Sehenden Auges in den Untergang?

Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Sicherheitsapparat von Sowjetunion und DDR - von Matthias Uhl

Mit der im August 1975 unterzeichneten Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wollten West und Ost ihre Konfrontation überwinden. Die KSZE-Staaten verpflichteten sich, die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen gegenseitig zu respektieren, Streitigkeiten friedlich beizulegen und in den Bereichen Umwelt, Wirtschaft und Wissenschaft besser zusammenzuarbeiten. Für den Ostblock war die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten wichtig, während die westeuropäischen Unterzeichnerstaaten besonderen Wert auf die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten legten.

Dabei setzte der Westen vor allem auf den dritten Teil der KSZE-Schlussakte, den so genannten Korb III, der Erleichterungen im Reiseverkehr, beim Informationsfluss und bei menschlichen Kontakten auch über die Systemgrenzen hinweg vorsah. Für die Sowjetunion und den von ihr geführten Ostblock ging es dagegen vor allem um die Stabilisierung der eigenen Herrschaft und die endgültige Anerkennung des Status quo, der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden war.

Deshalb stimmten sowohl das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR (KGB) als auch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) den Verhandlungen in Helsinki zu, obwohl sie die Gefahren, die sich vor allem aus den Forderungen des Korbs III ergaben, klarsahen. Bereits Anfang 1972 hatte sich der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, bei den sowjetischen Tschekisten erkundigt: „Wie muss auf die imperialistische Absicht reagiert werden, in den Mittelpunkt der gesamteuropäischen Konferenz solche Fragen zu stellen wie freier Austausch von Ideen, Informationen und Personen?“[1] Um die Bedeutung dieser Frage zu unterstreichen, hatte der Staatssicherheitsminister handschriftlich noch hinzugefügt „PiD!!“, wobei PiD für „politisch-ideologische Diversion“ steht. Das MfS sah sich also von einer ideologischen und politischen Unterwanderung durch den Westen bedroht. Doch KGB-Chef Juri W. Andropow schien in dieser Hinsicht keine Probleme zu sehen; zwar dürften auch ihm die Menschenrechtsforderungen des Westens lästig gewesen sein, doch glaubte sich die Sowjetunion mit dem Verweis auf die völkerrechtlich garantierte Nichteinmischung in innere Angelegenheiten aus der Affäre ziehen zu können. Zudem bleibt festzuhalten, dass weder das KGB noch das MfS in diesen Fragen ein wirkliches Mitspracherecht hatten, denn über außenpolitische Fragen entschieden allein die Spitzen von KPdSU und SED. Die Sicherheitsorgane konnten allenfalls Bedenken äußern.

Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki blieb die DDR jedoch im Gegensatz zu anderen Ländern des sozialistischen Lagers von der Bildung sogenannter Helsinki-Gruppen zunächst „verschont“, was wohl auch damit zusammenhing, dass DDR-Führung und MfS Oppositionelle über Ausreiseanträge in die Bundesrepublik abschoben oder gezielt ausbürgerten, um den Druck auf das eigene Regime zu verringern. Schließlich versicherte KGB-Chef Andropow 1981 im Vorfeld der Madrider KSZE-Konferenz dem Minister für Staatssicherheit der DDR: „Es gibt keine Zugeständnisse in den Fragen der Menschenrechte.“[2] Gleichwohl betrachtete nunmehr selbst das KGB, da es öffentliche negative Schlagzeilen im Westen fürchtete, „Repressivmaßnahmen als die äußersten Maßnahmen“, die nur dann zur Anwendung kommen sollten „wenn alle anderen Formen und Methoden zur Verhinderung unerwünschter Umtriebe und Aktivitäten ausgesprochen wurden“[3].        

Selbst nach den KSZE-Nachfolgeverhandlungen in Madrid zeigte sich die sowjetische Staatssicherheit immer noch unbekümmert. So meinte der stellvertretende KGB-Chef Wladimir A. Krjutschkow im Spätsommer 1983 in einem Gespräch mit Mielke: „Der Korb III hängt von unserer Interpretation ab und wie wir es mit Leben erfüllen. Dies werden praktische Schritte der Partei und der Sicherheitsorgane sein. Der Korb III gibt keinem die Möglichkeit, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen.“[4] Dem entgegnete der Minister für Staatssicherheit, der die sich ergebenden Gefahren für die sozialistische Diktatur wesentlich klarer sah als der KGB-Funktionär: „Moskau liegt 1.600 km von Berlin entfernt. Aus 1 km Entfernung sieht die Lage aber anders aus (BRD-DDR, Deutsche-Deutsche).“[5]

Mielkes Hoffnungen auf ein restriktiveres Vorgehen vor allem gegen die stetig wachsende Ausreisebewegung zerschlugen sich jedoch rasch. Eine entsprechende Sogwirkung entfaltete auch die Entscheidung von SED-Chef Erich Honecker, DDR-Bürger, die Auslandsvertretungen in der DDR und der ČSSR besetzten, um ihre Ausreise zu erzwingen, zügig in den Westen ausreisen zu lassen. Der Einsatz des repressiven MfS-Apparates wurde aber noch mehr durch die vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß eingefädelten Zwei-Milliarden-Kredite der Bundesrepublik behindert. Im Tausch gegen menschliche Erleichterungen bewahrte die Bundesrepublik die DDR vor dem Staatsbankrott. Die Exekutivgewalt der Staatssicherheit konnte nun endgültig nicht mehr uneingeschränkt ausgeübt werden, sondern war vor allem durch den KSZE-Prozess und die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen einschneidenden Restriktionen unterworfen.

Im Interesse einer weiteren Entspannung der Beziehungen zum Westen zeigte sich die Sowjetunion unter dem neuen Generalsekretär Michail S. Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre zu substantiellen Zugeständnissen an den Westen im Bereich der menschlichen Kontakte bereit. Staatssicherheitsminister Mielke sah „aber in der Kompromissbereitschaft dort eine Grenze, wo politische und sicherheitspolitische Auswirkungen entstehen, die nur noch mit außerordentlichen Mitteln beherrschbar sein würden“[6]. Die DDR müsse deshalb die Forderungen nach der Zulassung von sogenannten Helsinki-Gruppen sowie eines „Rechts des Einzelnen, die Einhaltung der KSZE-Dokumente durch die Staatsorgane zu überwachen“ ablehnen. Für das Überleben der DDR – so Mielke – sei es weiterhin dringend erforderlich „die Grenzen unserer Kompromissbereitschaft eindeutig abzustecken“. Die lägen dort, „wo Menschenrechts- und humanitäre Fragen aus der staatlichen Souveränität herausgelöst werden sollen“[7].                

Da die Sowjetunion jedoch auf einen erfolgreichen KSZE-Prozess drängte, um ihre neue Westpolitik zur Überwindung der eigenen wirtschaftlichen Schwäche umzusetzen, war sie nicht mehr bereit, auf die innenpolitischen Probleme ihrer Verbündeten Rücksicht zu nehmen. Dennoch leistete vor allem die DDR Widerstand und versuchte, Zugeständnisse bei den Menschenrechten zu verhindern, da Honecker hier „grundsätzliche Bedenken“ sah. Die sowjetische Seite fühlte sich deshalb zu der Vorhaltung veranlasst: „Die UdSSR könne sich nicht vorstellen, dass die DDR den Fortgang des KSZE-Prozesses blockieren wolle“.[8]

Der DDR-Staatschef erläuterte daraufhin dem Vertreter der Sowjetunion, dass sich der ostdeutsche Staat gerade wegen der KSZE in einem unlösbaren Dilemma befände, denn: „Wir alle wissen, was sich hinter den Helsinki-Beobachtungsgruppen verbirgt. Dies würde eine Legalisierung konterrevolutionärer Aktivitäten bedeuten. Das können wir nicht wollen. Wir können nicht wollen, dass Möglichkeiten legalisiert werden, Stabilität und Sicherheit an der Trennlinie der beiden Systeme zu untergraben.“ Zudem bestände das Problem: „eine Unterbindung derartiger staatsfeindlicher Aktivitäten wäre nur mit Repressivmaßnahmen zu erreichen und selbst die Anwendung der geltenden Rechtsnormen bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser Kräfte würde wiederum zu massiven DDR-feindlichen Kampagnen seitens der NATO, der BRD führen.“[9]

Zwar reagierten Bulgarien, die ČSSR sowie die DDR auf die Unterzeichnung der Wiener Schlusserklärung der 3. KSZE-Nachfolgekonferenz im Januar 1989 mit demonstrativen Aktionen gegen die Oppositionsbewegung, und die Rumänen erklärten sogar, Teile des Dokuments nicht umzusetzen. Letztlich handelte es sich jedoch um hilflose Versuche, die Durchschlagskraft der KSZE-Beschlüsse zu neutralisieren. Denn vor allem Polen, Ungarn und die Sowjetunion bestanden auf  erhebliche Zugeständnisse an den Westen und zeigten sich auch in der Praxis zu Veränderungen bereit.

Doch auch die DDR selbst fürchtete international als Bremser des KSZE-Prozesses dazustehen. Weshalb Mielke bereits im Herbst 1988 folgende Direktive an das MfS herausgegeben hatte: „Wir dürfen dem Gegner keine Munition liefern, die es ihm gestatten würde, unsere Organe als Störenfriede im Friedens- und Entspannungsprozess zu bezeichnen.“[10] Die von den MfS-Offizieren ausgearbeiteten Maßnahmen zur Eindämmung der Opposition mussten zudem weitgehend Makulatur bleiben, da sie von der Leitung des Ministeriums und der SED-Parteiführung für nicht opportun erklärt wurden. So endete die Verhaftung von zwölf prominenten Bürgerrechtlern durch die Staatssicherheit Anfang 1988 in einem Fiasko. Konfrontiert mit dem Vorwurf der „nachrichtendienstlichen Verbindungsaufnahme“, die nach DDR-Recht mit bis zu zwölf Jahren Zuchthaus bestraft werden konnte, drohte den Inhaftierten eine langjährige Haftstrafe. Mit diesem Mittel wollte das MfS die Betroffenen zumindest zur Ausreise zwingen. Dies gelang zwar bei Stefan Krawczyk und Freya Klier, doch die anderen zehn erreichten – auch dank der Proteste aus der Bundesrepublik – nach einem halbjährigen Aufenthalt im Westen eine garantierte Wiedereinreise in die DDR. Wie MfS-Vize Rudi Mittig seinen Untergebenen mitteilte, traf die DDR-Führung diese Entscheidung, weil die „Verweigerung der Wiedereinreise … von gegnerischen Kräften als eine willkürliche und gesetzwidrige Ausbürgerung“ dargestellt und „insbesondere im Zusammenhang mit dem aktuellen Verlauf des KSZE-Folgetreffens in Wien ausgenutzt“ werde[11].             

Aufgeschreckt von der Veröffentlichung des Wiener Abschlussdokumentes im „Neuen Deutschland“ machte Mielke seinen Unterstellten Anfang Februar 1989 noch einmal klar, dass die „Legalisierung von Aktivitäten sogenannter Helsinki-Überwachungsgruppen … unter den Lagebedingungen der DDR erhebliche innen- und außenpolitische Wirkungen nach sich ziehen“. Deshalb werde das MfS, so der Minister, „eine Legalisierung der sogenannten Helsinki-Überwachungsgruppen nicht zulassen und unsere diesbezüglichen Rechtsvorschriften so gestalten und anwenden, dass jegliches Tätigwerden dieser Gruppen verhindert wird“[12]. Unterbinden wollte er zudem das Recht auf Freizügigkeit, die Zulassung von Umweltschutzgruppen, die Förderung unkontrollierter Kontakte, auch über die Systemgrenzen hinweg, sowie die freie Betätigung von Journalisten. Nahezu im gleichen Atemzug musste Mielke – da nun gegenüber der KSZE eine Auskunftspflicht bestand – jedoch seine Offiziere anweisen, bei „politisch sensiblen Sachverhalten“ die „Festnahme von Verdächtigen“ möglichst zu vermeiden und „strenge Maßstäbe an die Prüfung der Unumgänglichkeit der Untersuchungshaft“ zu legen[13].          

Im April 1989 sorgte der erfolgreiche Abschluss der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien schließlich dafür, dass nach der Anfang Februar 1989 erfolgten Tötung von Chris Gueffroy beim Versuch, die Grenzsperranlagen in Ost-Berlin zu überwinden, nunmehr auf Weisung Honeckers der bis dahin existierende Schießbefehl außer Kraft gesetzt wurde und die Grenzsoldaten die Schusswaffe nur noch einsetzten durften, „wenn das eigene Leben oder das anderer (z.B. Geiseln) bedroht ist“[14].  

Doch auch die von Mielke postulierte Verhinderung der Gründung von Bürgerrechtsorganisationen verkam mehr und mehr zur Chimäre. Im Frühsommer 1989 zählte das MfS bereits mehr als 160 solcher Gruppen in der DDR. Zwar hatte die Staatssicherheit Namen und Adressen ihrer Wortführer gesammelt sowie Listen zur Verhaftung von über 13.000 „Staatsfeinden“ angelegt, um am „Tag X“ die Bürgerrechtsbewegung zu zerschlagen, doch kam der Befehl zum Losschlagen nie. Den hätte die SED-Führung geben müssen, er wurde jedoch aus politischen Gründen nie erteilt. Folglich musste sich das MfS im Wesentlichen auf Zersetzungsmaßnahmen beschränken, die jedoch nur begrenzten Erfolg zeigten. Folglich wurden im letzten Jahr der DDR die Helsinki-Gruppen wenn zwar nicht legalisiert, so doch zumindest faktisch geduldet.

Als die DDR im Herbst 1989 schließlich zusammenbrach, erkannte die neue SED-Führung unter Egon Krenz, dass die tiefe Staatskrise nicht mit Gewalt zu lösen war. Auch das MfS ordnete sich dieser Linie unter. Es musste sein repressives Vorgehen gegen vermeintliche Staatsfeinde immer weiter zurückfahren. Zwar führte die KSZE – daran besteht kein Zweifel – nicht zu dem vom MfS immer wieder befürchteten Zusammenbruch der DDR und schließlich des Ostblocks. Hier spielten andere Ursachen wie die sowjetische Politik von Glasnost und Perestroika, die gravierende wirtschaftliche Schwäche und die wachsende Abhängigkeit vom Westen eine wesentlichere Rolle. Aber ohne die KSZE und ihrem Einfluss auf die Gesellschaften sowie die Geheimpolizeien hinter dem Eisernen Vorhang wären die kommunistischen Diktaturen nicht Ende der 1980er Jahre, sondern wahrscheinlich erst viel später und mit möglicherweise mehr Opfern gestürzt worden.             

 


[1] Zit. nach: Süß, Walter: Der KSZE-Prozess der 1970er-Jahre aus der Perspektive der DDR-Staatssicherheit, in: Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten, hrsg. von Torsten Diedrich und Walter Süß, Berlin 2010, S. 322.

[2] Notiz über ein Gespräch zwischen Mielke und KGB-Chef Andropow, 11.7.1981, BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5382, Bl. 11.

[3] Budapester Symposium zu Problemen der PID des Imperialismus und ihrer Bekämpfung, 23.-29.5.1977, BStU, MfS, ZAIG Nr. 5106, Bl. 245.

[4] Notiz über ein Gespräch zwischen Mielke und stellv. KGB -Chef Waldimir Krjutschkow, 19.9.1983, BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5306, Bl. 17 (auf www.stasi-mediathek.de/fileadmin/pdf/dok308.pdf).

[5] Ebenda.

[6] Hinweise auf Probleme/Fragen für Gespräche in Moskau, 25./26.4.1988, BStU, MfS, ZIAG, Nr. 5388, Bl. 118.

[7] Ebenda, Bl. 120.

[8] Zit. nach: Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999, S. 96.           

[9] Aktennotiz über ein Gespräch Honeckers mit Juri Kaschlew, Leiter der sowjetischen Delegation auf dem Wiener KSZE-Folgetreffen, 5.1.1989, BArch, SAPMO, DY 30/2389, Bl. 2.

[10] Zit. nach Gieseke, Jens: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990, München 2006, S. 253.

[11] Zit. nach Süß, Walter: Die Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt der DDR (MfS-Handbuch), Berlin 2009, S. 68.

[12] Ausführungen Mielkes auf der Beratung des Kollegiums des MfS, 1.2.1989, BStU, MfS, ZAIG Nr. 5342, Bl. 44.

[13] Ebenda, Bl. 50.

[14] Zit. nach Süß, Walter: Die Wiener KSZE-Folgekonferenz und der Handlungsschwerpunkt des DDR-Sicherheitsapparates 1989, in: Die KSZE im Ost-West-Konflikt: Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975-1990, hrsg. von Matthias Peter und Hermann Wentker, München 2012, S. 228.