne hatte der DDR-Führung die Möglichkeit genommen, die Ausreise ihrer Bürger, wie vorgesehen, durch Antrag und Genehmigung zu steuern. Die Grenzübergänge, deren Schranken noch in der Nacht reihenweise hochgingen, ließen sich unter dem Druck der Bürger nicht mehr schließen. Der Kontrollverlust über die Grenze erschütterte die Grundlagen des Regimes. Es wankte und gab durch Rücktritte nach und nach auf. Zugleich kam auch der Arbeiter- und Bauernstaat an sein Ende, jedenfalls als Republik unter kommunistischer Parteidiktatur.

Die Medienlandschaft wandelt sich

Die offene Grenze nach dem Mauerfall hatte auch für die bundesdeutschen Korrespondenten Konsequenzen. Sie büßten ihre Rolle als „Platzhirsche“ ein und bekamen durch andere westdeutsche Journalisten Konkurrenz. Für ihre DDR-Berufskollegen und -Kolleginnen begann dagegen - sofern sie keine Spitzenpositionen bekleideten und zum Rücktritt gedrängt wurden - eine Zeit ungewohnter Freiheit. War ihnen vorher ihre Arbeit bis zur Sprachregelung von oben vorgegeben, so entdeckten sie nun ihre Lust am investigativen Journalismus. Mussten sie vorher kuschen, so stellten sie nun mit Eifer einst hochrangige und mächtige Funktionäre wegen Amtsmissbrauchs und Korruption an den Pranger. Das Neue Deutschland wollte nicht mehr Zentralorgan sein und erschien unter dem neuen Untertitel Sozialistische Tageszeitung. Und das DDR-Fernsehen, das sich von seinen unbeliebtesten Propagandisten getrennt hatte, gewann bei den Bürgern durch schnelle und sachliche Berichterstattung Zuspruch und Ansehen.

Die für die publizistische Zunft der DDR schöne Phase selbstbestimmter Arbeit dauerte nicht lange. Westdeutsche Konzerne übernahmen nach und nach die auflagenstarken Regionalzeitungen der einstigen Staatspartei. Mit ihnen kamen neue Geschäftsführer, Chefredakteure und leitende Mitarbeiter. Publikationen der Bürger- und Friedensbewegung, in deren Reihen Aktivisten von einem eigenständigen Staat mit menschlichem Sozialismus träumten, verloren an Einfluss. Westdeutsche Boulevardblätter, eine für DDR-Bürger neue Spezies, fanden dagegen reißenden Absatz.

Nach den Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 und der Bildung einer DDR-Regierung, deren Hauptaufgabe darin bestand, den bisherigen Staat abzuschaffen und den Beitritt zur Bundesrepublik mit vorzubereiten, nahm die Dominanz westdeutscher Publizistik rapide zu. Das Fernsehen und der Hörfunk der DDR wurden abgewickelt und in die ARD eingegliedert. Nicht alle Mitarbeiter wurden entlassen. Im Gegenteil, viele von ihnen - selbst wenn sie im „Roten Kloster", der Leipziger Kaderschmiede, ausgebildet werden waren - wurden von den alten oder neu gegründeten Sendeanstalten der ARD eingestellt oder übernommen.

In der Berichterstattung und Kommentierung überwog gleichwohl die westdeutsche Sicht. Die Folge: Die Euphorie und Zustimmung der Menschen zwischen Elbe und Oder zu dem von einer breiten Mehrheit gewünschten Beitritt zur Bundesrepublik nahm ab. Das lag auch daran, wie Bonner Politiker und Kommentatoren aus der Medienbranche den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Niedergang des Kommunismus überschwänglich als historischen Sieg des überlegenen Westens und seiner Gesellschaftsordnung feierten. Für eine Fortführung der einst erfolgreichen Entspannungspolitik war in den öffentlichen Meinungsäußerungen selten Platz. Wozu auch? Der Westen hatte ja gewonnen. Vermeintlich gewonnen, wie man heute eher sagen müsste.

Außenpolitische Neuorientierung?

Für viele systemkritische DDR-Bürger, die maßgeblich zur friedlichen Revolution beigetragen hatten, ging der Vereinigungsprozess zu schnell. Statt des Beitritts hätten sie den Weg über eine neue, gemeinsame, politisch auf gleicher Augenhöhe entstandene Verfassung vorgezogen. Sie bedachten dabei nicht den enormen Zeitdruck, unter dem die beiden deutschen Regierungen standen, um die Vereinigung durch Zustimmung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges abzusichern. Hätte sich die Sowjetunion früher aufgelöst, wäre dieser Weg zur Einheit kaum noch gangbar gewesen.

Helmut Kohl (CDU), der bald „Kanzler der Einheit“ genannt wurde, legte den Schwerpunkt seiner Außenpolitik auf die europäische Einigung und die Vertiefung der transatlantischen Beziehungen. Aber auch für ihn ruhten die Beziehungen zu Russland „auf einem festen Fundament.“ Beide Seiten seien an einem intensiven politischen Dialog auf allen Ebenen interessiert, so Kohl: „Wir haben gemeinsame Interessen und wir haben Vertrauen zu einander.“ Sein Nachfolger, SPD-Kanzler Gerhard Schröder und dessen Außenminister Joschka Fischer von den Grünen setzten sogar auf eine neue strategische Partnerschaft zu Russland bei gleichzeitig zunehmender Distanz zur westlichen Führungsmacht USA.

Und auch die Schröder-Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) und ihr SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertraten die jahrelang gewachsene Überzeugung, dass man mit Russland in Partnerschaft besser stehe als im Konflikt. Man gehe davon aus, so sagten sie, dass wirtschaftliche Verflechtungen sowie kultureller und politischer Austausch zu friedlicher Koexistenz beitrügen. Das Aggressionspotential Russlands und der Wille von Präsident Wladimir Putin, sein Land wieder zu imperialer Macht zu führen, wurde dabei übersehen oder bewusst kleingeredet.

Eine Gesellschaft im Zwiespalt

Nun, nach dem Überfall Putins auf die Ukraine, räumen damals verantwortliche Politiker selbstkritisch ein, sich in Putin geirrt zu haben. Den einst vermeintlichen Partner nennen sie jetzt einen Kriegsverbrecher, der von der um ihre Freiheit kämpfenden Ukraine durch massive Unterstützung mit militärischer Ausrüstung und Geld in die Knie gezwungen werden müsse. Dagegen gibt es massiven Widerspruch. Von Menschen, die sowohl politisch links wie rechts und rechtsaußen beheimatet sind. Nicht nur von sogenannten Putin-Verstehern, zu denen vor allem ehemalige DDR-Bürger zählen. Auch von Kirchenvertretern, Anhängern der Friedensbewegung und Menschen, die grundsätzlich im Krieg keine Lösung sehen. Selbst die demokratischen Parteien Deutschlands sind in der Schicksalsfrage, wie Putin zur Aufgabe seiner imperialistischen Ziele gebracht werden kann, gespalten.

Die Auseinandersetzung darüber wird bei Demonstrationen auf der Straße, vor allem aber in den Medien ausgetragen. Die Bundesregierung der Ampel-Koalition kann sich bisher bei Kommentaren und Reportagen auf eine mehrheitliche Zustimmung für ihren Kurs stützen. Die Skeptiker beklagen dagegen einseitige Darstellung und eine Benachteiligung bei der Auswahl der Kommentatoren, Reporter und Reporterinnen. Das gilt für die großen Zeitungshäuser, vor allem aber für den öffentlich rechtlichen Rundfunk und für das ARD-Fernsehen.

Nach Umfragen ist inzwischen etwa ein Drittel der Deutschen gegenüber den sogenannte Mainstream-Medien skeptisch eingestellt. Etwa ebenso viele glauben, dass die Politik auf die Berichterstattung der Medien Einfluss nehme. Immer häufiger haben Bürger den Eindruck, dass sie überall dasselbe lesen und hören. Bei ihnen wächst die Überzeugung, dass sie sich mit ihren Einwänden und Besorgnissen weder bei der Politik noch bei den Medien wiederfinden. Das war schon bei der „Flüchtlingskrise“ so und hat mit dem Kriegsgeschehen in der überfallenen Ukraine zugenommen.

Ob diese, besonders unter Menschen in den neuen Ländern verbreitete Einstellung begründet ist oder nicht - für das demokratische Gemeinwesen ist sie gefährlich. Sie droht die Gesellschaft zu spalten und die Grundlagen einer demokratischen Ordnung zu erschüttern. Zumal Verschwörungs-Theoretiker, „Reichsbürger“ und andere Feinde der Demokratie demagogisch von der „Lügenpresse“ reden und russische Spezialisten durch das Verbreiten gezielter Falschmeldungen dabei sind, zusätzlich Zweifel unter den Skeptikern zu sähen. „Wir wollen nicht gesagt bekommen, was wir denken sollen“, lautet ein häufig geäußerter Satz.

Tatsächlich ist es an der Zeit, nicht nur immer wieder die berechtigte Notwendigkeit umfassender materieller und militärischer Hilfe für die Ukraine medial zu betonen, sondern auch daran zu erinnern, wie in der Zeit der Ost-West-Konfrontation der Kalte Krieg eingestellt wurde. Irgendwann geht jeder heiße Krieg zu Ende. Spätestens dann, wenn der Aggressor begreift, dass er nicht gewinnen kann. Dann wäre es gut, wenn bestehende Gesprächskanäle für eine Kommunikation benutzt werden, von der die Öffentlichkeit nichts mitbekommt. Wenn ein Diktatfrieden unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist, täten alle Verantwortlichen gut daran, in die Vergangenheit zu schauen und als Ziel eine Art neuer Entspannung in den Mittelpunkt politischen Handelns zu stellen. Dass dieser Weg lang und extrem schwierig sein wird, steht schon heute fest.

Peter Pragal begann seine journalistische Tätigkeit 1965 bei der Süddeutschen Zeitung. Nach dem Grundlagenvertrag, den beide deutsche Staaten 1972 schlossen, war er der erste bundesdeutsche Journalist, der mit seiner Familie seinen Hauptwohnsitz in der DDR nahm, um dort zu arbeiten. Nach diesem Aufenthalt 1974 bis 1979 in Ostberlin berichtete ab 1984 erneut aus der DDR. Über diese insgesamt zwölf Jahre schrieb er das Buch „Ihr habt es aber schön hier! Als West-Korrespondent in der DDR“.