Das MfS und die Unterdrückung der ungewollten Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die DDR

Von Douglas Selvage

Während das MfS im KSZE-Prozess eher als Dienstleister für SED und KGB agierte, spielte es als »Schild und Schwert« der SED eine zentrale Rolle bei der Unterdrückung ungewollter Auswirkungen des KSZE-Prozesses im Innern der DDR. Die Stasi rühmte sich gegenüber dem KGB, es sei ihr Verdienst, dass es in den 1970er-Jahren nicht zur Bildung einer oppositionellen Bewegung gekommen war, die die Menschenrechte in der DDR u. a. auf Grundlage der KSZE-Schlussakte einforderte. Dies stand im Gegensatz zur Tschechoslowakei (Charta 77), zu Polen (KOR[1] und ROPCiO[2]) und sogar zur UdSSR (Helsinki-Gruppen). Das MfS hat mit Psychoterror (»Zersetzungsmaßnahmen«), Ausbürgerungen in die Bundesrepublik, gezielten Verhaftungen und ihrer zum Teil erfolgreichen Forderung nach innerkirchlichen Disziplinarmaßnahmen die aufkommenden, zuweilen grenzübergreifenden Kontakte zwischen einzelnen Personen, die infolge der Biermann-Ausbürgerung Überlegungen zur Gründung von etwas Ähnlichem wie der Charta 77 oder dem KOR in der DDR anstellten, im Keim erstickt.

Das MfS hat aber die Gefahr der Gründung einer solchen Bewegung in der DDR – und deshalb sein angebliches Verdienst bei deren Abwehr – übertrieben. Obwohl Oppositionelle in der DDR viel von den Taktiken und der Philosophie der Charta 77 bzw. des KOR gelernt hatten – zum Beispiel das von Václav Havel so formulierte »Leben in der Wahrheit«–, waren die meisten von ihnen in diesem Zeitraum reform- bzw. eurokommunistisch eingestellt und hatten nicht vor, eine Art »Helsinki-Gruppe« in der DDR zu gründen. Die meisten fanden ihren Weg am Ende der 1970er-Jahre zu den unabhängigen Friedensgruppen in der DDR, die in Antwort auf die wachsende Militarisierung der DDR-Gesellschaft entstanden. Im Gegensatz zu reinen Menschenrechtsinitiativen durften sie auch den Freiraum der Kirchen nutzen. Auch die Evangelische Kirche, deren Führung sich die sozialistische Menschenrechtskonzeption der SED weitgehend zu Eigen gemacht hatte, opponierte gegen diese Militarisierung.

Wie das MfS schon vor dem Abschluss der KSZE vorhergesehen hatte, entstand aber die größere Gefahr für die DDR nicht aus dem Menschenrechtsprinzip der KSZE-Schlussakte, sondern aus den Absichtserklärungen in Korb III zur freieren Bewegung von Menschen, Informationen und Ideen. Trotzdem hatte das MfS nicht den steilen Anstieg von Übersiedlungsersuchen nach der KSZE erwartet, wie er tatsächlich stattfand, und auch sicherlich keine weiter wachsende Bewegung für ständige Ausreise nach der Bundesrepublik und Westberlin. Diese Ausreisebewegung stellte war ernsteste innenpolitische Folge der KSZE-Schlussakte bzw. des KSZE-Prozesses für die DDR.

Im ersten Jahr nach dem Helsinki-Gipfeltreffen herrschte im Ministerium des Inneren (MdI), dem MfS und der SED Ratlosigkeit, wie man mit der wachsenden Anzahl von Übersiedlungsersuchen umgehen sollte. Mielke wollte offenbar keine offizielle Information zu dem Thema an die Partei- und Staatsführung der DDR weiterleiten, die sowieso von den SED-Bezirks- und Kreisleitungen über das Phänomen informiert worden war, ohne dass inzwischen eine Strategie für die »Zurückdrängung« der Ausreisebewegung vorlag. Es könnte aber auch sein, dass Honecker die Weiterleitung solch einer Information untersagte, bis er sich selbst für weitere repressive Maßnahmen entschied.[3]Die von Ausreiseantragstellern unterzeichnete Riesa-Petition zur völligen Erlangung der Menschenrechte von September 1976, die ein Recht auf ständige Ausreise auf Grundlage der KSZE-Schlussakte postulierte, stellte für MfS und SED einen Wendepunkt in ihrer Wahrnehmung der Ausreisebewegung dar. MfS-intern unterstrich Mielke nachdrücklich die Notwendigkeit der Anwendung von »strafrechtlichem Zwang« gegen eine neue Kategorie von politischen Verbrechern – sogenannten »hartnäckigen Antragstellern«, die ihre Übersiedlungsersuchen durch öffentlichkeitswirksame Demonstrationen oder Kontaktaufnahme zur Ständigen Vertretung (StäV) der Bundesrepublik[4], westlichen Journalisten oder solchen NGO (Stasi: »Feindorganisationen«) wie der Gesellschaft für Menschenrechte e. V. (GfM) oder der »Hilferufe von drüben« (Hvd) durchzusetzen versuchten. Das MfS führte bis zum Ende der DDR einen regelrechten Kampf gegen solche konservativen Menschenrechtsorganisationen wie Hvd und die GfM, die ein Recht auf Ausreise aus der DDR propagierten.

Nach einem kurzen Lernprozess im ersten Jahr nach dem Helsinki-Gipfeltreffen hatte das MfS hinter den Kulissen die bereits alarmierte SED dazu bewogen, die notwendigen Änderungen der Vorschriften und Gesetze vorzunehmen, damit die ungewollte Auswirkung des KSZE-Prozesses auf die DDR in Form der Ausreisebewegung wieder unter Kontrolle gebracht werden könnte. Am Ende einer Kette von repressiven Regelungen, die unter Mitarbeit vom MfS und MdI zustande kamen, wurde Mielkes Befehl 6/77 an alle Diensteinheiten des MfS weitergeleitet. Er spiegelte die neue, repressivere Rechtslage gegen Ausreiseantragsteller wider. Von nun an wurden »hartnäckige« Ausreiseantragsteller vom MfS wie andere »Staatsfeinde« behandelt. Sie wurden von nun an in sogenannten operativen Vorgängen bearbeitet, also überwacht, und denselben in die Privatsphäre eingreifenden und repressiven Maßnahmen wie andere als »Staatsfeinde« abgestempelte Personen – u. a. Postkontrolle, Telefonabhörmaßnahmen und Psychoterror (»Zersetzungsmaßnahmen«) – unterworfen. Dazu kamen Diskriminierung in der ostdeutschen Gesellschaft, die Drohung von Arbeitslosigkeit und Haft.

Die neuen repressiven Maßnahmen hatten zunächst die gewollte Wirkung. Die Anzahl der Erstanträge auf Ausreise ging von 2618 im Jahr 1977 auf 1301 1978 zurück. Gleichzeitig nahmen immer mehr Ausreiseantragsteller ihre Übersiedlungsersuchen zurück – 7752 im Jahr 1977 bzw. 5398 1978. Der inhaltsleere Ausgang des KSZE-Nachfolgetreffens in Belgrad half dem »Schild und Schwert« der SED bei dieser »Zurückdrängung« der Zahl der Ausreiseanträge. Es gab zwar wieder einen Anstieg von Erstanträgen im Jahr 1979 auf 7700, aber im selben Jahr nahmen 4300 Personen ihre Ausreiseanträge zurück.[5] Wenn es um die Ausreisebewegung, ihr Bestehen infolge der KSZE-Schlussakte und deren Bekämpfung durch MfS und SED geht, bestätigt diese Studie im Großen und Ganzen die Forschungsergebnisse von Anja Hanisch.

Der Erfolg der repressiven Maßnahmen des MfS und der SED in den Jahren 1977 bis 1979 zeigt, dass nach der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte kein »unumkehrbarer« Prozess der Lockerung in den staatssozialistischen Diktaturen entstanden ist. Man sieht das auch am Beispiel der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, die die relativ kleinen »Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen« durch eine Verhaftungs- und Repressionswelle in ihren Ländern bis 1980 erheblich schwächten. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan hatte schon Ende 1979 die US-sowjetische Entspannung beendet, und hätte Breschnew auf das Drängen Honeckers gehört, hätten die Truppen des Warschauer Pakts, darunter auch die NVA, 1980 in Polen interveniert. Damit wäre die Entspannungspolitik zwischen Ost- und Westeuropa am Ende gewesen. Es gab aber keine militärische Intervention der »Bruderländer« in Polen. Der KSZE-Prozess und die europäische Entspannungspolitik gingen daher weiter.

Das MfS, der KSZE-Prozess und der Untergang der DDR

Noch wichtiger ist, dass das MfS nach 1980 und insbesondere ab 1984 die Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die ostdeutsche Gesellschaft nicht mehr im Griff hatte. Die Zahl der Ausreiseantragsteller stieg von 21500 Personen 1980 auf 50600 1984. Bis 1987 stieg ihre Zahl auf 105100 und bis zum ersten Halbjahr 1989 auf 125400 Personen. Zwischen 1980 und 1987 durften insgesamt 117 500 Antragsteller ausreisen, dann im Jahre 1988 25 300 und allein im ersten Halbjahr 1989 34 600.[6] Die unabhängigen Friedensgruppen in der DDR wurden ab 1983 über den Umweg der westdeutschen Grünen und der sogenannten Konventbewegung, der Konferenz für Europäische Atomare Abrüstung,  erneut mit der KSZE und Menschenrechtsfragen konfrontiert, nicht zuletzt durch deren gemeinsamen Initiativen mit Charta 77. Die vom MfS Ende der 1970er-Jahre befürchtete »Internationalisierung« der ostdeutschen Opposition kam zustande, als die unabhängigen Friedensgruppen in der DDR Kontakt mit den Grünen, Charta 77 und Oppositionellen in anderen Ostblockländern aufnahmen und sich öffentlich mit Menschenrechtsfragen und der KSZE auseinandersetzten. Mit der Gründung der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) 1985 bekam die DDR schließlich ihre eigene »Helsinki-Gruppe«. Das MfS musste sich nun bemühen, so wie die Geheimpolizeien in den anderen Ostblockländern, Aktivitäten im Zusammenhang mit den Menschenrechten und der KSZE unter »operativer Kontrolle« zu halten.

Die größere Herausforderung für das MfS blieb aber immer noch die infolge der KSZE entstandene Ausreisebewegung, die weit mehr zur Destabilisierung der DDR beitrug. Es waren letztlich der wachsende Druck auf ständige Ausreise und das KSZE-Treffen in Wien, die die SED-Regierung endlich zwangen, im November 1989 ein liberalisiertes Reisegesetz zu verkünden. Die plötzliche, etwas unorganisierte Einführung dieses Gesetzes trug entscheidend zum Fall der Mauer bei. Über die Ausreisebewegung führte also eine direkte Linie von der KSZE-Schlussakte über das Madrider und das Wiener KSZE-Folgetreffen zum Untergang der DDR.

Weil die Ausreisebewegung ab 1980 fast in jedem Jahr wuchs und eine wichtige Rolle beim Untergang der DDR spielte, muss man die Frage stellen: Hat das MfS bei der Unterdrückung der destabilisierenden innenpolitischen Auswirkungen des KSZE-Prozesses versagt? Aus eigener Sicht hatte das MfS nicht versagt. Seit dem Anstieg der Ausreiseanträge nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 hatte Mielke klar gemacht, dass er die Rücknahme von Übersiedlungsersuchen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtete. Das hieß, die Arbeitgeber der Antragsteller (staatliche Institutionen, Betriebe, Kombinate usw.) sowie die gesellschaftlichen Organisationen, in denen diese Mitglieder waren, sollten Einfluss auf sie ausüben, dass sie in der DDR verblieben. Der Staatssicherheitsminister meinte auch, dass vorhandene Probleme – zum Beispiel fehlende Wohnungen für junge Ehepaare –, die zur Stellung eines Ausreiseantrags geführte hatten, ausgeräumt werden sollten. Die Verantwortung aller sozialistischen Arbeitgeber und gesellschaftlicher Organisationen für die »Zurückdrängung« von Ausreiseanträgen wurde zum Bestandteil der entsprechenden Verfügung des Ministerrats 34/77. Öfter kritisierte Mielke Unzulänglichkeiten in der Arbeit des Innenministeriums mit Ausreiseantragstellern, und das MdI spielte nicht selten in Fragen der Ausreise die Rolle des Sündenbocks für das MfS.

Die Praxis des MfS, des MdI und der SED, Ausreiseanträge von »hartnäckigen Antragstellern« zu genehmigen, die nach ihrer Einschätzung »Höhepunkte« der Partei (z. B. Parteitage) durch Demonstrationen hätten verderben können, trug allerdings über »Rückverbindungen« der Antragstellers zu Freunden und Familien in der DDR faktisch zum Anstieg der Ausreiseanträge bei.[7] Insoweit das MfS die Genehmigung solcher Übersiedlungsersuchen empfahl, war es daher mitverantwortlich für den Anstieg der Ausreiseanträge. Die SED und das MfS hofften offenbar, dass die Zahlungen der Bundesrepublik für den »Freikauf« von Antragstellern aus der Haft (oder in späteren Jahren einfach aus der DDR) genug zur Stabilisierung der DDR-Wirtschaft und deshalb der SED-Diktatur beitragen würden, um die destabilisierenden Wirkungen solcher »Rückverbindungen« auszugleichen. Die MfS-Entscheidungen allein können aber den steilen Anstieg von Ausreiseanträgen und deren Genehmigung nach 1980 und insbesondere nach 1983 nicht erklären.

Die KSZE-Politik Moskaus und die Ausreisebewegung

Wie oben dargestellt, spielten die Zugeständnisse der Sowjetunion beim Korb III auf dem Madrider KSZE-Folgetreffen 1980 bis 1983 für den Anstieg der Ausreiseanträge während des Treffens und insbesondere danach eine maßgebliche Rolle. Trotz der Warnungen ostdeutscher Diplomaten und des MfS wegen der negativen Auswirkungen für die SED-Diktatur stimmte Moskau Zugeständnissen beim Korb III zu, wie dem Recht auf die Einreichung von Gesuchen, die Verpflichtung zu ihrer wohlwollenden Behandlung innerhalb von sechs Monaten sowie einem Verbot von repressiven Maßnahmen u. a. im Bereich der Arbeit, der Sozialversicherung, der Bildung und anderer sozialer Dienstleistungen gegen Personen, die solche Anträge stellten bzw. erneut stellten. Diese Zugeständnisse schränkten die Möglichkeiten der SED, des MfS und der anderen Partei- und Staatsorgane der DDR erheblich ein, die Zahl der Ausreiseanträge zurückzudrängen. Um zu den Ausgangsursachen der Stärkung der Ausreisebewegung in der DDR zu kommen, ist die Frage wichtig: Warum ist die Sowjetunion solche Zugeständnisse eingegangen?

Der Leiter des KGB, Juri Andropow, erklärte Mielke die Gründe dafür bei einem Treffen im Juli 1981. In der Einschätzung der Sowjetunion musste die europäische Entspannung, insbesondere infolge des Kollaps' der US-sowjetischen Entspannung, aufrechterhalten werden. Dies war nicht nur eine Konsequenz der schlechten wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion und des Ostens, der immer abhängiger von Handel, Krediten und Technologien aus dem Westen geworden war. Wie Andropow Mielke erklärte, hatte Moskau schon extreme wirtschaftliche Schwierigkeiten, mit der erneuten Aufrüstung der USA Schritt zu halten. Darüber hinaus blieb die Vereitelung der geplanten Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa als Bestandteil des NATO-Doppelbeschlusses die höchste außenpolitische Priorität Moskaus in Europa. Die UdSSR musste Zugeständnisse machen, so Andropow, um die Einberufung einer Europäischen Abrüstungskonferenz -- aus Moskauer Sicht das höhere Ziel --  erreichen zu können.

Das heißt, exogene Gründe, die nichts mit dem KSZE-Prozess zu tun hatten, führten zur Kompromissbereitschaft Moskaus auf dem Madrider KSZE-Treffen auf Kosten der DDR: die relative und wachsende wirtschaftliche Schwäche der Sowjetunion und des Ostens gegenüber dem Westen; der neue Rüstungswettlauf zwischen den Supermächten infolge des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und der NATO-Doppelbeschluss, der die Antwort auf die nicht völlig durchdachte Stationierung von immer mehr SS-20 durch die Sowjetunion war.

Erich Honecker, die deutsch-deutschen Beziehungen und die Ausreisebewegung

Trotzdem meinten der KGB und offenbar auch die KPdSU, dass die DDR die vom Ministerium für Auswärtigen Angelegenheiten (MfAA) und dem MfS vorhergesehenen negativen Auswirkungen der sowjetischen Zugeständnisse von Madrid in Grenzen halten könne. Der auf Andropow folgende Leiter des KGB, Wladimir Krjutschkow, erinnerte Mielke nach dem Madrider Treffen daran, dass jeder Staat nach seiner souveränen Entscheidung handeln sollte. In anderen Worten konnten die SED und das MfS trotz der Zugeständnisse auf dem Papier bei Korb III in Fragen der Ausreise und der Information so restriktiv oder sogar noch restriktiver handeln als zuvor. Obwohl die DDR nun ein Recht auf die Stellung von Ausreiseanträgen anerkennen musste, durfte sie weiterhin die Anträge ablehnen. Das war auch der Gedanke der Arbeitsgruppe MfS – MdI, die dem SED-Politbüro den Entwurf für eine neue Regelung bei Familienzusammenführungen – wohl gemerkt nicht für die »Ausreise« generell – im August 1983 vorlegte.

Nicht das MfS, sondern Honecker verursachte im Januar 1984 eine Ausreisewelle, als er entschied, die Übersiedlungsersuchen aller bisherigen Antragsteller zu genehmigen. Er traf diese Entscheidung in Reaktion auf eine Welle von Botschaftsbesetzungen durch ostdeutsche Bürger, die ihre Ausreise erzwingen wollten. Natürlich hätte er anders darauf reagieren können – zum Beispiel mit einer Repressions- und Verhaftungswelle gegen die Botschaftsbesetzer und »hartnäckige« Ausreiseantragsteller. Andere Faktoren haben ihn aber maßgeblich mitbeeinflusst: die Sorge um seinen Ruf zu einem Zeitpunkt, als er sich international als Friedensapostel und die DDR als »Friedensstaat« darstellen wollte, aber noch mehr die drohende Staatspleite der DDR. Die DDR hatte 1983 einen ersten Milliardenkredit von der Bundesrepublik unter der Vermittlung von Franz Josef Strauß ausgehandelt, und sie hatte schon Verhandlungen über einen zweiten solchen Kredit begonnen. Die Kredite waren nicht nur wegen der Kürzung der sowjetischen Erdöllieferungen an die DDR ab 1981 notwendig, sondern auch weil sich Honecker und sein ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen Günter Mittag seit 1976 immer mehr Geld vom Westen und insbesondere der Bundesrepublik geliehen hatten, um den Lebensstandard in der DDR aufrechtzuerhalten bzw. zu erhöhen. Wegen der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik hätte eine Repressions- und Verhaftungswelle in Antwort auf die Botschaftsbesetzungen und die wachsende Welle von Ausreiseanträgen Anfang 1984 die Hoffnungen Honeckers auf einen zweiten Milliardenkredit der Bundesrepublik zunichte gemacht. Dass Mielke »seine Kanäle« (Unterhändler Alexander Schalck-Golodkowski) nutzte, um beide Milliardenkredite 1983/84 abzuwickeln, zeugt von der Schwere der Wirtschafts- und Finanzkrise der DDR. Seit 1980, wenn nicht schon früher, hatte Mielke sich eigentlich auf die Seite der »Moskauer Fraktion« des SED-Politbüros gegen die Verschuldungspolitik Honeckers und Mittags gegenüber der Bundesrepublik geschlagen. Trotz der Rolle Schalcks und deshalb Mielkes bei der Verhandlung beider Milliardenkredite, opponierte Mielke daher weiterhin gegen die Verschuldungspolitik Honeckers insbesondere wegen des unausgesprochenen Junktims zwischen den wirtschaftlichen und finanziellen Vergünstigungen der Bundesrepublik für die DDR und den bilateralen Zugeständnissen Honeckers an die Bundesrepublik im Bereich der menschlichen Kontakte.

Seit 1975 hatten KPdSU- Generalsekretär Leonid Breschnew, sein Außenminister Andrej Gromyko und andere Führungspersönlichkeiten der sowjetischen kommunistischen Partei Honecker vor der wachsenden Verschuldung der DDR bei der Bundesrepublik und dem wachsenden Reise- und Besuchsverkehr aus dem Westen gewarnt und ihn aufgefordert, die von Moskau gewollte Politik der Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik zu beachten. Im Jahr 1975 hatte Honecker Breschnew versichert, dass die Staatssicherheit die ideologischen Gefahren infolge des wachsenden Reiseverkehrs unter Kontrolle halten könnte. Etwas verspätet hatte Breschnew bei ihrem nächsten Treffen 1976 geantwortet: »Erich, ich habe Dir einmal gesagt: Die DDR hat 17 Millionen Bürger. Es kommen eine Menge Leute in die DDR. Die treiben Agitation für den Kapitalismus. Der Kreissekretär der Partei kann nicht alles wissen, was da gesagt wird, auch Genosse Mielke nicht.«[8] Dies war offenbar auch die Einschätzung Mielkes und es kann wohl sein, dass der KGB seine Meinung zur Westpolitik Honeckers an Breschnew weitergeleitet hat. Der KGB machte sich aber schon von sich aus Sorgen über die wachsenden deutsch-deutschen Kontakte und insbesondere die Ausreisebewegung. Mielke hatte auf jeden Fall bereits begonnen, inoffiziell Informationen über die Gespräche Honeckers und Mittags – teilweise von geheimdienstlichen Quellen in der Bundesrepublik – an die KGB-Vertretung in Karlshorst weiterzuleiten. Offenbar hoffte Mielke, dass die Informationen Moskau dazu bewegen würden, den Rücktritt Mittags zu erzwingen. Der Staatssicherheitsminister hätte vermutlich auch eine Absetzung Honeckers vor dem Oktober 1989 unterstützt, wenn Moskau grünes Licht gegeben hätte. Weil das nicht der Fall war, wartete Mielke ab. Wenn Honecker die von Moskau, Mielke und der »Moskauer Fraktion« gewollte Politik der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik konsequent verfolgt hätte, hätte das MfS die Ausreisebewegung in Zusammenarbeit mit der SED möglicherweise besser in Grenzen halten können. Die Übersiedlungswünsche von nicht wenigen Antragstellern gingen vermutlich zum Teil auf ihre Kontakte zu Besuchern aus der Bundesrepublik und Westberlin zurück. Wenn die SED solche Besuche gedrosselt hätte, wie Moskau es wollte, hätte es weniger Ausreiseanträge gegeben. Wenn Honecker 1984 die öffentliche und politische Meinung in der Bundesrepublik nicht hätte berücksichtigen müssen, hätte er eine Repressions- und Verhaftungswelle gegen Ausreiseantragsteller und eine »Mindszenty-Lösung« für die Botschaftsbesetzungen verfolgen können[9]Es hätte 1984 keine Ausreisewelle gegeben, und eine repressivere Politik hätte dem MfS geholfen, die Zahl der Ausreiseanträge noch einmal zurückzudrängen.

Die DDR war aber inzwischen wirtschaftlich und finanziell allzu abhängig von der Bundesrepublik und konnte keine Hilfe von der wirtschaftlich geschwächten Sowjetunion erwarten. Deshalb musste Honecker eine Lösung für die Welle von Ausreiseanträgen und Botschaftsbesetzungen finden, die gegenüber seinen westdeutschen Gesprächspartnern vertretbar war. Eine Repressionswelle hätte auch nicht zu seiner Selbstdarstellung als Friedensapostel gepasst. Dazu kamen die taktischen Entscheidungen Honeckers 1984, die die repressive Arbeit des MfS gegen Ausreiseantragsteller und die Botschaftsbesetzer erschwerte. Zuerst hatte er die ersten Besetzer der US-Botschaft und der Ständigen Vertretung in Ostberlin schnell ausreisen lassen, und dies hatte zu weiteren Botschaftsbesetzungen geführt. Seine darauffolgende Entscheidung zur Genehmigung der Ausreise von einigen 10000 »hartnäckigen« Antragstellern hatte nicht zu einer Entlastung der Ausreiseszene geführt, wie er und das MfS gehofft hatten. Mit Ausnahme von 1987 stieg die Anzahl der Ausreiseanträge immer weiter an.

Wenn man diese Aspekte der deutsch-deutschen Beziehungen und die taktischen Entscheidungen Honeckers berücksichtigt, kann man nicht einfach behaupten, dass das SED-Regime unter Honecker bloß ein »Opfer« oder sogar das »Hauptopfer« der Entspannungspolitik Moskaus gewesen war. Obwohl Moskau die DDR bis 1975 zwang, die Verschiebung ihrer völkerrechtlichen Anerkennung durch die Bundesrepublik zugunsten der Ost-West-Entspannung hinzunehmen, hatte Honecker die deutsch-deutschen Beziehungen nach 1975 über das von Moskau gewollte Ausmaß hinaus entwickelt. Das heißt, so wie die anderen sozialistischen Länder auch war die DDR ein teilweise selbstständiger Akteur, insbesondere in Fragen der wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Westen. So wie Polen und die anderen sozialistischen Länder nutzte die DDR die breiteren Möglichkeiten der Entspannungspolitik, Geld vom Westen zugunsten der Entwicklung der eigenen Wirtschaft zu leihen, aber ohne realistische Möglichkeiten für dessen Rückzahlung zu entwickeln. Die Kürzung der sowjetischen Subvention in Form billiger Rohstoffe und insbesondere billigen Erdöls Anfang der 1980er-Jahre verschlechterte die schon bestehende Finanzkrise der kleineren Warschauer-Pakt-Staaten. Das Gegenbeispiel Rumäniens in den 1980er-Jahren zeigt, dass ein anderer Weg möglich gewesen wäre: die Rückzahlung westlicher Kredite durch die Verschlechterung der Versorgung der eigenen Bevölkerung bei gleichzeitiger Verstärkung der Repression der Geheimpolizei.[10] Honecker folgte aber nicht dem Beispiel des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescus, insbesondere weil die Bundesrepublik seit deren Gründung 1949 der Vergleichsmaßstab nicht nur für das SED-Regime, sondern auch für die ostdeutsche Bevölkerung war. Trotzdem hätte eine Wirtschaftspolitik basierend auf weniger Verschuldung bei der Bundesrepublik und das Zulassen weiterer Repressionsmaßnahmen gegen Ausreiseantragsteller vermutlich das SED-Regime zumindest eine Zeitlang stabiler gehalten. Das war offenbar die Präferenz des Geheimpolizei-Ministers Mielke, die wegen der Politik des SED-Generalsekretärs Honecker unberücksichtigt blieb.

 

Dr. Douglas Selvage ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Projektgruppe 04 der Abteilung Vermittlung und Forschung des Stasi-Unterlagen-Archivs im Bundesarchiv

Dieser Aufsatz ist ein Auszug aus dem Buch von Douglas Selvage und Walter Süß, Staatssicherheit und KSZE-Prozess: MfS zwischen SED und KGB (1972-1989), Göttingen 2019, S. 701-710. Die Urheberrechte bleiben bei dem Verlag und den Autoren.


[1]Auf deutsch: Komitee zur Verteidigung der Arbeiter

[2]Auf deutsch: Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte

[3]In einem ähnlichen Fall Anfang September 1989 untersagte Honeckers amtierender Stellvertreter Günter Mittag Mielke zu diesem Aspekt im Politbüro zu berichten, als sich die Lage weiter zuspitzte und Mielke vergeblich den Vorschlag machte, eine Ursachenanalyse aus Sicht des MfS vorzulegen. Vgl. Süß: Staatssicherheit am Ende, S. 232 f.

[4]Die StÄV war faktisch die Botschaft der Bundesrepublik in der DDR, die wegen der besonderen deutschen Beziehungen so nicht heißen durfte.

[5] Für die Statistiken siehe Hanisch, Anja: Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985.

Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung. München 2012, S. 405.

[6] Ebenda, S. 405 f.

[7]Zu dieser Frage siehe auch Gehrmann, Manfred: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«: die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk. Berlin 2009.

[8]Treffen des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED Honecker mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Breschnew (Auszug), 19.8.1976, Dok. Nr. 218. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik 1975/76, Reihe VI/, Bd. 4: S. 758–761, hier 758.

[9] Hier wurde Bezug auf den Fall des ungarischen József Kardinal Mindszenty genommen, der nach der Unterdrückung des Aufstands 1956 in Ungarn Zuflucht in der US-Botschaft in Budapest fand und erst 1971nach Verhandlungen zwischen den USA, Ungarn und dem Heiligen Stuhl die Botschaft für ein Exil im Vatikan verließ.

[10] Deletant, Dennis: Ceauşescu and the Securitate: Coercion and Dissent in Romania, 1965– 1989. 2. Aufl., London 2006, S. 247 f.