Strategie, um dem Ende des Ukraine-Kriegs näher zu kommen.

von Anne Holper und Lars Kirchhoff

Die folgenden Thesen, die von der Redaktion gekürzt und neu gegliedert wurden, entstammen einem längeren Text von Anne Holper und Lars Kirchhoff.[1]
So abstrakt sie noch sind, zeigen sie, dass Vereinbarungen und Verhandlungen nicht mit Defaitismus zu Lasten der Ukraine identisch sein müssen, ohne in der Einbahnstraße der rein militärischen Eskalation zu verharren. - C.B.

„….14 Monate nach Beginn des russischen Angriffs, ist die Lage unübersichtlich: ein zuverlässiger, dabei bewusst dosierter Zufluss von Waffen und Panzern, Unwägbarkeiten mit Blick auf die transatlantischen Perspektiven nach der US-Präsidentenwahl, x-fach gezogene und überschrittene rote Linien, höchst unterschiedlich motivierte Initiativen und Appelle in Richtung von Friedensgesprächen, ein ambivalentes Agieren von China.

Eine teils stumme, aber gestiegene Furcht vor weiterer Eskalation, zudem erste Risse in der breiten Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung in einigen Staaten – einschließlich Russland… Die in allen Konflikten relevante, aus der Retrospektive oft sogar entscheidende Phase der „talks about talks“, also des Tauziehens um Zeitpunkt, Art und Inhalt der Suche nach politischen Lösungen hat begonnen.

Waffenlieferungen sind für Selbstverteidigung der Ukraine da

Ein guter Moment, um zu überlegen, wie die jetzige militärische Strategie am Ende tatsächlich zu einer akzeptablen politischen Lösung führen kann. Denn wenn das militärische Ziel (Baerbock: „Stärkung der Ukraine, bis sie frei über ihre Zukunft entscheiden kann“) erreicht ist, braucht es einen sicheren Korridor, der beide Konfliktparteien aus dem Krieg und seinen Pfadabhängigkeiten herausführt. Schließlich sind die Waffenlieferungen dafür da, die Ukraine zur Selbstverteidigung zu befähigen und die russischen Entscheidungsträger für den völkerrechtswidrigen Krieg zu sanktionieren, nicht aber, Russland perspektivisch geopolitisch auszuschalten.
Aus genau diesem Unterschied die Konsequenzen für die eigene politische Strategie und politische Kommunikation zu ziehen, könnte der Schlüssel für die Beendigung des Krieges sein: Anders als das russische imperiale Narrativ es sieht, will die vereinte militärische Wucht des „kollektiven Westens“ Russland keineswegs zerstören. Sein Ziel ist es, den imperialen Anspruch in aller Schärfe zurückzuweisen und für die Zukunft zu unterbinden. Damit spricht er Russland keineswegs ein legitimes Interesse an einer relevanten Rolle in der zukünftigen globalen Sicherheitsarchitektur ab. Die westlichen Staaten weisen jedoch klar Russlands Bedingung zurück, einseitig die Grundanatomie dieser gemeinsamen Sicherheitsarchitektur zu diktieren.

In der entscheidenden Phase werden Kriege auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch zugleich ausgefochten

Um Missverständnissen und vorschnellen Abwinkreflexen („Zeit noch nicht reif für Verhandlungen“, „Verhandeln heißt die Ukraine zu opfern“) vorzubeugen, drei Eckpfeiler vorab:

-Ja: Es war auch aus unserer Sicht einzig richtig, bis zum heutigen Tag nicht zu verhandeln: Die formulierten Vorbedingungen der russischen Gesprächsangebote (Stichwort Diktatfrieden) verlangten eine Selbstaufgabe der Ukraine. Mit der Überlassung der umkämpften Territorien an Russland wie gefordert hätte sich die Ukraine Russland politisch unterwerfen müssen, der eklatante Völkerrechtsbruch wäre politisch besiegelt worden.

-Ja: So lange sich eine oder beide Kriegsparteien von der entschieden fortgesetzten militärischen Konfrontation eine bessere Ausgangsbasis für künftige Verhandlungen versprechen, ist es naiv bis kontraproduktiv, einen Waffenstillstand als Gesprächsbedingung und „Geste guten Willens“ zu fordern. Sie werden weiterkämpfen, bis eine Verhandlungslösung absehbar ist, die besser ist als der erreichte und weiter erwartbare Kampfgewinn. Aber das ist nur auf den ersten Blick ein Dilemma: Militärisches und diplomatisches Ringen laufen oft für eine signifikante Phase parallel, erst im Zusammenspiel von beidem werden Kriege beendet. Die kompromisslose Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzung (samt Waffenlieferungen ohne „rote Linien“) muss allerdings eng mit der Auslotung perspektivischer Verhandlungspfade (etwa über die Inhalte einer späteren Ko-Existenz mit Russland) verzahnt werden.

-Und: Kommt es zu Verhandlungen, bedarf es dreierlei: realistischer Erwartungen hinsichtlich des Erreichbaren (Ko-Existenz statt Frieden); Härte gegenüber Russland, zu untermauern und aufrechtzuerhalten durch eine langfristige militärische Drohkulisse; und maximalen Pragmatismus hinsichtlich der notwendigen Kompromisse (auch in der Frage, wer vermittelt). Für unabdingbar halten wir insbesondere einen kühl-realistischen Blick auf die russische Führung, die die Existenz der Ukraine unverhohlen als „zu korrigierenden historischen Fehler“ einstuft. Putin hat sich – sozusagen final und irreversibel – moralisch-normativ enttarnt. Jegliche Naivität ist fehl am Platz, wenn man Verhandlungen mit ihm vorausdenkt.

Vier Stellschrauben zu gebündelter Hebelwirkung verbinden

Die Karten der echten Systemkonfrontation sind auf dem Tisch. In seiner Rede zur Nation am 21. Februar 2023 ließ Putin keinen Zweifel daran, dass er seinen Plan zur Wiederherstellung des großrussischen Imperiums als direkte globale Systemkonfrontation versteht. Zuvor hatte allerdings auch die Nato der Ukraine in neuerlicher Transparenz ihre Unterstützung „bis zum Sieg“ zugesichert. Die Besuche von US-Präsident Biden in Kiew und in Warschau zeigten, dass die Konfrontation ebenso von Seiten der USA ehrlicher, direkter und damit gefährlicher geworden ist.

Die beidseitige Ausweitung der Kampfzone (bzw. Benennung ihres eigentlichen Ausmaßes) erfordert, die für den weiteren Verlauf zentralen Stellschrauben mit einer wirklich gemeinsamen Strategie – statt wie bislang in vielen unverbundenen Einzelaktivitäten – anzugehen.

Aus unserer Sicht sind dies folgende vier Stellschrauben:

  1. die sich ständig verschiebenden Dynamiken auf dem Schlachtfeld
  2. das komplexe System künftiger Sicherheitsgarantien
  3. die Neukonfiguration der globalen Rollenverteilung
  4. auf Basis von alledem, Verhandlungen rund um die territorialen Fragen und eine russisch-ukrainische Ko-Existenz.

Ad. 2. Perspektivisch entscheidend, aber noch unterbelichtet sind dabei insbesondere die Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach dem Krieg: wie genau will man die präventive Aufrüstung der Ukraine und des Baltikums, Bündnisfragen und Garantiesysteme jenseits der Nato für die politische Lösungsfindung einsetzen?

Ad. 3. Politiker und geostrategische Experten müssen zudem jetzt dringend multilateral ausloten – und das wird nur unter Einbezug Russlands gehen –, welche neue globale Rolle für Russland in welchem künftigen Zusammenspiel von China, Russland, der EU und den USA denkbar ist. Gefunden werden muss eine Rolle, die Russland in der innen- und außenpolitischen Bilanz mehr wert sein könnte als die Fortführung des Kriegs in der Ukraine, und die zugleich für die Ukraine und den Westen akzeptabel wäre.

Eine Rolle, die mit diesen konträren Interessenhorizonten kompatibel ist, kann man nur in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess erarbeiten. Von der russischen Haltung, die eine „multipolare Weltordnung“ zur Gesprächsvorbedingung erklärt, sollte man sich daher nicht provozieren lassen. Das Thema muss als offensichtlich aushandlungsbedürftiger Punkt (wie auch die Reaktionen von Ländern wie Brasilien bis Südafrika zeigen) auf die Agenda zukünftiger multilateraler Verhandlungen, nur ohne unilaterale Vorbedingungen.

Ad 4. Verhandlungsszenarien
- auch mit Putin – und Nachfolgern – durchspielen

So erstrebenswert, um es mit der markanten Formulierung von Christoph Heusgen, dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz zu sagen, eine „Entputinisierung“ Russlands wäre, so unklug erscheint es uns aufgrund der nicht kalkulierbaren innenpolitischen Entwicklungen und ungewissen Zeithorizonte, den Abgang oder die Absenz von Putin zu einer Vorbedingung für Verhandlungen zu erklären.

Unweigerlich landen wir damit aber in einem echten Dilemma. Denn wir wissen, dass Putin aus jeder politischen Lösung, die er mitgestaltet, propagandistisch etwas machen kann und wird. Und dass nur substanzielle innenpolitische Risse in der Aura des „Zaren und erfolgreichen Feldherren“ das ihn stützende System aus Angst und Loyalität ins Wanken bringen können.

Kurzum: Verhandlungen mit Putin erschweren das Aufschlagen eines wirklich neuen Kapitels, eines echten „Danach“, da selbst ein in Schach gehaltener Putin seiner Ideologie und seinen Machtmechanismen im Grundsatz treu bliebe.

Und doch liegt exakt darin ein erster Ansatz: als Denkoption anzuerkennen, dass im Zweifel – zumindest indirekt – Verhandlungen mit dem System Putin anstehen und in diesem Szenario verschiedene mögliche Pfade vorauszudenken. Und anzuerkennen, dass ein etwaiger Nachfolger sicherlich ebenso kein Vertreter der liberalen Demokratie sein wird.

- Bei russischen Narrativen zwischen propagandistischen Lügen und historischen Narben unterscheiden

Konflikt bedeutet Polarisierung, Systemkonflikte bedeuten eine komplette Negierung und Abwertung der jeweils anderen Perspektiven. Friedensgespräche beginnen daher oftmals mit dem öffentlichen Anerkennen selbst kleiner legitimer Punkte in der Sichtweise der anderen Seite. Erneut und in aller Klarheit: der Großteil der im letzten Jahr von Moskau vorgetragenen Punkte sind dreiste Lügen, die zu enttarnen sind.

Es wäre daher ein Zeichen von Souveränität, nicht Schwäche, russischen Narrativen an einigen politisch tragbaren und symbolisch wertvollen Stellen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem man deren legitime Bruchteile anerkennt, ohne zuzulassen, dass dies für propagandistische Interpretationen missbraucht werden kann.

So könnte auch von westlicher Seite bestätigt werden, dass es sich mittlerweile um einen indirekten Krieg zwischen den USA und Russland handelt. Und dass es durchaus legitime russische Sicherheitsinteressen gab und gibt, die der „kollektive Westen“, so propagandistisch der Begriff längst besetzt ist, teils bewusst aus strategischen Gründen missachtet hat.

In diesem Sinne kann eine bessere Differenzierung zwischen den Lügen Moskaus, die der Aufrechterhaltung der Kriegsmotivation dienen, und dem Aufzeigen echter Narben, die Russland aus dem Ende des Kalten Krieges davongetragen hat, einen neuen hart und ehrlich geführten Dialog eröffnen. So schwer diese Differenzierung im Angesicht russischer Kriegsverbrechen fallen mag.

- Putins und Russlands Größenanspruch durch eine neue Rolle „de-territorialisieren“

Während aus völkerrechtlicher Perspektive mit Blick auf künftige Territorialfragen nur die ukrainische Position legitim ist, fordert die – sich ohnehin vollziehende – geostrategische und sicherheitspolitische Neuordnung von uns, auch russische Interessen mitzudenken. Die Kernfrage lautet hier: Unter welchen Bedingungen würde sich Putin aus dem Krieg zurückziehen, ohne dass dafür Territorium der Ukraine geopfert werden müsste?

Mit dem (völkerrechtlich natürlich nichtigen) Versuch einer normativen Absicherung seiner territorialen Fantasien hat Putin sich in dieser Hinsicht auf den ersten Blick ja manövrierunfähig gemacht. Allerdings: Anders als etwa Nordkorea ist Russland mit Blick auf Fläche und Bedeutung tatsächlich groß; der entscheidende Twist müsste also sein, die Sehnsucht nach global wahrgenommener Größe und Macht auf eine nicht-territoriale Weise zu verwirklichen.

Die besagte neue Rolle muss daher für Russland mehr wert sein als die territoriale Einverleibung und politische Unterwerfung der Ukraine, zugleich müssen die Ukraine und der Westen diese akzeptieren können. Angesichts der brutalen Kriegstreiberei ist eine konstruktive Rolle auch perspektivisch schwer vorstellbar. Und doch muss der Versuch unternommen werden, Russland aus der Logik der Zerstörung herauszuholen (und in die des Mitgestaltenden und Mitverantwortlichen hineinzuholen).

Legitime Rachegelüste gegenüber Putin dürfen nicht in eine Respektverweigerung gegenüber Russland in der künftigen internationalen Systemarchitektur münden. Moralisch, für die Gegenwart und die Geschichtsbücher hat Putin eine Erniedrigung Russlands ohnehin selbst zu verantworten.  

- mehrere eigen-interessierte, parteiliche Vermittler sich gegenseitig austarieren lassen

Am wirkungsvollsten überträgt sich die militärisch hart erarbeitete Hebelwirkung auf die anstehenden Aushandlungen, wenn die Rolle und Komposition einer „vermittelnden Drittinstanz“ pragmatisch neu gedacht wird. Weder der Papst noch kleine neutrale Staaten werden der Reichweite und dem Polarisierungsgrad dieses Konfliktes gewachsen sein, auch die

Konkret: Voraussichtlich werden wir in diesem Krieg eine multilateral (etwa von den Vereinten Nationen), eher technisch orchestrierte Kontaktgruppe als Vermittlungsinstanz sehen, der eine Reihe von Staaten angehören werden, die vom Idealbild des „honest broker“ meilenweit entfernt sind, die keine moralisch makellose Instanz, sondern jeweils parteilich und eigen-interessiert sein werden. Allerdings könnte in der Zusammenschau eine Art „bilanzielle Ausbalancierung“ der jeweiligen „Schlagseiten“ möglich sein.

- Chinas Restambivalenz strategisch nutzen statt abwerten

Ein Fokus liegt aktuell auf China, und dies völlig zu Recht. Denn die spätere Systemarchitektur muss sich bereits in der Grundanlage der Gesprächsarchitektur abbilden. Ein Ende des Krieges ohne Rolle von China als Vermittler oder Unterstützer des Prozesses wäre kontraproduktiv und würde dessen Nachhaltigkeit gefährden.

Mittlerweile ist klar, dass China auf einer perspektivischen Lösung mindestens seine Fingerabdrücke hinterlassen wird, vielleicht sogar dafür sorgen wird, dass eine Lösung linear seine Interessen abbildet. Dafür könnte sich China, das seine geostrategischen Interessen bislang durch zunächst kühle, dann diffuse Zurückhaltung am besten vertreten sah, dazu entscheiden, diese Interessen im Schulterschluss mit Russland besser durchsetzen zu können oder es aber bei einer zynischen “Neutralität zugunsten Russlands“ zu belassen.

- Realisierbare Verhandlungsgewinne greifbar machen

Bleibt die oft eher lakonisch gestellte Frage: Was gibt es denn überhaupt zu verhandeln? Aus vermittlungsmethodischer Perspektive lautet die Antwort: Viel. Auch dann, wenn alle Prinzipien und Ansprüche vollumfänglich gewahrt, also nicht-verhandelbar bleiben, die sowohl aus Sicht der Ukraine als auch der internationalen Normenordnung nicht antastbar sein dürfen.

Konkret sind dies: die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, umfassende Reparationen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger. Es verbietet sich auch aus unserer Sicht tatsächlich, über Verhandlungen zu sprechen, ohne diese Prinzipien anzuerkennen.

Die Wertschöpfungspotenziale liegen auf den angrenzenden Feldern: im Umfang und in der Art des Wiederaufbaus der Ukraine, in neuen Allianzen, Sicherheitsgarantien und Schutzmächten, in Bündniszusagen und -moratorien, in dem genauen, differenzierten System der Aufklärung und Verfolgung von Kriegsverbrechen, im perspektivischen Umgang mit (und möglichen Abbau von) den Sanktionen gegen Russland, dem Aufbau neuer Handelsachsen, den Rechten ethnischer oder sprachlicher Minderheiten.

Und vor allem: im Versuch, die perspektivische Ko-Existenz zwischen der Ukraine und Russland als Nachbarn im Angesicht von Hunderttausenden Toten zu ermöglichen und zu gestalten.“


[1]     Anne Holper und Lars Kirchhoff. Vier Stellschrauben sind wichtig, um dem Ende des             Ukraine-Kriegs näher zu kommen. Focus, April 2023. https://m.focus.de/politik/anne-holper-und-lars-kirchhoff_id_97654467.html (Zugriff 25.5.2023):   Dr. Anne Holper und Prof. Dr. Lars Kirchhoff sind im Bereich der Friedens- und             Konfliktforschung an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) tätig.