Die Vereinten Nationen (VN) seien ein „zahnloser Tiger“, der VN-Menschenrechtsrat eine „scheinheilige Quatschbude“ und die Weltgesundheitsorganisation habe die Covid-19-Pandemie weder verhindert noch schien sie allzu gut darauf vorbereitet zu sein: Die Kritik an Internationalen Organisationen ist nicht neu, sondern vielmehr eine ständige Begleiterin ihrer Arbeit. Neu ist hingegen die Vehemenz, mit der sie auch von den sie stützenden Staaten und Gesellschaften scharf angegangen worden ist. So traten die USA unter Präsident Trumpim Jahr 2019 aus dem UN-Menschenrechtsrat aus, um 2021 unter Präsident Biden wieder einzutreten.[2] Während der Covid-19-Pandemie drohte Trump mit einem Austritt der USA aus der WHO, die lediglich eine „Marionette Chinas“ sei.[3] Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sah sich einem heftigen Shitstorm ausgesetzt, nachdem sein Präsident Maurer einen guten Monat nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine nach Moskau reiste; sein Treffen mit dem russischen Außenminister Lawrow und der folgende Händedruck für die Kameras sorgte für scharfe Kritik.[4]

Bei all der Kritik und dem wachsenden Druck auf die Institutionen hilft ein Blick auf die Gründungsgeschichten einiger dieser Institutionen, um sich zu vergegenwärtigen, dass ihre Existenzen nicht selbstverständlich sind. So ist aus den 1940er Jahren übermittelt, dass die Idee für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht etwa delegierte Politiker, sondern drei Übersetzer auf der International Health Conference 1945 in New York hatten. Sie tauschten sich am Rande der Konferenz aus und stellten fest, dass eine wiederkehrende Konferenz nicht reiche, um die wachsenden gesundheitlichen Herausforderungen auf der Welt zu meistern. Es brauche, so glaubten sie, eine internationale Organisation. Kurzerhand schrieben die Übersetzer die Gründung der Institution ins Abschlussdekret der Konferenz. Den Delegierten gefiel die Idee offensichtlich, das Dekret wurde verabschiedet und zwei Jahre später nahm die WHO ihre Arbeit in Genf auf.
Zu einer Zeit, alsnicht wenige das „Ende der Geschichte“ wähnten, war der Moment für den VN-Menschenrechtsrat gekommen. Im März 2006 stimmten die VN mit überwältigender Mehrheit für seine Gründung.[5] Wer glaubt, dass im Jahr 2023 die Gründung eines Rats, der Menschenrechtsverletzungen in jedem einzelnen Land der Welt dokumentiert und anprangert, möglich wäre?

Trotzdem sind große Teile der Kritik an den Internationalen Organisationen nicht unberechtigt. Entscheidungsprozesse sind langwierig (manchmal strecken sie sich gar über Jahrzehnte) und die Kompromisse ausgesprochen schwer zu erzielen. Kein Wunder, wenn sich Staaten aus 200 Ländern einigen müssen. Und doch liegt es auf der Hand: Die Internationalen Organisationen müssten erfunden werden, wenn es sie noch nicht gäbe. Nur hier können globale Regeln geschaffen werden. Jeder noch so schlechte Minimalkompromiss ist besser als gar keine Einigung. Jede Debatte ohne Ergebnis ist besser als gar kein Dialog. Die Internationalen Organisationen bieten eine Plattform für permanenten Austausch, der Rechtfertigungsdruck erzeugt und Eskalationen reduziert. Die deutlichen Abstimmungserfolge in VN und WHO (!) für die Verurteilung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind einige aktuelle Beispiele. Hier in den Internationalen Organisationen ist der Ort, wo die Staaten Farbe bekennen müssen – eine nicht zu unterschätzende Funktion dieser Institutionen. Auf diese Weise bietet das Abstimmungsverhalten auch Orientierung im globalen Kontext, wie die „Karten des Monats“ des Genfer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung eindrücklich zeigen.

Die Karte des Monats April 2022 zeigt das Abstimmungsverhalten aller Staaten über die Suspension Russlands aus dem VN-Menschenrechtsrat in der VN-Generalversammlung.(Quelle: https://www.kas.de/de/web/multilateraler-dialog-genf/map-of-the-month/detail/-/content/zentrale-abstimmungen-beim-49-un-menschenrechtsrat)

Kritik ist darüber hinaus etwas Positives, wenn sie konstruktiv ist. Verbesserungsbedarf gibt es an etlichen Stellen und er variiert von Institution zu Institution. Allen Institutionen ist mehr politisches Gewicht zu wünschen. So kann der VN-Menschenrechtsrat zwar Beobachter in Länder mit einer schwierigen Menschenrechtssituation entsenden. Es gibt allerdings keinen Sanktionsmechanismus für die Übeltäter. Allerdings gilt auch in diesem Fall: Ein solches Vorgehen bräuchte die Zustimmung aller Mitglieder. Der jetzige VN-Menschenrechtsrat mit seinen eingeschränkten Kompetenzen ist besser als die Abstinenz einer solchen Institution. Noch etwas wäre den Internationalen Organisationen dringend zu wünschen: Mehr Öffentlichkeit. Bis auf wenige Ausnahmen wie den Geneva Observer gibt es kaum Investigativmedien, die sich mit ihnen beschäftigen. Deutlich mehr Öffentlichkeit würde die Probleme in den Institutionen aufdecken, Entscheidungen kritisch hinterfragen und so für effizientere Arbeit und Strukturen sorgen. Denn hier geht es zum einenum wichtige Politikbereiche (Globale Gesundheit, Handel, Menschenrechte, Frieden und Sicherheit) und zum anderen um harte Machtpolitik im Konzert der Staaten der Welt.

Summa summarum ist die Kritik an Internationalen Organisationen oftmals gerechtfertigt. Sie sollte aber in Zeiten, in denen immer mehr Akteure ihre Existenzberechtigung in Frage stellen, konstruktiv und in Maßen geübt werden. Zu kostbar ist die Errungenschaft, Orte für multilaterale Entscheidungen geschaffen zu haben. Orte, die in Zeiten der russischen Aggression und des Systemwettbewerbs an Bedeutung gewinnen. Wir Demokraten sollten sie hegen und pflegen – und verteidigen.


Marcel Schmidt ist Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Abteilung Europa, Nordamerika und Multilateraler Dialog | Department for Europe, North America and Multilateral Dialogue.

[2]https://www.dw.com/de/un-menschenrechtsrat-nimmt-usa-wieder-auf/a-59511854

[3]https://www.rnd.de/politik/trump-erneuert-kritik-an-who-marionette-von-china-UKVLLMFDCPCR4JLWORZ43SNWAI.html

[4]https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/die-leute-fragen-was-macht-das-rote-kreuz-in-russland-ld.1677770?reduced=true

[5] Der VN-Menschenrechtsrat hat die Menschenrechtskommission abgelöst, die es seit 1946 gab. Im Unterschied zur Menschenrechtskommission trifft sich der Menschenrechtsrat viermal so oft und kann in dringenden Fällen Sondersitzungen einberufen.