30 Jahre Deutsche Einheit und Aufarbeitung

von Uwe Schwabe, Leipzig

Wir feiern in diesem Jahr 31. Jahre Friedliche Revolution und 30. Jahre Deutsche Einheit. Die Reihenfolge der Aufzählung zeigt schon wo meine Prioritäten liegen. Ich muss aber leider alle enttäuschen, die jetzt von mir erwarten, dass ich in den Kanon jener einstimme, die meinen, dass an allen tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Treuhand, die bösen Wessis und die etablierten Parteien schuld sind. Was wir dieser einseitigen Erzählung entgegensetzen müssen, ist eine multiperspektivische Betrachtung der DDR und des Transformationsprozesses. Wir können den Transformationsprozess heute nicht losgelöst vom Unrechtsstaat DDR betrachten, vom Alltag in der DDR, von der katastrophalen Wirtschaftslage und der stark zerstörten Umwelt und Bausubstanz, von Anpassung und Verweigerung, von Verantwortung und Versagen, von Widerspruch bis hin zum Widerstand.

Bevor die Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde, sind die Menschen Mittel-Osteuropas für Ihre Freiheit auf die Straße gegangen. Wir können stolz sein als Deutsche zu so einer Staatengemeinschaft zu gehören. Viele Menschen in Mittel-Osteuropa haben Ihren Wunsch nach Freiheit mit Verfolgung, Exil, Gefängnis oder dem Tod bezahlt. Diese Menschen haben Ihr Leben auch für unsere Freiheit riskiert. Deren Wunsch nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Bürger- und Menschenrechten ermöglichte das Ende des sowjetischen Kommunismus, des Kalten Krieges und der Spaltung Europas. Es ist damit das herausragende Ereignis der europäischen Freiheitsgeschichte.

Wir sollten dieses Jahr auch deshalb nutzen um einmal Danke zu sagen. Danke an Solidarnosc in Polen, an Charta 77 in Tschechien, an Fidesz in Ungarn, aber auch Danke an die Menschen die in Rumänien, Bulgarien, Albanien in Georgien, den Baltischen Staaten und der Ukraine für Ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind. Wir sollten Danke sagen und nicht von oben herab auf sie blicken. Jedes dieser Länder hatte seinen eigenen spezifischen Weg und jedes dieser Länder kämpft heute mit anderen Problemen. Sie haben auch heute unser Interesse verdient und brauchen unser Verständnis und unsere Solidarität und keinen erhobenen Zeigefinger. Viele dieser Länder hatten nach den Revolutionen keinen so starken Partner an Ihrer Seite wie wir Ostdeutschen. Sie sind aber auch keine Bittsteller, sondern haben sehr viel in die Europäische Union eingebracht.

Wenn wir etwas von den Revolutionen im Ost-Mitteleuropa lernen können, dann ist es die Selbstbefreiung aus einer Bevormundung und die Selbstermächtigung zum Handeln.

Ich glaube an den Freiheitswillen der Menschen in Polen und den anderen Mittel-Osteuropäischen Ländern. Auch die Menschen in Belarus brauchen unsere Ermutigung und Ermunterung. Wir sollten ihnen zurufen „Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Streiten Sie weiter für ein demokratisches, freies und unabhängiges Belarus. Und wir hier in Deutschland sollten uns an den unbändigen Freiheitswillen der Menschen in Belarus ein Beispiel nehmen. Wir leben heute als Bürger in Freiheit aber auch in Verantwortung. Verantwortung heißt auch, allen intensiv entgegenzutreten die unsere Demokratie gefährten oder abschaffen wollen dabei ist es egal ob die Angriffe von oben oder unten von Links oder rechts kommen.

Freiheit beginnt im Kopf – wer nicht frei ist von Hass und Hetze von Neid und Rassismus wird ein ewiger Gefangener sein.

Es ist auch sehr zu begrüßen, dass der Bundestag im Zuge des Transformationsprozesses der Stasi-Unterlagen-Behörde ein Gesetz über die Bundesbeauftragte oder den Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur beschließen wird.

Nach dem 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution ist es jedoch auch an der Zeit neu über die Begrifflichkeit und die Definition "Opfer der SED-Diktatur" nachzudenken. Der Begriff "Opfer" suggeriert bei den meisten Menschen, dass jemand unabsichtlich zu einem Opfer geworden ist, beispielsweise als Opfer einer Gewalttat, einer Naturkatastrophe oder eines Unfalls. Die Opfer einer Diktatur waren jedoch zum großen Teil Menschen (aus der Sicht der Machthabenden waren es „Täter“), die sich aktiv gegen die Diktatur und die damit einhergehenden Freiheitsbeschränkungen wehrten: gegen die fehlende Meinungsfreiheit, gegen eine fehlende Rechtsstaatlichkeit, gegen die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, die fehlende Reisefreiheit und die eingeschränkten Möglichkeiten der politischen Teilhabe. Sie waren damit Akteure, also aktiv und bewusst handelnde Personen. Sie wollten teilhaben am politischen Willensbildungsprozess und sich einbringen in die Gestaltung eines demokratischen Staates. Die Grundfesten einer Diktatur werden aber zerstört, wenn man Teilhabe außerhalb der vorgegebenen politischen Ideologie ermöglicht. Die Machthaber in einer Diktatur scheuen nichts mehr als politisch selbstdenkende und handelnde Menschen. Es gab zu allen Zeiten der SED-Diktatur Menschen, die Widerstand leisteten, die widersprachen, die in die Opposition gingen, die sich verweigerten und die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen.

Viele von ihnen sehen sich heute nicht als Opfer, obwohl bei vielen die Folgen der jahrzehntelangen Abschottung in der DDR nicht wirkungslos geblieben sind. Hier ist nicht nur die Abschottung durch Grenzen und Mauern gegenüber anderen Ländern gemeint. Es geht mindestens so sehr auch um die Abgrenzung nach innen, um die innere Distanz zum System und die fehlende Debattenkultur sowie um den Umgang mit Kritik und den nicht stattgefundenen Streit um politische Inhalte. Was bedeutet es weiterhin, in einer Gesellschaft groß zu werden, deren verordnete Grundwerte der Marxismus-Leninismus und der neue sozialistische Mensch sein sollen? Was macht es mit jungen Menschen, wenn sie aufgewachsen sind in einem Klima der Bevormundung und der Lüge? Was macht es mit Menschen, wenn sie ständig sinnlose Ergebenheitsadressen vom Sieg des Sozialismus abgeben müssen – ob in der Schule, bei den Pionieren, in der FDJ oder selbst im Ferienlager und später im „Kollektiv“ des Betriebes? Es ist der täglich erfahrene Widerspruch zwischen der offiziellen Propaganda und dem eigenen Erleben der Menschen– Václav Havel hat dies als „Leben in der Lüge“ schon 1976 in seinem Buch „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ so beeindruckend beschrieben. Er schrieb: „Es ist eine komplexe tiefe und dauernde Vergewaltigung, beziehungsweise Selbstvergewaltigung der Gesellschaft“.

Was macht es mit Menschen, wenn sie ständig auf der Hut sein müssen und nur wenigen vertrauen können? Wenn sie erfahren, wie groß die Denunziationsbereitschaft ist, ob in der Schule, an der Universität, in Betrieben und oftmals selbst in der Nachbarschaft und der eigenen Familie? Die Verführungen und die Verfolgungen des SED-Regimes griffen ineinander und bewirkten ein großes Misstrauen untereinander. Es ist der Nährboden für Feind- und Zerrbilder und schafft eine Entsolidarisierung und Isolierung gesellschaftlicher Gruppen und verhindert Vertrauen. Abgrenzung geht durch die Köpfe und verschwindet nur schwer. All diese Auswirkungen von vierzig Jahren Leben in der DDR (nach vorhergehenden Jahren unter einer anderen deutschen Diktatur) sind trotz aller Aufarbeitung von einigen Fachleuten von der Mehrheit der Ostdeutschen und zu vielen desinteressierten Westdeutschen bis heute nicht hinlänglich untersucht, diskutiert und verarbeitet worden, bleiben aber relevant und werden sogar zum Teil an die nächste Generation weitergegeben.

All denen, die in der DDR nicht alles widerstands- oder widerspruchslos hingenommen haben, verdanken wir heute unsere Freiheit. In der öffentlichen Wahrnehmung fehlt heute oft die Anerkennung dessen, was diese Menschen geleistet haben. Eine Anerkennung bedeutet in erster Linie nicht nur eine finanzielle Entschädigung für die rund 200.000 Menschen, die aus politischen Gründen in Haft gesessen haben. Diese Entschädigung ist natürlich für viele damals Inhaftierte heute eine existenzielle Überlebensnotwendigkeit. Diese Widerständigen Akteure wurden oft lebenslang in ihrer beruflichen Entwicklung eingeschränkt und leiden noch heute an den Folgen von Haft und Verfolgung. Anerkennung bedeutet, dass wir ihnen unseren Respekt und unsere Achtung entgegenbringen und diese nicht nur an Jahrestagen und bei Sonntagsreden, weil sie ihr Leben und ihre Freiheit auch für unsere Freiheit riskiert haben. Diese fehlende Anerkennung, das Nicht-Gehört-Werden und der fehlende Respekt haben viele der ehemals Widerständigen in Resignation oder Verbitterung geführt. Und sie haben das Recht und wir haben die Pflicht, über die Verantwortung derer zu reden, die das System jahrelang mitgetragen haben und diese Diktatur dadurch erst möglich gemacht haben. Wichtig wäre weiterhin eine Sensibilisierung, dass wenn man von einer SED-Diktatur spricht, das politische System der ehemaligen DDR gemeint ist und damit nicht alle Menschen die darin leben und überleben mussten diskreditiert werden.

Angesichts der Entwicklungen in der Welt und Europa ist die Gefahr der Etablierung autoritärer und diktatorischer Strukturen, auch in Ländern, in denen man es bisher nicht für möglich hielt, wieder sehr real geworden. Die Auseinandersetzung mit der 40 Jahre andauernden Diktatur in Ostdeutschland bietet eine einmalige Chance, aus der Geschichte zu lernen. Um heute zu begreifen wie eine Diktatur selbst in Deutschland funktioniert hat und wieder funktionieren könnte, ist es wichtig zu wissen, was es für äußere und innere Rahmenbedingungen geben muss und unter welchen Bedingungen Menschen dazu bereit sind, andere anzuschwärzen und zu verraten und damit billigend in Kauf zu nehmen, dass die Betroffenen persönliche Nachteile haben und verfolgt werden, im Gefängnis landen können und schlimmstenfalls zu Tode kommen. Warum Menschen bereit sind, sich direkt oder indirekt an diktatorischen Strukturen und Verhalten zu beteiligen. Erst wenn man das begreift, kann man den Wert eines freien demokratischen Staates schätzen und sich für dessen Erhalt einsetzen. Dieses Wissen an eine Generation weiterzugeben die keine Diktatur erlebt hat, ist die Grundvoraussetzung für den Erhalt eines demokratischen Gemeinwesens.

Hier sind wir alle gefragt. Vielfach hat dieses Unverständnis auch mit Unkenntnis der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung zu tun und mit einer immer kleiner werdenden Erlebnisgeneration.

Der neue parteiunabhängige Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur kann als Ombudsperson genau diese Sensibilisierung in der Politik, der Verwaltung und der Öffentlichkeit fördern. In den oben genannten Fragen berät er den Deutschen Bundestag und seine Ausschüsse sowie Bundesministerien und andere öffentliche Einrichtungen in Fragen, die die Angelegenheiten der Opfer der SED-Diktatur betreffen.
Er kann sich in unserem föderalen Staat in Zusammenarbeit mit den Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Bundesstiftung Aufarbeitung dafür einsetzen, dass nicht nur zu den Jahrestagen an den Mut und das Risiko der Widerständigen und Eigensinnigen erinnert wird. Es geht um die Einforderung von Respekt, Achtung, Anerkennung und Wissen um die Geschehnisse Das neue Gesetz zum Opferbeauftragten könnte, wie auch schon das Stasiunterlagengesetz, ein Vorbild sein für die anderen mittel-osteuropäischen Länder, die unter der kommunistischen Herrschaft gelitten haben. Wir sollten deshalb dankbar sein für diese Initiative, die aus dem Bundestag heraus gestartet wurde.