Dient das noch der Sicherheit oder kann das weg? Die Zukunft der OSZE

von Jan Asmussen

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirft die Frage nach einer Neuorganisation von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatte - nach einem Bedeutungsverlust zum Ende der 1990er Jahre - mit der russischen Invasion der Krim und in der Ostukraine 2014 zeitweise wieder an Gewicht gewonnen. Mit Scheitern der zahlreichen westlichen Bemühungen zur Eindämmung des Konflikts (durch die sogenannten Minsker Vereinbarungen und die Verhandlungen im Normandie-Format usw.) sind auch die von der OSZE geführten Aktivitäten zur Konfliktberuhigung weitestgehend gescheitert. Nun stellt sich die Frage, wie Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zukünftig organisiert werden sollen, wenn der Krieg in der Ukraine beendet ist. Dieser Beitrag behandelt die Frage, ob die OSZE noch der geeignete Rahmen dafür ist oder ob völlig neue oder zumindest reformierte Organisationsformen dafür gefunden werden müssen.

Von der KSZE zur OSZE

In den frühen 1970er Jahren wollten die USA, die Sowjetunion und die wichtigsten europäischen Staaten zentrale politische und sicherheitspolitische Ziele durch multilaterale Verhandlungen erreichen. Das Bemühen um eine umfassende Einigung zwischen Ost und West führte nicht nur zur Schlussakte von Helsinki 1975 und dem anschließenden "Helsinki-Prozess", sondern auch zu den Verhandlungen über gegenseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen. Diese mündeten schließlich 1990 in den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa. Das Ende des Kalten Krieges führte zu einem bemerkenswerten - wenn auch nur kurzen - Konsens unter den Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Dadurch konnten Normen vereinbart und institutionelle und operative Innovationen ermöglicht werden. Ein 1990 auf dem Pariser Gipfeltreffen eingerichtetes Büro für freie Wahlen wuchs schnell und wurde zum Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte. Sein Mandat war weit gefasst und es mischte sich auch stärker in die inneren Angelegenheiten der Staaten ein. Das Konfliktverhütungszentrum, das 1991 in Wien eröffnet worden war, unterstützte die Feldmissionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die ersten dieser Missionen wurden 1992 vereinbart und entsandt. Im Jahr 2000 waren es bereits 19 Missionen. Auf dem Gipfeltreffen von Helsinki 1992 wurde das Amt des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten eingerichtet, dessen Qualitäten der ruhigen Diplomatie und Vermittlung bald im gesamten OSZE-Gebiet sehr geschätzt wurden.

OSZE-Aktivitäten nahmen in den 1990er Jahren stetig zu. Diese folgten zumeist nicht aufgrund eines strategischen Plans, sondern waren Reaktionen auf Ereignisse wie z.B. die Krisen auf dem Westbalkan beim Zerfall Jugoslawiens. Daher kam es im Laufe der 1990er und frühen 2000er Jahre zur Bildung verschiedenster Feldmissionen. Diese variierten von der Konfliktlösung über die Konfliktnachsorge bis hin zur Unterstützung von Übergangsprozessen.

Waren die frühen 1990er Jahre von Konsens gekennzeichnet,[2] kam es bald zu bedeutenden Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Zielrichtung der Organisation. Bereits in den 1990er Jahren hatten Moskau und seine wichtigsten westlichen Gesprächspartner unterschiedliche Vorstellungen von der europäischen Sicherheitsarchitektur. Russland strebte danach, die OSZE zur zentralen Sicherheitsorganisation in Europa zu machen. Diese sollte von einem kleinen Sicherheitsrat im Stil der Vereinten Nationen geleitet werden. Demgegenüber waren die USA und die europäischen Großmächte lediglich bereit, der OSZE einige wichtige Aufgaben zuzuschreiben. Sie zielten darauf ab, dass die NATO und die EU die maßgeblichen politischen und sicherheitspolitischen Akteure in Europa bleiben sollten. Trotz der Beschlüsse von Istanbul im Jahr 1999 konnte dieser Konflikt nicht gelöst werden.[3]

In der Folge zeichnete sich eine Entfremdung Russlands von den westlichen Teilnehmerstaaten ab, die sich seit der Präsidentschaft Wladimir Putins im Jahr 2000 auf fatale Weise verstetigte. Putins Diktum von 2005, wonach der Untergang der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen sei, steht spiegelbildlich für diesen Prozess.[4] Fortan wurde Russland hauptsächlich als Vetospieler innerhalb der OSZE wahrgenommen. Daher schränkte sich der Handlungsrahmen der Organisation immer mehr ein. Daran änderte sich erst etwas, als der Kreml begann, sich in die inneren Angelegenheiten seiner postsowjetischen Nachbarstaaten einzumischen. Dies betraf Georgien (2008) und insbesondere die Ukraine.

Neugeburt der OSZE in der Ukrainekrise 2014

Die erste Aggression Russlands gegen sein Nachbarland Ukraine fand 2014 statt, als russische Truppen unter Anwendung hybrider Kriegsführung zunächst die Krim besetzten und dann in der Ostukraine große Teile der Gebiete Luhansk und Donezk unter ihre Kontrolle brachten. Im selben Jahr schrieb der Autor dieses Beitrags:

„Die Krise hat zu einer Wiederbelebung der OSZE geführt. Während die Vereinten Nationen und die EU nicht in der Lage waren, ein einheitliches Vorgehen zur Lösung der Probleme zu finden, tauchte die OSZE als geeignetes Forum wieder auf. Die nach dem Ende des Kalten Krieges fast ausgelaufene OSZE wurde durch die Krise wiederbelebt und ist zum wichtigsten multilateralen Akteur in dem eskalierenden Konflikt in der Ostukraine geworden. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Sie ist die einzige relevante sicherheitspolitische Organisation, in der beide Konfliktparteien, die EU-Länder, die USA und Kanada, Mitglied sind.“ Schließlich hieß es weiter: “Die Organisation der Minsker Waffenstillstandsverhandlungen war sicherlich der bedeutendste Beitrag der OSZE.”[5]

Aus heutiger Sicht war dies eine Illusion. Zwar kam es zu einem Waffenstillstand, der trotz wiederholter Verstöße und mithilfe der OSZE-Missionen bis Anfang 2021 hielt. Aber zugleich verstärkte Russland seine Aktivitäten zur Destabilisierung der Ukraine und bereitete sein Militär für die Invasion vor. Außerdem blockierte Russland alle Aktivitäten der OSZE, die zu einer Stärkung der Ukraine geführt hätten.

2022 – Scheitern des OSZE-Formats bzw. des westlichen Krisenmanagements

Wenige Wochen vor Beginn des russischen Angriffskriegs behauptete Mirco Günther, dass die OSZE als inklusive Plattform für Sicherheitskooperation in Europa unentbehrlich sei. Dies hätte sich mit der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine gezeigt, deren Einrichtung 2014 er als „Sternstunde“ bezeichnete. Zwischen Juli 2019 und Oktober 2021 hätte die OSZE über 3000 lokale Waffenruhen vermittelt. Allerdings befände sich die Organisation in einer Dauerkrise und am Rande der Handlungsunfähigkeit, was im Wesentlichen auf grundlegende Differenzen mit Blick auf den Wesenskern der OSZE zurückgehe. Westliche Staaten würden den Sicherheitsansatz mit politisch-militärischen, Wirtschafts-, Umwelt- und Menschenrechts-Aspekten betonen, während einige östliche Teilnehmerstaaten vor allem die Zuständigkeit der OSZE im Bereich der Menschenrechte infrage stellen würden. Trotzdem sei die OSZE ein wichtiger Gesprächskanal, der weiterhin aufrechterhalten werden sollte, um eine Plattform für europäische Sicherheit zu bieten.[6]

Der hier postulierte Erfolg der OSZE-Feldmissionen, der sich auch im Jahresbericht der Organisation widerspiegelt, ist allerdings durch den Kriegsausbruch mehr als fraglich geworden.[7] Die kurzfristigen Waffenstillstände haben in jedem Fall nicht zur Deeskalation beigetragen, da diese der Intention der russischen Aggression entgegenliefen.

Diskussionen zur Zukunft der OSZE

Das offensichtliche Scheitern der OSZE wie auch insgesamt des westlichen Krisenmanagements führte dazu, dass die Sinnhaftigkeit der OSZE in ihrer derzeitigen Form fragwürdig wurde. Es überrascht wenig, dass der Diskurs darüber im Wesentlichen von gegenwärtigen oder ehemaligen Mitarbeitern der OSZE bzw. von Wissenschaftlern, die sich mit der OSZE befassen, geführt wird. Im Folgenden sollen nun einige dieser Diskursbeiträge vorgestellt werden:

William H. Hill, der frühere Leiter der OSZE-Mission in Moldawien, warnt, dass die Organisation zu sterben drohe, wenn nicht ernsthafte Reformen vorgenommen würden. Dabei müsse die OSZE erstens „einen Ort für einen echten, substanziellen Dialog über die wesentlichen Sicherheitsfragen bieten. Sollte politische Selbstdarstellung zu ihrem Hauptzweck werden, dann wird die Organisation sterben. Wenn ein oder mehrere Teilnehmerstaaten darauf bestehen, dass die Agenda eingeschränkt werden sollte oder einige Themen ausgeschlossen werden sollten, dann wird die Organisation ebenfalls sterben.“[8] Zweitens müsse die Mitgliedschaft weiter inklusiv sein, d.h. Russland müsse Mitglied bleiben und drittens solle die Organisation an die Umstände angepasst werden und nicht mehr benötigte Institutionen abgeschafft werden. Schließlich müsse viertens das Vertrauen zwischen den Teilnehmerstaaten wiederhergestellt werden.

Der ehemalige Leiter der Strategic Policy Support Unit der OSZE, Walter Kemp, beklagt die Abwesenheit einer Strategie für die Ausrichtung der Organisation. Während die KSZE im Kalten Krieg über eine klare Zielvorstellung verfügte, nämlich bessere Beziehungen unter den Teilnehmerstaaten zu fördern, unter denen ihre Bevölkerungen in Frieden leben konnten, herrsche heute bei der OSZE ein ständiges Beschäftigen mit internen Angelegenheiten, Abläufen und dem Haushalt vor. Nur selten bestünde die Möglichkeit, über weiterreichende Themen zu reden. Die OSZE wurschtele sich durch und die kurzfristige Strategie bestünde darin, zu überleben. Kemp sieht die Lösung in der Entwicklung einer klaren Strategie, die aus der Stabilisierung der Situation im OSZE-Gebiet und  schließlich der Entwicklung einer kooperativen Sicherheitsagenda besteht. Die OSZE sei dafür gut positioniert und ausgestattet und könne so zu einem Ort werden, an dem - wie in den 1980er-Jahren - Rüstungskontrollabkommen und Ähnliches verhandelt werden. Jegliche Strategie hänge allerdings vom Ergebnis des Ukrainekrieges ab.[9]

Wolfgang Zeller, der früher die Leitung des Zentrums für OSZE-Forschung am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg innehatte, entwickelt diese Gedanken weiter, indem er eine Drei-Jahres-Strategie für die OSZE anregt. Demnach hinge die Zukunft der Organisation von der Dauer und dem Ausgang des Krieges in der Ukraine, Russlands abnehmender Stärke sowie vom Tempo des EU-Beitrittsprozesses auf dem Westbalkan ab. Je nach Kriegsausgang könne der OSZE eine gewisse Rolle beim Monitoring der Vereinbarungen zukommen. Tendenziell sei aber eher eine geringere Bedeutung für die OSZE zu erwarten. Russlands Einfluss werde in jedem Fall abnehmen. Dies könnte auch zur Schwächung der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit führen. Der damit verbundene sinkende russische Einfluss im Südkaukasus und in Zentralasien würde der OSZE neue kooperative Optionen ermöglichen. Auf dem Westbalkan hingegen würde der EU-Beitrittsprozess zu einer Reduktion der OSZE-Aktivitäten führen. Um die Beschlussfähigkeit der OSZE zu gewährleisten, sei die Konsensfalle, also das Einstimmigkeitsprinzip der OSZE, zu überwinden. Dazu könnte Russland im Rahmen der Konsens-minus-eins-Regel ausgeschlossen werden, was aber angesichts anderer russlandfreundlicher Staaten wie Belarus unwahrscheinlich sei. Allerdings könnte das russische Veto durch informelle Abläufe umgangen werden, die vom Vorsitz und der Troika organisiert werden. So könnte dann ein inklusiver Dialog mit oder ohne Russland zur Beendigung der russischen Aggression und zu anderen regionalen Sicherheitsthemen angestoßen werden. Die weitere Umsetzung von OSZE-Normen sollte dann durch die Arbeit des Büros für demokratische Menschenrechte, des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten und der Beauftragten für Medienfreiheit fortgeführt werden. Im Übrigen sollte sich die OSZE stärker auf ihr Engagement im Südkaukasus und in Zentralasien konzentrieren, während sie für die Vermittlung eines zukünftigen Waffenstillstandsabkommens zwischen Russland und der Ukraine nicht besonders gut geeignet sei. Die UNO sei hierfür besser geeignet und die OSZE könne eher ihre Erfahrungen zur Umsetzung beisteuern. Auch bei der Rüstungskontrolle könne die Organisation hilfreich sein, weshalb das Forum für Sicherheitskooperation beibehalten werden solle. Schließlich regt Zellner an, die drei Jahre bis 2025 zu nutzen, um einen Diskussionsprozess über die Zukunft der OSZE zu organisieren. [10]

Cornelius Friesendorf, Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung am IFSH, beschäftigte sich mit der Frage eines Ausschlusses Russlands aus der OSZE. Er warnt, „dass eine solche Entscheidung kostspielig sein könnte. So würde sie jeden künftigen Dialog mit Russland über Fragen von gemeinsamem Interesse ausschließen. Außerdem wäre eine Initiative zur Suspendierung Russlands politisch riskant, da sie andere OSZE-Staaten, die enge Beziehungen zu Russland unterhalten, vor ein Dilemma stellen würde.“ Stattdessen schlägt er vor „die OSZE unter anderem durch eine höhere, verlässliche und mehrjährige Finanzierung zu stärken“.[11] Es bleibt dabei unklar, was eine bessere finanzielle Ausstattung bringen würde, wenn Russland weiterhin als ein destruktives Mitglied in der Organisation verbleiben würde.

Wie grotesk die Beibehaltung der OSZE unter den gegenwärtigen Bedingungen ist, zeigte sich auf der Parlamentarischen Versammlung der Organisation, die am 23.-24. März 2023 in Wien stattfand. Die russische Delegation konnte dazu anreisen, obwohl sechs ihrer Mitglieder laut österreichischem Außenministerium mit EU-Sanktionen belegt waren. Österreich argumentierte, dass es als Gastgeber verpflichtet gewesen sei, Gesandten aus OSZE-Ländern die Einreise zu genehmigen. Da sich zum Ausschluss der Delegation keine Mehrheit fand, boykottierten die Ukraine und Litauen die Versammlung. Zwanzig weitere Länder protestierten gegen die Anwesenheit der Russen.[12]

Von 1973 bis 1990/91 waren die Teilnehmerstaaten der OSZE in drei Hauptgruppen unterteilt: NATO, Warschauer Pakt und neutrale, nicht paktgebundene Staaten. Heute gehören viel mehr Teilnehmerstaaten der NATO und der EU an als vor 1991, wobei sich ihre Mitgliedschaft weitgehend, wenn auch nicht vollständig, überschneidet. Die Zahl der neutralen und bündnisfreien Staaten in der OSZE ist deutlich geringer geworden. Außerdem streben viele von ihnen eine Mitgliedschaft in der EU oder sogar in der NATO an und teilen daher weitgehend die Positionen der EU. Im Gegensatz dazu ist die Zahl der mit Russland verbündeten Teilnehmerstaaten gering.

William Hill, der als US-Diplomat lange bei der OSZE tätig gewesen ist, meint, dass die Teilnehmerstaaten und Personen, die sich für die OSZE engagieren, akzeptieren müssten, dass diese Institution in Zukunft wahrscheinlich weniger aktiv und ehrgeizig sein werde, da es keinen Konsens unter den Teilnehmerstaaten gäbe. Auch ihre Größe und die ihrer Budgets würden abnehmen müssen.[13]

Die zentrale Aufgabe der OSZE jedoch, einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung einer Sicherheitsarchitektur in Europa und darüber hinaus in Zentralasien und im atlantischen Raum und der Arktis zu leisten, wird nicht mehr erfüllt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Organisation in ihrer jetzigen Form obsolet geworden ist und unter Beibehaltung oder Überführung erhaltungswürdiger Elemente abgewickelt werden sollte.

Dabei geht es auch um die Erhaltung wichtiger Institutionen und Normen: des Konfliktverhütungszentrums, der Feldmissionen, des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten, des Beauftragten für Medienfreiheit und einer Reihe von normativen Dokumenten. Diese sollten nicht aufgegeben werden.

Mette Eilstrup-Sangiovanni vom Department of Politics and International Studies der Universität Cambridge regt an, nach Vorbild des Völkerbundes Strukturen der OSZE in eine veränderte Organisation zu übernehmen. Dabei könnte eine dauerhafte Plattform für den Dialog zwischen Europa und einigen eurasischen Staaten geformt werden, die eine spätere Rückkehr Russlands offenließe.[14] Auch Jos Boonstra vom Centre for European Security Studies in Groningen schlägt die Loslösung der beschlussfassenden Organe der OSZE von den restlichen Strukturen und Organen der OSZE vor.[15]

Deutschland positioniert sich in dieser Frage eher im Rahmen einer Vogel-Strauß-Politik. Das Auswärtige Amt (AA) verkündet auf seiner Homepage: „Deutschland wird die OSZE, die Generalsekretärin Helga Schmid und den Vorsitz, den 2023 Nordmazedonien übernimmt, weiter dabei unterstützen, dass die OSZE gut funktioniert.“[16] Auf den De-facto-Zusammenbruch der OSZE-Aktivitäten geht das AA zwar ein, indem es den russischen Angriffskrieg und die russische Blockadepolitik dafür verantwortlich macht. Dennoch wird die Etablierung „einer freiwilligen Staatengruppe, darunter Deutschland“ gelobt, die „in enger Abstimmung mit den ukrainischen Partnern“ ein neues Programm auf die Beine gestellt hätte, mit dem „die OSZE ihr vor mehr als 28 Jahren begonnenes Engagement zur Unterstützung der Ukraine“ fortsetzen würde. Außerdem wird die Wichtigkeit des Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) und die Möglichkeit erwähnt, der OSZE eine besondere Rolle bei der Bewältigung der Klimakrise zuzuschreiben.[17]

Während Letzteres wohl mehr deutsches Wunschdenken denn Initiative ausdrückt, ist der Hinweis auf das ODIHR und - auch wenn das AA diese unerwähnt lässt - andere wichtige OSZE- Institutionen sicherlich richtig. Nur steckt in der behaupteten Fortführung der OSZE-Aktivitäten in der Ukraine eben das Gegenteil: Die OSZE ist wegen der russischen Blockade nur auf Initiative einer freiwilligen Staatengruppe tätig und damit entsteht de facto eine völlig andere Organisationsform.

Auch die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet die Organisation als „eine wichtige Plattform, um integrierte Sicherheit in Europa weiterzuentwickeln“. Daher würde Deutschland „die OSZE und ihre Institutionen als Akteure beim Erhalt von Demokratie und Menschenrechten“ fördern.[18] Dabei bleibt unklar, wie relevant dies über die demokratischen Mitgliedsstaaten hinaus noch ist. Zur Rüstungskontrolle wird, ohne das Russland explizit genannt wird, erwähnt, dass sich Deutschland dafür einsetze, dass praktische „Instrumente der Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung unter dem Dach der OSZE“ genutzt werden sollten.[19] Auch bei der Abwehr hybrider Bedrohungen in EU und NATO wird neben der G7 und der NATO-EU-Zusammenarbeit die OSZE als Forum beschrieben; allerdings ohne zu spezifizieren, wie man hybriden Gefahren begegnen will, die ja in nicht unwesentlichem Maße vom Teilnehmerstaat Russland ausgehen.[20]

Wenn aber de facto eine neue Organisation entsteht, in der u.a. auch den hybriden Bedrohungen durch Russland begegnet werden soll, warum wird dann darüber nicht gesprochen? Und wer sollte dieser Organisation angehören?

Zukunft von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Angesichts der russischen Dauerblockade stellt eine Verstetigung der von der OSZE praktizierten informellen Prozeduren durch Freiwilligenkoalitionen und Troikainitiativen keine Lösung dar. Daher gibt es mittelfristig nur zwei Lösungswege:

a) den dauerhaften Ausschluss Russlands aus der Organisation oder

b) die Neugründung bzw. Überführung von Teilen der Organisation in bereits bestehende Formate.

Ein Ausschluss Russlands wäre aus den bereits genannten Gründen nur schwer zu realisieren. Daher scheint es sinnvoll, einen Diskussionsprozess zu starten, bei dem über die Überführung verschiedener funktionstüchtiger Institutionen der OSZE in andere Formate gestartet wird. Möglich wäre hier die Erweiterung diverser Partnerschaftsprogramme der EU und der NATO. Das ODIHR könnte vielleicht im Rahmen des Europarats eine neue Heimstätte finden. Die Aktivitäten der OSZE in Zentralasien könnten in einen neuen Europa-Zentralasien-Dialog einfließen, in den die entsprechenden Arbeitsgruppen der OSZE eingebunden werden könnten. Ähnliches gilt für die bisherigen OSZE-Aktivitäten im Südkaukasus. Das Vereinigte Königreich, Kanada und die Vereinigten Staaten könnten in diese neu gefassten Formate entsprechend eingebunden werden.

Die Entwicklung der zukünftigen Beziehungen Russlands - und seines De-facto-Marionettenregimes in Belarus - zu den übrigen gegenwärtigen OSZE-Teilnehmerstaaten ist schwierig vorauszusehen und hängt nicht zuletzt vom Ausgang des Ukrainekrieges ab. In jedem Fall ist zu konstatieren, dass es bei der Frage nach der Sicherheitsarchitektur in Europa künftig im Wesentlichen darum gehen wird, wie Sicherheit vor russischer Bedrohung erreicht werden kann. Hierfür sind die NATO und die EU die besseren Foren, in die kooperationswillige Partnerstaaten eingebunden werden können. Abrüstungsverhandlungen könnten dann ebenfalls im wiederbelebten NATO-Russland-Format stattfinden. Dafür ist die OSZE in Zukunft nicht vonnöten. Dies gilt umso mehr, als die eurasische Sicherheit in Zukunft nicht mehr ohne China gedacht werden darf und somit globaler organisiert werden muss.

Ob am Ende eines Umdenkens bei der Neuorganisation der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und darüber hinaus noch eine Organisation namens „OSZE“ steht, ist dabei unerheblich. Wichtig ist, dass Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa neu gedacht werden, erhaltenswerte Elemente bestehen bleiben und Redundantes abgebaut wird.


Privatdozent Dr. Jan Asmussen ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Professor an der Fakultät für Marineführung und -operationen der Polnischen Marineakademie. Außerdem ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel tätig. Im Jahr 2009 habilitierte er sich an der Universität Kiel mit einer Arbeit über die anglo-amerikanische Diplomatie im Kalten Krieg und neuere internationale Strategien der Staatsbildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Konfliktforschung, Staatsbildung, Versöhnung und politische Entwicklungen in Europa, dem Nahen Osten sowie Ost- und Südostasien.

[2] Hierzu zählen die Verabschiedung der „Charta von Paris“ (1990), des „Kopenhagener Dokuments“ (Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE, 1990), des „Wiener Dokuments über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen“ (1990) und des Dokuments „Die Herausforderung des Wandels“ (1992).

[3] Dort wurde mit der „Europäischen Sicherheitscharta“ eine Hierarchie europäischer Sicherheitsinstitutionen angeregt. Außerdem kam es zum „Angepassten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa“, der allerdings nicht vollständig ratifiziert wurde oder in Kraft getreten ist.

[4] Poslanie Prezidenta RF V.V. Putina Federal'nomu Sobraniju RF, 25 aprelja 2005g.

[5] Jan Asmussen, „International Crisis Management and Human Security in the Framework of ‘Hybrid Wars’ and Unrecognized States: Lessons Learned from Ukraine, Security and Human Rights, 25 (2014), S. 1-11, 8, (übersetzt durch den Autor).

[6] Mirco Günther, „Hoffnungsträgerin in Gefahr. Die OSZE befindet sich in einer Dauerkrise. Eine inklusive Plattform für Sicherheitskooperation in Europa ist langfristig jedoch unentbehrlich“, IPG Journal, 24.1.2021, www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/hoffnungstraegerin-in-gefahr-5675.

[7] OSCE (ed.), OSCE Annual Report 2021, Vienna 2022, www.osce.org/annual-report/2021, S. 29-38.

[8] William H. Hill, „Hat die OSZE eine Zukunft?“, Cornelius Friesendorf and Argyro Kartsonaki (Hrsg.), OSCE Insights 1/2022 (Baden-Baden: Nomos, 2023), doi.org/10.5771/9783748933632-01, S. 7.

[9] Walter Kemp, „Warum die OSZE eine Strategie braucht“, in: OSCE Insights, Hrsg. Cornelius Friesendorf und Argyro Kartsonaki (Baden-Baden: Nomos, 2023), doi.org/10.5771/9783748933632-021, S. 7-10.

[10] Wolfgang Zellner, „Eine Drei-Jahres-Strategie für die OSZE“, in: OSCE Insights, Hrsg. Cornelius Friesendorf und Argyro Kartsonaki (Baden-Baden: Nomos, 2023), doi.org/10.5771/9783748933632-05, S. 2-8

[11] IFSH, „Sollte Russland aus der OSZE ausgeschlossen werden?“, 24.02.2023, ifsh.de/news-detail/sollte-russland-aus-der-osze-ausgeschlossen-werden.

[12] Tagesschau, „Treffen der OSZE-Parlamentarier. Scharfe Kritik an russischer Delegation“, 23.02.2023, www.tagesschau.de/ausland/osze-russland-kritik-101.html.

[13]. William H. Hill, Hat die OSZE eine Zukunft?, in: OSCE Insights, Hrsg. Cornelius Friesendorf und Argyro Kartsonaki (Baden-Baden: Nomos, 2023), doi.org/10.5771/9783748933632-01, S. 10.

[14] Mette Eilstrup-Sangiovanni, „The OSCE in Crisis: Five Lessons from the League of Nations“, in: OSCE Insights, Hrsg. Cornelius Friesendorf und Argyro Kartsonaki (Baden-Baden: Nomos, 2023), doi.org/10.5771/9783748933632-03, S. 13/14.

[15] Jos Boonstra, „The OSCE: Back to Square One?“, in: Russia’s War against Ukraine: Implications for the Future of the OSCE, OSCE Network Perspectives I/2022, eds. Cornelius Friesendorf and Stefan Wolff (OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions, June 2022), S. 16, osce-network.net/fileadmin/user_upload/OSCE_Network_Perspectives_2022_20June_final.pdf

[16] Auswärtiges Amt, „2022 war ein schwieriges Jahr für die OSZE: Wie die Organisation mit der russischen Blockadepolitik umgeht und warum es sich lohnt, die Arbeit der OSZE zu unterstützen“, 1.12.2022, www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/sicherheitspolitik/-/2565858.

[17] Ibid.

[18] Auswärtiges Amt (Hrsg.), Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie, Berlin Juni 2023, S. 39.

[19] Ibid., S. 44.

[20] Ibid., S. 47.