Die europäische und deutsch-deutsche Entspannungspolitik – eine Hoffnung für viele Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR und zugleich ein Dilemma der SED-Diktatur - Und welche Rolle spielte die Ausreisebewegung.

Von Günter Jeschonnek

Wenn wir an den Beginn des europäischen Entspannungsprozesses denken, sollte nicht vergessen werden, dass die ersten Initiativen Mitte der 60iger Jahre vom Ost-Block ausgingen. Die Staaten des Warschauer Paktes schlugen den westlichen Verbündeten 1966 vor, in einer ersten Konferenz über die Wahrung des Friedens in Europa und Formen der Zusammenarbeit zu diskutieren. Der Westen, insbesondere die bundesdeutsche Regierung, hatte aber Bedenken, dass damit die Teilung Deutschlands manifestiert werden sollte. Der NATO-Rat stimmte deshalb erst 1970 unter der Voraussetzung zu, auch über Deutschland und den Status Berlins miteinander zu sprechen. Der damit in Gang gesetzte Diskussionsprozess führte schließlich am Ende der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki 1975 zur Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte. Das war nach dem 2. Weltkrieg natürlich der Höhepunkt der Entspannungspolitik, der große Hoffnungen bei den Bürgerinnen und Bürgern in Ost und West auslöste. Allein die Tatsache, dass sich die Teilnehmerstaaten verpflichteten, auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt zu verzichten, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu respektieren, zur friedlichen Regelung von Streitfällen bereit zu sein, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der anderen Teilnehmerstaaten einzumischen, die allgemein gültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten und zu gewähren sowie die Zusammenarbeit zu entwickeln und auszubauen, war ein enormer Fortschritt zur Stabilisierung des europäischen Friedens. Klar, die Systemunterschiede waren damit nicht nivelliert, aber auf dieser Grundlage konnte man sich politisch annähern und Brücken bauen. Die Angst vor gegenseitiger Bedrohung nahm erst einmal ab. Vor allem die Ostblockstaaten setzten auf bessere wirtschaftliche Beziehungen, was dem Westen wegen der riesigen Absatzmärkte und der fehlenden Innovationen im Ostblock natürlich auch entgegenkam. Der Westen forcierte neben dem wirtschaftlichen Austausch und der Kreditvergaben im Gegenzug die Einhaltung der Menschenrechte und die damit verbundenen Freiheitsrechte im Ostblock, was den Bürgerrechtsbewegungen zuerst in Polen und in der Tschechoslowakei Auftrieb verlieh und sie stärkte.

In der DDR dauerte es länger, bis sich unter dem Schutz der Schlussakte von Helsinki und den nachfolgenden Konferenzen von Belgrad, Madrid und Wien christliche Friedens- und Menschenrechtsgruppierungen sowie eine kleine politische Opposition formierten. Die SED-Diktatur profitierte zunehmend von deutsch-deutschen Verhandlungen und Verträgen, und auch der familiäre Zusammenhalt zwischen den Deutschen in Ost und West kaschierte bis zum Mauerfall die mangelnde Versorgung mit Konsumgütern.

Als der damalige SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, der in Anwesenheit von Bundeskanzler Helmut Schmidt und den anderen Staatschefs der Teilnehmerstaaten die Schlussakte von Helsinki unterzeichnete, wird er nicht vermutet haben, dass in der Folge die innerstaatlichen Erosionen zunehmen und schon 14 Jahre später der erste sozialistische deutsche Arbeiter- und Bauernstaat Geschichte sein wird. Ihm und seinen SED-Funktionären war es erst einmal wichtig, diese Form der Anerkennung auf internationalem Parkett zu erhalten und seine Diktatur nach innen zu stabilisieren. Die SED-Führer wollten als eigenständiger deutscher Staat weltweit anerkannt zu werden, natürlich in politischer Abgrenzung zur Bundesrepublik Deutschland. Für wirtschaftlichen Austausch und Handel war man sehr offen, denn mit den Devisen des Westens konnte man in anderen Staaten Rohstoffe und wissenschaftlichen Knowhow einkaufen. Das sollte die stabilisierende Seite der neuen Entspannungspolitik werden. Aber die zunehmenden Forderungen vieler DDR-Bürger nach Respektierung und Verwirklichung der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit von zivilen, politischen, sozialen und kulturellen Rechten setzten den SED-Staat mit seinen willkürlich agierenden Staatsorganen immer mehr unter Druck. Das hatten die SED-Oberen im Kontext des Entspannungsprozesses nicht einkalkuliert. Sie glaubten, mit innerstaatlichem Recht und dem Berufen auf die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR diese Forderungen unterlaufen zu können. So wurde im KSZE-Dokument von Wien festgelegt, dass die KSZE-Teilnehmerstaaten die festgelegten Menschenrechte nicht einschränken, „…mit Ausnahme jener, die im Gesetz verankert sind“. Darauf beriefen sich die zuständigen DDR-Behörden mit Verweis auf das Staatsbürgerschaftsrecht der DDR, was aber nur bedingt funktionierte. Einerseits erhöhten Ausreisewillige ihren individuellen Druck trotzdem und erinnerten an die Beschlüsse der KSZE-Konferenzen und die Ratifizierungen durch die SED-Führung; anderseits nahmen die Restriktionen und Kriminalisierungen gegenüber Forderungen nach Reisefreiheit und Einhaltung der verbrieften Menschenrechte zu. Dennoch: Parallel zu allen nach außen deklarierten Entspannungsabsichten liefen bereits seit 1962 in geheimen und nicht offiziellen Verhandlungen der Freikauf von Häftlingen und Ausreisewilligen in die Bundesrepublik. Einbezogen wurden die Kirchen in Ost und West und die Staatssicherheit. Die SED-Regierung hatte gemeinsam mit der Führungsspitze der Staatssicherheit dieses perfide System entwickelt, um politisch Missliebige gegen Devisen loszuwerden. Für den Freikauf von Häftlingen in den DDR-Gefängnissen und Zuchthäusern kassierte die SED zwischen 1964 und 1989 ca. 3,5 Milliarden D-Mark, und für etwa 250.000 Ausreisewillige erhielt sie von Bundesregierung erhebliche Gebühren, mit denen die marode Wirtschaft modernisiert bzw. westliche Konsumgüter für die DDR-Bevölkerung gekauft werden konnten.

In den 70iger und 80iger Jahren stiegen die Zahlen von Flüchtlingen, politisch Inhaftierten und vor allem Ausreisewilligen deutlich an. Zwischen 1983 und 1988 durften 113.000 Antragsteller in die Bundesrepublik ausreisen, weil man dieses Potential an „Unruhestiftern und Feinden des Sozialismus“ loswerden wollte, denn deren offensichtlicher Widerspruch zu den verlogenen Durchhalteparolen der SED-Führung schürte Unruhe und trug dazu bei, sich die Frage zu stellen: Bleiben oder Gehen?

Beitrag der Ausreiseinitiativen und der „Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht“ in der DDR

Einen nicht unerheblichen Anteil an dieser Entwicklung hatten kleinere Ausreiseinitiativen ab 1983, Botschaftsbesetzungen und öffentliche Einzelproteste. Im September 1987 konstituierte sich in Ost-Berlin die „Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR“, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen das Schicksal von Ausreisewilligen öffentlich machte. Die Gruppe, zu der der Autor als Mitbegründer und Sprecher gehörte, verstand sich nicht als ein Büro zur Beförderung der Ausreise, sondern als eine Selbsthilfegruppe, die die Tabuisierung der Ausreiseproblematik und die damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzung und die Rechtlosigkeit anprangerte und sie im Kontext der KSZE-Vereinbarungen nicht mehr akzeptieren wollte.

Unter dem Dach der Zionskirchgemeinde, im gleichen Gebäude mit der Umweltbibliothek, kamen Menschen zusammen, die teilweise seit mehreren Jahren auf ihre Ausreise warteten und es nicht mehr ertragen wollten, geduldig oder ohne konkrete Hoffnung auf den Gnadenakt der staatlichen Organe zu warten. In den Gesprächen die regelmäßig in diesen kirchlichen Räumen stattfanden, setzen sich die Mitglieder mit dem Umfeld der Ausreisethematik auseinander, informierten über die rechtlichen Grundlagen, analysierten das rechtlose und gesetzwidrige Verhalten der staatlichen Organe und berichteten über Diskriminierungen und Kriminalisierung Ausreisewilliger. Bei diesen Zusammenkünften, zu denen auch Menschen aus der sogenannten Provinz anreisten, tauschte man sich über die Ursachen aus, die zum Stellen von Ausreiseanträgen führten und sprach immer wieder über die permanenten Verletzungen der Menschenrechte in der DDR, die bei den meisten Ausreisewilligen eine zentrale Rolle spielten.

Im Dissens zu den kleineren Oppositionsgruppen in Ost-Berlin und der DDR wurde immer wieder hervorgehoben, dass die verbrieften Menschenrechte unteilbar sind und deshalb auch die Rechte auf Reisefreiheit und individuelle Wahl des Wohnsitzes und Berufes dazugehören. Kirchliche Gruppierungen und auch nicht-konfessionelle Oppositionsgruppen machten sich diesen Ansatz in der Regel nicht zu eigen, sondern distanzierten sich eher davon, weil sie im Land bleiben wollten und gesellschaftliche Veränderungen innerhalb der SED-Diktatur als Fokus formulierten. Die Ausreiser empfanden sie für diese Ziele eher als kontraproduktiv und grenzten sich bis, bis auf wenige wie Wolfgang und Lotte Templin, zum Herbst 1989 von ihnen ab. Dabei unterschätzten diese Gruppen das Potential der Ausreisewilligen, zu denen mehrheitlich gut ausgebildete und politisch denkende Menschen gehörten, die nichts mehr zu verlieren hatten.

Am internationalen Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 1987, übergab die Arbeitsgruppe ihre namentlich unterzeichnete Erklärung der DDR-Regierung und dem Präsidenten der Volkskammer der DDR, Horst Sindermann. In der Erklärung wurde die Ausweglosigkeit in Ausreiseangelegenheiten benannt und die DDR-Regierung zum Bekenntnis zu den ratifizierten KSZE-Verträgen sowie zu einem menschenwürdigen Handeln gegenüber Ausreisewilligen aufgefordert: „Solange in der DDR Menschenrechte beschnitten werden, die für die freie Entfaltung des Einzelnen unentbehrlich sind, und so lange nicht über die eigentlichen Ursachen des Ausreisesyndroms öffentlich nachgedacht wird, kann auch der Zunahme kein Einhalt geboten werden. Selbst restriktivere Maßnahmen seitens der staatlichen Organe können diese Entwicklung nicht verhindern. So schmerzhaft es für die Gesellschaft auch ist, dass gut ausgebildete und engagierte Menschen ihr Land verlassen, so wenig ist aber zu akzeptieren, dass diese Menschen wegen ihrer Gewissensentscheidung diskriminiert oder bestraft werden.“

Die gesamte Erklärung mit konkreten Forderungen im Kontext des DDR-Staatsbürgerschaftsrechts und der KSZE-Verträge trugen Mitglieder der Arbeitsgruppe im Rahmen dieser Protestveranstaltung am 10. Dezember 1987 in der großen und überfüllten Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg vor. Die ARD und das ZDF wussten von dieser Veranstaltung und waren mit ihren Kameras vor Ort. Zum gleichen Zeitpunkt wurde der Autor dieses Beitrags mit seiner Familie nach Westberlin ausgebürgert, weil man verhindern wollte, dass er die Rede in seiner Heimatkirche hält.

In den verbleibenden zwei Jahren der SED-Diktatur entwickelte sich die Ausreiseproblematik zum immer größer werdenden gesellschaftlichen Problem. Statt sich den Ursachen zu stellen, ging die SED-Führung mit der ihr unterstellten Staatssicherheit immer rigider gegen Ausreisewillige vor, die die Öffentlichkeit suchten und sich aktiv an Demonstrationen beteiligten. So war das am 17. Januar 1988 angesetzte offizielle Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Anlass genug, dass die „Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR“ eine Gegendemonstration mit dem Transparent „Freiheit ist immer die Freiheit Andersdenkender“ organisierte und über die DDR hinaus für eine breite internationale Öffentlichkeit sorgte.

Dieser Demonstration folgten Verhaftungen, Ausbürgerungen und Haftstrafen. In einer internen Parteiinformation zur neuen Reiseverordnung der DDR hieß es: „…alle Anstrengungen auf die Verhinderung und Zurückdrängung von Antragstellungen und ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland auszurichten“.

Die Ausreisebewegung und das Ende der DDR

Trotz der Unterzeichnung der verschiedenen KSZE-Verträge nahm die SED-Führung nach wie vor für sich in Anspruch, die DDR-Bevölkerung wie ihre Leibeigenen zu behandeln.

Die SED-Führung glaubte selbst nach den Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion unter Gorbatschow und den politischen Öffnungsprozessen vor allem in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn gegenüber dem Westen, ihr nicht mehr funktionierendes System immer noch aufrecht erhalten zu können. Die DDR-Regierung propagierte nach wie vor ihren "Sozialismus in den bunten Farben der DDR". Ihr Chefideologe Kurt Hager verkündete im Oktober 1987 das Gegenteil von Entspannung und grenzte sich von der Bundesrepublik scharf ab: „Gegen die verlogene imperialistische Propaganda setzen wir unsere humanistische Denk- und Lebensweise, unsere fortschrittlichen Ideen und Ideale, die Werte und Errungenschaften der sozialistischen DDR.“

Aber der schrittweise Abbau der Ideologie des „Eisernen Vorhangs“ in diesen osteuropäischen Ländern, als Folge eines ca. 15 Jahre andauernden und nicht immer geradlinigen Entspannungsprozesses zwischen dem Westen und dem Osten, löste insbesondere in der DDR immer stärkere ideologische Erosionen und demonstrative Forderungen nach Veränderungen aus. Erinnern wir uns an die Botschaftsbesetzungen der Bundesrepublik in Warschau, Prag und Budapest sowie die Massenfluchten im Sommer 1989. Inzwischen glaubte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht mehr daran, dass sich die SED-Führung an ihre Zustimmungen zu den verschiedenen KSZE-Schlussakten halten und rechtliche Garantien für Reisefreiheit, Ausreise und die Verwirklichung der universalen Menschenrechte halten wird. Die Forderungen nach Veränderungen und der Beendigung des alleinigen Machtanspruchs der SED wurden immer lauter. Und so führte im Ergebnis die Entspannungspolitik der 70iger und 80iger Jahre im Zusammenspiel eines gewachsenen Selbstbewusstseins vieler DDR-Bürger letztlich zum Fall des SED-Regimes, der Mauer und des „Eisernen Vorhangs“.

Umso erschreckender ist es, dass 48 Jahre nach der Unterzeichnung der ersten KSZE-Schlussakte von Helsinki, die die damaligen Vertreter der Sowjetregierung unterzeichneten, der ehemalige KGB-Offizier und heutige Diktator Putin mit seinen Vasallen die international geltenden Prinzipien des KSZE-Entspannungsprozesse wie die Anerkennung der universellen Menschenrechte, den Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt, die Achtung der souveränen Gleichheit und der territorialen Integrität aller Teilnehmerstaaten, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Bereitschaft zur friedlichen Regelung von Streitfällen, mit Füßen treten und den einstigen Entspannungsprozess für null und nichtig erklären.

Können die damaligen Unterzeichnerstaaten und alle anderen friedliebenden Völker diesem Rückschritt in finstere Zeiten heute tatenlos zusehen? Nein, das dürfen sie nicht!


Günter Jeschonnek, Regisseur, maßgeblicher Kopf der Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht, die sich 1987 in der DDR gründete. Offenbar, um ihn loszuwerden, ließ die SED ihn 1988 ausreisen.