„Mündige Kirche. Die Offene Arbeit im Horizont der Theologie Dietrich Bonhoeffers“

Vortrag zur Tagung „Offene Arbeit als Raum protestantischer Bildung“

Dies war Thema einer interdisziplinären Tagung vom 27. bis zum 28. Januar 2012, zu der das Landesgraduiertenkolleg „Protestantische Bildungstraditionen in Mitteldeutschland“ (LGK PBT) in Kooperation mit dem Institut für Bildung und Kultur (IBK) in den Senatssaal der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingeladen hatte. Vor dem Hintergrund einer bisher vornehmlich politik- und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Offenen Arbeit (OA) griff die Veranstaltung vorrangig pädagogische und theologische Fragestellungen auf, um die Deutungsperspektiven zu diesen speziellen Angeboten der Evangelischen Kirchen in der DDR zu erweitern. mehr

Weitere Referenten waren 
Prof. Dr. KLAUS FITSCHEN (Universität Leipzig) mit seinen Überlegungen zur „Entwicklung der kirchlichen Jugendarbeit in der DDR als kirchenpolitisches und innerkirchliches Spannungsfeld“
Dr. ARIBERT ROTHE (Hochschulpfarrer in Erfurt und Erwachsenenbildner, EEBT) widmete sich den „Sozialdiakonischen Traditionen und Offene Arbeit als Auftrag der evangelischen Kirche“.
ANNE STIEBRITZ M.A. (Universität Jena) forschungstheoretische „Perspektiven der Erforschung von Offener Arbeit“

http://www.pbt.uni-jena.de/Impressionen/_Offene+Arbeit+als+Raum+protestantischer+Bildung_.html 

Mündige Kirche - Die offene Arbeit im Horizont der Theologie Dietrich Bonhoeffers

 von Dr. Heino Falcke

Die Vorbereitung auf diese Tagung hat in mir viele Erinnerungen geweckt, schöne, schwierige und aufregende. Ich hatte mit der Offenen Arbeit (OA) in den siebziger und achtziger Jahren zu tun, als ich Propst des Sprengels Erfurt, Vorsitzender des Thüringer Kirchentages und auf der Ebene des Kirchenbundes Vorsitzender des Ausschusses für Kirche und Gesellschaft war[1]. Mir ist bewusst, dass dieser Blick von der Kirche her auf die Gruppen der OA. einseitig und korrekturbedürftig ist. Die Grundbewegung ging ja von den Gruppen aus, die Kirche reagierte meist. Und um die Gruppen zu verstehen müssen wir von gesellschaftlich-politischer Repression, von der musikalischen Subkultur, der „Achtundsechziger-Bewegung“ und schließlich von den Aufbrüchen aus der Zivilgesellschaft in Osteuropa reden.

Aber nun, mit diesem Vorbehalt, der Blick von der Kirche aus und  - von der Theologie Dietrich Bonhoeffers aus! Letzteres  mag überraschen, denn die große Differenz zwischen Bonhoeffer und den Gruppen der OA. ist ja wirklich nicht zu übersehen[2]. Bonhoeffer, der Sohn des Großbürgertums; die Männer des Widerstandes, die er bei seinen Gedanken zur  „mündigen Welt“  vor Augen hatte,  gesellschaftliche Eliten; die Sozialgestalt „Gruppe“ finden wir bei ihm nur in der geistlichen Theologen- Gemeinschaft seines Predigerseminars; herkunftsbedingt doch wohl auch die patriarchalischen Züge seines Gesellschaftsbildes, die in merkwürdiger Spannung zu seinem Plädoyer für Mündigkeit stehen[3]. Liegen nicht Welten zwischen alledem und der OA? Die große Faszination, die von Bonhoeffers theologischen Entwürfen ausgeht, kann leicht dazu verführen, die konkreten Konturen der ganz verschiedenen Situationen zu überblenden.

Aber: Das Thema stellt die OA ja in den Horizont der Theologie Bonhoeffers. Das lässt den Differenzen Raum  und es zeigen sich in der Tat sehr aufschlussreiche Bezüge seiner Theologie zu dem Projekt der OA. Ich will vier davon nennen:

Erstens: Bonhoeffers Theologie hat eine große Rolle für die  Kirchen in der DDR gespielt. Er half ihnen, in der völlig neuen Situation der kommunistischen  Weltanschauungsdiktatur ihr Selbstverständnis  zu klären. Bonhoeffers Begriff „Kirche für andere“ wurde zum Leitbegriff. Und seine positive  Sicht der  religionslosen mündigen Welt half der Kirche, die DDR-Gesellschaft als Auftragsfeld und Dienstchance anzunehmen. Hier aber kippte bei einigen Theologen die Bonhoefferrezeption in Bonhoeffermissbrauch um. Seine  Öffnung für die mündige Welt wurde zur Legitimierung der atheistisch-materialistischen Ideologie des SED-Staates instrumentalisiert.[4] Als wäre der atheistische Weltanschauungsstaat, der mit dem Machtmonopol zugleich das Wahrheitsmonopol beanspruchte, eine Verwirklichung von Bonhoeffers „mündiger Welt“. Vielmehr war er ja der vormundschaftliche Staat schlechthin und gegen ihn standen  die Leute der offenen Arbeit auf, um ihr Recht auf mündige Selbstbestimmung zu behaupten. Es musste klargestellt werden, dass  Bonhoeffer auf die Seite der Gruppen gehörte, nicht auf die des Staates, übrigens auch nicht auf die Seite derer in der Kirche, die sich zum Erfüllungsgehilfen staatlicher Vormundschaftlichkeit machen ließen.

Zweitens: Bonhoeffers Begriff „Kirche für andere“, den der Kirchenbund übernahm, hätte eigentlich selbstredend  die OA als Arbeit der Kirche  legitimieren müssen. Bei diesem Begriff war aber zunächst vor allem an die Menschen marxistisch-atheistischer Prägung gedacht. Die alte Feindschaft zwischen Kirche und Kommunismus  sollte in einer „Proexistenz“ überwunden werden. Nun aber standen ganz anders andere vor der Tür der Kirche. Auf ihre Andersheit war die Kirche in ihrer mehrheitlich konservativen Grundhaltung vielleicht noch weniger gefasst als auf die Kommunisten. Musste der Begriff des anderen nicht tiefer gefasst werden, so dass er die  Alterität, die „Andersheit“ des anderen umfasst, die mich infrage stellt und herausfordert?[5]

Drittens ist die Friedenstheologie und Friedensethik Bonhoeffers zu nennen.

Sein  pazifistisches Engagement gewann in den Gruppen inspirierende Kraft. Passagen der Fanoe-Rede kannten  einige auswendig.

Wir müssen uns ja vergegenwärtigen, dass die Gruppen der offenen Arbeit ein breites Spektrum umfassten. Sie waren sozialisierende Gruppen für die aus den Zwängen der Gesellschaft  Aufgebrochenen und Gemeinschaft Suchenden; damit zugleich  waren sie gesellschaftskritisch und widerständig; das ging über in politisch oppositionelle Aktionen und stand in fließendem Übergang zu den programmatischen Friedens-Öko- und Menschenrechtsgruppen. Das Friedensthema lief bei vielen anderen Themen mit, wurde aber Anfang der achtziger Jahre selbst thematisch und da wurde Bonhoeffers Friedensethik wichtig. Da wurde auch richtig philosophisch und theologisch gearbeitet, Carl Friedrich von Weizsäcker referierte in der OA Erfurt.

Wenn es stimmt, dass der Friede bei vielem, was die offene Arbeit bewegte, mitlief – welches Grundmotiv  war das movens?  Vielleicht ein tiefer Abscheu vor Gewalt, vor Gewalt in all ihren vielen Gestalten, und dieser Abscheu als die Kehrseite der Sehnsucht nach gewaltfreier Kommunikation?

 Von ihrem sozialethischen Engagement aus  richteten die Gruppen nun auch ihre kritischen Fragen an die Kirchen: Wo bleibt euer Nein zum Wehrdienst? Wie haltet ihr es mit „Schwertern zu Pflugscharen“?  Wo bleibt euer Protest gegen den Bau des Kernkraftwerkes bei Stendal? Sahen sich die Gruppen häufig  in ihrer Kirchlichkeit  angefragt, so fragten sie ihrerseits das Kirchesein der Kirchen an, ob sie denn Kirche der Bergpredigt und der Schöpfungsbewahrung  sei. 

Viertens ist nun endlich von Bonhoeffers Gedanken zur mündigen Welt zu reden. Hatten die DDR-Kirchen in ihrem Gerangel mit dem Staat eigentlich den mündigen Menschen im Blick, der sich aus der Vormundschaft auch der Religion befreit hat, ob er nun Kommunist ist oder bürgerlich?  Bewegte sich das Gemeindeleben nicht in einem „Kommunikationsgetto“ ( Christoph Demke )? Was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? 

Diese Fragen, die Bonhoeffer stellte, waren lauter Türöffner  für die Jungen Leute, die vor der Tür der Kirche standen. Wenn sie durch diese Kirchentür gingen, wollten sie auf keinen Fall in eine neue, nämlich religiöse Spielart von Bevormundung durch unhinterfragbare Dogmen, autoritäre Kommunikationsformen, festgelegte Verhaltensmustern geraten. Vom Regen der aufgezwungenen Unmündigkeit in solch eine  Traufe „selbstverschuldeter Unmündigkeit“  ( I. Kant! )- auf keinen Fall!

Bonhoeffer hatte Religiosität und Frömmigkeitsstile als Vorbedingung für das Mitleben in der Kirche abgebaut. Er tat das nicht aus  einer modernistischen Anpassung an den Zeitgeist, sondern aus tiefen und zentralen theologischen Einsichten. So wie der Judenchrist Paulus einst aus zentralen christologischen Gründen den Griechen ein Grieche wurde, so sollte die Kirche den Mündigen eine mündige Kirche werden.  Es war vor allem diese theologische Interpretation der mündigen Welt, die die Kirche aufschließen musste für das, was die OA. wollte. Und diese theologische Öffnung enthielt zugleich kritische Orientierung für die Suche nach Mündigkeit.

Meine Damen und Herrn, ich habe  einen Überblick versucht, wie die OA im Horizont der Theologie Bonhoeffers erscheint. Ich möchte jetzt drei Aspekte noch etwas genauer beleuchten:

  • Die offene Arbeit als Öffnung der Kirche für „die anderen“.
  • Konturen einer mündigen christlichen Existenz
  • Konfliktorientiertes Lernen von Kirche und Gruppen in politischen Wandlungsprozessen.

                           

Die offene Arbeit als Öffnung der Kirche für „die anderen“.

Ich gehe hier davon aus, dass die OA wirklich als eine Arbeit der Kirche verstanden werden musste. Es gab durchaus Tendenzen, sie wie ein Reservat der Absonderlichen abzusondern, wohl unter dem Dach der Kirche aber an ihrem Rand. Natürlich war die Differenz zwischen  OA und  Ortsgemeinden zu respektieren, unmöglich zu fordern, dass jetzt alle Bach mit Blues vertauschen! Aber die Differenz musste wechselseitig tolerant gelebt werden.[6] Die Kirche musste Pluralität lernen! In der SED „Einheitsgesellschaft“ konnte eine Differenz- und Streitkultur  geradezu exemplarisch wirken. Die OA  war die Frage an die Kirche, ob sie denn wirklich Kirche für andere sei, oder ob sie sich in der Ängstlichkeit einer schrumpfenden Volkskirche ein Korsett der Einheitlichkeit schnüren und im Sicherheitstrakt ihrer Traditionen einmauern wollte.

Bonhoeffer hatte seiner Kirche schon in den zwanziger Jahren ähnliche Fragen gestellt. In seiner Dissertation zum Kirchenverständnis  hatte er einen Abschnitt „Kirche und Proletariat“ vorgesehen, den er dann aber auf Anraten seines Mentors Prof. Reinhold Seeberg strich. Er fragte darin nach der Bedeutung des Christentums für das in der „kapitalistischen Wirtschaftsperiode“ entstandene „industrielle Proletariat“. ( DBW 1, 290) Eine auf das Bürgertum verengte Kirche habe keine Zukunft.  Die „Zukunft und Hoffnung unserer ‚bürgerlichen‘ Kirche“ liege in einer „Blutauffrischung“, die nur in der Gewinnung des Proletariats bestehen könne ( 291 ). „Keine Apotheose des Proletariats“, aber „die konkrete Auseinandersetzung des Evangeliums mit der proletarischen Masse“ müsse stattgefunden haben, bevor das Wort von der sanctorum communio dort offene Ohren finden könne ( 291 ).Bonhoeffer hat dann in seiner Arbeit mit den Kreuzberger Konfirmanden in einem kleinen Experiment gezeigt, wie diese Öffnung aussehen kann.

Während seines Studienaufenthaltes in New-York 1930/31 lernte er dann die „Negerkirche“ in Harlem kennen,  lebte mit ihr und arbeitete in ihr. Dies wurde „eines der entscheidendsten und erfreulichsten Ereignisse“ in seinem  amerikanischen Aufenthalt (GSI, 274).  Hier erlebte er  „die Kirche der Verstoßenen Amerikas“. Es  beeindruckte ihn tief, wie ihnen das  Evangelium gepredigt wurde und wie gerade beim Hören des Evangeliums „die Teilnahme ( der Gemeinde, H.F. ) aufs höchste stieg“ (GSI, 274/275).

1932 hielt Bonhoeffer als junger Privatdozent in Berlin eine Vorlesung über das Wesen der Kirche. Völlig ungewöhnlich begann er mit Ausführungen über den „Ort der Kirche“ in der Welt.[7] Unsere Kirchen haben ihren eigentlichen Ort in der Welt verlassen. Sie lassen sich nur noch an „bevorzugten Orten der Welt“ vorfinden, im „Bürgertum und im unechten Konservativismus“. „Ihr Gottesdienst kennt nur noch die Nöte des Kleinbürgers“. Sie steht an dem Ort, „den ihr die autonome Kultur  als Gnadengeschenk zugewiesen hat“. Der eigentliche Ort der Kirche aber ist „der Ort des gegenwärtigen Christus in der Welt. ..Weder die Staatskirche noch das Bürgertum ist dieser Ort. Denn kein Mensch nur Gott bestimmt den Ort. Die Kirche, die dies weiß, wartet auf das Wort, das sie zum Ort Gottes in der Welt macht. Auf Gottes Wahl wartend verzichtet sie darauf, sich an bevorzugten Orten niederzulassen. Eine solche Kirche hat die Verheißung Gottes.“ ( GS V, 232 f. )

Diese ungewöhnliche Besinnung auf den Ort der Kirche müssen wir im Sinn behalten, wenn wir verstehen wollen, was  Bonhoeffer 12 Jahre später über die Kirche für andere schrieb. Wenn die Kirche wirklich für andere dasein will, muss sie deren Ort teilen.  Will sie für andere dasein muss sie mit ihnen sein. Sie muss, wie im Kreuzberg die Klassenschranken und wie in Harlem die Rassenschranken und zur offenen Arbeit die Schranken einer konservativen Kirchlichkeit überschreiten. Sie muss es riskieren, am Ort der anderen sich deren Not  zu eigen zu machen,  die Risiken ihrer Existenz zu teilen, sich im Schulterschluss mit ihnen auch behaften vielleicht sogar verhaften zu lassen.

Schon ein Jahr nach der zitierten Vorlesung drängte sich Bonhoeffer eine klare Ortsanweisung für die Kirche auf: Ihr Ort sei bei den verfolgten Juden u.zw. nicht nur den Judenchristen. Es fiel der später vielzitierte Satz: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Das heißt doch, die spirituelle Identität der Kirche –gregorianisch singen- hängt davon ab, ob sie den ihr von Christus zugewiesenen Ort bei den Bedrängten einnimmt.

Was das konkret bedeutet, muss jeweils geprüft werden. Es schließt jedenfalls ein paternalistisches, dirigistisches  Fürsein von oben nach unten  aus. Das für andere dasein muss in ein füreinander dasein eingebunden sein.

Den Ort der anderen einnehmen, das  musste im Fall der OA  bedeuten, dass die Kirche  die OA zu einen Ort der Kirche erklärt und sich so mit ihr identifiziert. Den Ortlosen einen Ort geben und solidarisch mit ihnen leben, ist eine Gestalt des Kircheseins und  das Kirchesein der „Kirche für andere“  steht da auf dem Spiel.

Aber  die Kirchen erwiesen sich in den Konflikten weithin doch ihrem Ort alter volkskirchlicher und bürgerlicher Prägung verhaftet, im  stillen Einverständnis mit der Kleinbürgerlichkeit vieler Staatsfunktionäre. Die sagten: „Gottesdienste bitte nur nach Agende und wie es sich im Kirchenraum gehört!“  Walter Schilling spricht von der „unheiligen Allianz der Staatsmacht mit den Konservativen ( in der Kirche, H.F ), keineswegs aus gegenseitiger Liebe, aber um der von beiden gewünschten Ordnung und Bewahrung des Bestehenden willen“. [8] Was war eigentlich gemeint, wenn der damalige Landesbischof im Blick auf die Gruppen der OA. sagte: „Wir sind offen für alle, aber nicht für alles.“ Welche ausschließenden Kriterien lagen dieser Identitätsbehauptung der Kirche  zugrunde?

Die Identitätsfrage hat etwas Vertracktes. Sie ist legitim, dient  aber meist der Verteidigung und Abgrenzung und oft ist unklar, woran die Identität festzumachen ist.[9]

Wir sahen,  dass Bonhoeffer das „Für-andere-Sein“ der Kirche im Kern und Grund ihres  Kircheseins begründet hat: Gott begegnet uns in Christus als der, der ganz für andere da ist, „unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im „Dasein-für-andere“ in der Teilnahme am Sein Jesu.“ ( B W 8, 558 ) Versteht man Kirche aus diesem Ereignis, dann liegt die Identität der Kirche gerade darin, dass sie Kirche für andere ist. „Kirche muss Kirche bleiben“ heißt dann, Kirche muss sich den „anderen“ öffnen. Die Identität der Kirche ist nicht an bestimmten Ordnungen, Lebens- und Frömmigkeitsstilen festzumachen, sie liegt darin, dass die Kirche am Sein und Wirken Jesu teilnimmt. Das war die Identitätsfrage, über die in den Kirchen gestritten werden musste, zumal wenn sie sich „Kirche für andere“ nennt, was als Selbstbezeichnung ja seine Probleme hat. Nur die anderen können doch sagen, ob sie Kirche so erleben.

 

Konturen einer mündigen christlichen Existenz.

Ich möchte hierzu zwei Vorbemerkungen machen, die zur Einordnung von Bonhoeffers Begriff der Religionslosigkeit helfen sollen.

Bonhoeffer verbindet ja Mündigkeit und Religionslosigkeit. Wie Ernst Feil schon vor längerer Zeit gezeigt hat[10], hatte Bonhoeffer dabei eine bestimmte Gestalt von Religion und Religiosität vor Augen. Einmal den Lückenbüßergott, der für die Weltverantwortung des Menschen keine Rolle spielt, zu dem er aber aus seiner Verantwortung flieht, wenn es brenzlich wird. Und die Religion der Innerlichkeit als dem letzten Reservat, das der Religion in einer eigengesetzlichen Welt bleibt. Wir sollten Bonhoeffer daher nicht für eine theologische Sanktionierung der Säkularisierungsthese in Anspruch nehmen, dafür aber für eine theologische Religionskritik.

Zweitens: Bonhoeffer  erschließt die mündige Welt von der Christologie, genauer: vom Jesus der Passion und des Kreuzes her. Da findet er das Urbild mündiger Verantwortung.

Man kann allerdings die Mündigkeit auch schöpfungstheologisch ableiten. Die biblische Unterscheidung von Gott und Welt befreit aus der Vergötzung der Welt und gibt sie zur Gestaltung durch Wissenschaft und Technik frei.[11] Zugleich ist der Mensch als Mandatar Gottes für die lebensdienliche Gestaltung dieser Welt verantwortlich. Bonhoeffer geht jedoch davon aus, dass für christliche Theologie der Zugang  zum Schöpfer und zur Geschöpflichkeit nur von Christus her möglich ist. Von daher spricht er die „mündige Welt“ an, die  den Theismus hinter sich gelassen  und die „Arbeitshypothese Gott““  aufgegeben hat. Gerade um die Gottesfrage neu zu klären, setzt er bei dem Menschen Jesus an. Dabei sind sich Bonhoeffer und die OA wissentlich oder unwissentlich sehr nahe. Walter Schilling sagt, die Gottesfrage sei ihnen „sekundär“ gewesen, primär und sehr wichtig aber war ihnen Jesus, oder – wie einer  der „Kunden“  liebevoll  sagte  – „old Jesus“.[12]

Worum geht es Bonhoeffer? [13] Er will seiner Kirche zu einer wirklichen Begegnung mit der mündigen Welt helfen. In den Kirchen wurde die Säkularisierung, die Abkehr von jeder Religion als der große Abfall gesehen, aus dem die Welt zurückgerufen werden muss.

Wohin aber soll sie zurückgerufen werden? Der Rückweg zum metaphysischen  wie naiven Theismus  ist verlegt. So ziehen sich die Apologeten der Religion  auf Grenzbereiche zurück, wo Gott als Lückenbüßer noch - freilich schwindendes -Terrain hat. Oder sie verweisen auf  die Innerlichkeit , wo das religiöse Apriori noch seine religiösen Bedürfnisse anmeldet. In beiden Fällen verfehlen sie den Menschen in seiner mündigen Weltverantwortung. In ihr als dem Ernstfall seiner Existenz muss der heutige Mensch  anerkannt und  solidarisch begleitet werden. Dabei sanktioniert Bonhoeffer nicht einfach die aufklärerische Säkularisierung. Er sucht vielmehr nach einer theologischen Antwort.

So formuliert er als Leitfrage, die ihn „unablässig bewegt“, „was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist“. Oder: „Wie kann Christus der Herr auch der Regionslosen werden?“ Oder: „Die Inanspruchnahme der mündigen Welt durch Christus.“ (DBW 8, 504, 404 )

Er konfrontiert die mündige Welt also –man möchte fast sagen: in atemberaubender Direktheit – mit Christus dem Gekreuzigten. In ihm entdeckt er zweierlei. Einmal die Kritik der Religion des philosophischen Theismus, des Gottes, der alles bewegt, selbst aber unbewegt bleibt und leidensunfähig ist. Zum anderen erkennt er da den Ruf in eine wahrhaft mündige Weltverantwortung.

In der Passion Jesu verbirgt sich Gott unter Leiden und Ohnmacht. Gerade der für unsere Erfahrung Abwesende  aber ist anwesend als der, der in letztem Ernst für andere da ist. Ja, Gott ist gerade darin der „ganz andere“, dass er ganz für andere da ist. Bonhoeffer schreibt: „Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, dass die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.“ (DB 8,534f.)

In diesem „für andere Dasein“  nimmt Christus die mündige Welt  in Anspruch.  Er provoziert die mündige Welt, in der Verantwortung für andere wahrhaft mündig zu sein. Noch einmal Bonhoeffer:.  „Christsein heißt nicht, in einer bestimmten Weise religiös sein, aufgrund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen ( einen Sünder, Büßer oder einen Heiligen ), sondern es heißt Menschsein, nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.“ ( BW 8,535 )

Am Leiden Gottes teilnehmen, was kann das heißen? Es meint sicher nicht Passions- oder Kreuzesmystik, oder Martyrium als die christliche Existenzform. Auch einen Märtyrer kann und soll man nicht aus sich machen. Aber Gewaltlosigkeit, Empathie, Mitleiden heißt es schon. Mir geht ein Text des Rockmusikers Roger Waters nicht aus dem Kopf, den ich 2006 las. Er träumt von einer Welt ohne Religionen, weil Religionen so entsetzlich viel Blut vergossen haben. Für sich selbst sagt er: „Eine der wichtigsten Fragen des Lebens ist doch: Bin ich mutig genug, mich selbst verletzlich zu machen? Mich jemandem zu öffnen und eine Verbindung zu schaffen, an  deren Ende Liebe steht? Dieses Öffnen, Sich-Verletzlichmachen ist für mich der Sinn des Lebens. Und dafür brauchen wir keine Götter.“ ( Die Zeit 16.02.2006) Ich denke: Das ist Religionslosigkeit bzw. Religionskritik im Sinne Bonhoeffers, das ist mündige Existenz in der Teilnahme am Leiden Gottes. Und ich denke, ohne dieses Sich- Verletzlichmachen war die OA. nicht zu machen.

 

Was konnte  diese Inanspruchnahme der mündigen Welt durch Christus,  für die OA. bedeuten?  

Wichtig war –ich sagte es schon -, dass Bonhoeffer  Religiosität oder Frömmigkeit als  Eingangsbedingung in die Kirche weggeräumt hat. Ich muss nicht fromm, ein Sünder oder Religiöser sein, um dabei sein zu können. Auch der Gottesglaube ist nicht vorausgesetzt, wie wir sahen.

Die Bejahung der Mündigkeit oder Suche nach Mündigkeit  meinte aber weder bei Bonhoeffer noch in der OA eine profillose Akzeptanz,  unkritische Bestätigung oder gar „anything goes“.

Man hat ja gegen Bonhoeffer eingewandt, er habe die mündige Welt  zu optimistisch  gesehen. Freilich  ging es ihm darum, dass wir sie bejahen und nicht gleich wieder madig machen. So erscheinen ihre kritischen Seiten bei ihm nur am Rande, aber sie wollen bedacht werden.

Bonhoeffer  unterscheidet die wahre, tiefe Diesseitigkeit, die er im Alten Testament findet,  von der „platten und banalen Dieseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven“ (DBW 8, 541 ). Wenn ich das heute lese, so denke ich an das, was Wolf Krötke den „Gewohnheitsatheismus“ genannt hat[14]. So nennt er die Mentalität, die 40 Jahre Religionskritik der DDR hinterlassen haben. Ein Atheismus, der nicht wie bei den Aufklärern und Marx eine emanzipatorische und humanistische Leidenschaft hat, sondern Produkt jahrzehntelanger  Anpassung ist und in der Besorgung und Befriedigung  der eigenen Bedürfnisse aufgeht.

Wollten die „Kunden“ nicht aus dieser Spießigkeit aufbrechen? War ihre Selbstbezeichnung „Kunden“ möglicher Weise eine Ironisierung jener Verbrauchermentalität? Ist das schon Mündigkeit, wenn sich der Mensch als Subjekt von Bedürfnissen versteht? Kann die Kirche daran anknüpfen, indem sie religiöse Bedürfnisse weckt. Sie kann es doch wohl nicht, ohne das „System der Bedürfnisse“ infrage zu stellen. Religion unter der Leitfrage: „Was bringt es mir?“  Religion unter dem Aspekt der Verwertbarkeit? Verwertbarkeit als  Meta-Wert aller Werte?

 

An anderer Stelle spricht Bonhoeffer von der Bedrohung der Mündigkeit durch die „Organisation“, wie er es nennt.

Was meint er?

Der Mensch findet sich durch den Fortschritt von Wissenschaft und Technik  immer weitgehender in einer  künstlichen, von ihm selbst geschaffenen Welt vor. Es kommt zu einer Bedrohung des Lebens durch das Werk des Menschen. „Die Frage ist: Was schützt uns gegen die Bedrohung durch die Organisation? Der Mensch wird wieder auf sich selbst verwiesen. Mit allem ist er fertig geworden, nur nicht mit sich selbst…Zuletzt kommt es doch auf den Menschen an.“ (DBW 8, 557  und DBW 6 (Ethik) 169 )

Der letzte Satz zeigt: Bonhoeffer sucht nicht die Ausflucht zu einem Lückenbüßer-Gott. Auf den mündigen Menschen kommt es an. Im Grunde ist es eine Frage der Bildung, genauer: eine Frage  der Bildung unter den Bedingungen der „Organisation“? War das nicht genau die Frage der OA?

 Wie konnte in der vormundschaftlichen  DDR-Gesellschaft eine alternative Bildung entwickelt werden, die resistent macht gegen die „Organisation“ und mündig macht zu deren Veränderung ?

Die  Entwicklung zu einer Zivilisation, die sich ihre Welt selbst fabriziert, ist seither ja rasant weiter gegangen. Es ist eine Überlebensfrage geworden, ob wir es lernen, uns selbst zu begrenzen. Die eigenen Grenzen in Freiheit zu bejahen, darin muss sich heute Mündigkeit erweisen. Das stellt sich als Bildungsaufgabe.  Hier zeigt sich noch einmal, wie relevant heute Bonhoeffers Abkehr von dem Allmachtsgott der Religion ist hin zu dem Gott, der als der Leidende für uns da ist.

Es überrascht eigentlich sehr, dass Bonhoeffer diesen  Allmachtswahn nicht als  Versuchung der mündigen Welt angesprochen hat. Es hätte von seiner Religionskritik und seiner Kreuzestheologie her so nahe gelegen. Der Mensch übernimmt die Rolle des abgedankten Allmachtsgottes  und hält das für seine eigentliche Mündigkeit.  Horst Eberhard Richter hat das in seinem  Buch „Der Gotteskomplex“  beschrieben.. Gottesbild und Menschenbild entsprechen einander. Der potentia absoluta Gottes entspricht als Idealbild die potentia absoluta des Menschen. In diese Rolle des abhanden gekommen bzw. abgeschafften Gottes schlüpft der mündige Mensch mit seinen Omnipotenzträumen. Heute wissen wir, die Allmachtsträume von  Wissenschaft und Technik, die alles  können und dann auch alles machen müssen, was sie können, sind Albträume.

 

Fragen wir  weiter, wie Bonhoeffer  die mündige von Christus in Anspruch genommene Existenz  positiv zeichnet.

 In seiner Ethik steht ganz klar das Begriffspaar Freiheit und Verantwortung im Mittelpunkt. Nun, das hört sich heute wie ein Allgemeinplatz an, auf dem alle möglichen Leute herumstehen. Freiheit und Verantwortung sind bei Bonhoeffer aber eine ursprüngliche Einheit. Sie stehen sich nicht als konkurrierende und kollidierende Werte gegenüber, etwa wie Selbstverwirklichung und soziale Verpflichtung. Sie erwachsen vielmehr gleichursprünglich aus einer Wurzel, aus dem Menschen als Beziehungswesen. Der Mensch kann sich selbst nur verwirklichen in den Beziehungen von Ich, Du und wir. Und die Verantwortung kann nur wahrgenommen werden aus der Freiheit von ich, du und wir.

Was Bonhoeffers Verantwortungsbegriff  anlangt, sagte ich schon, dass wir ihn aus seinen patriarchalischen Prägungen herauslösen müssen.  Das für andere dasein muss eingebettet werden in ein füreinander dasein. Die Einbahnstraße des Daseins für andere muss geöffnet werden für die Wechselseitigkeit, in der sich mündige Beziehungen auf gleicher Augenhöhe entwickeln.

Was Bonhoeffer mit mündiger Existenz meint, ist – finde ich – am besten in der Bilanz veranschaulicht, die er 1943 nach zehn Jahren NS-Staat zog. Da fragte er, welche Verhaltenstypen und Orientierungsmuster in der Diktatur standgehalten, welche versagt haben.  

Unter Versagen nennt  er z.B. die Pflichtethik, den Vernunftglauben der Gebildeten, die Ängstlichkeit der Gewissensmenschen; berühmt wurde seine Analyse der Dummheit, Dummheit nicht als intellektueller, sondern als menschlicher Defekt.

Von den Positiva hebe ich nur die  Charakterisierung der Zivilcourage hervor. Sie wagt „auch gegen Beruf und Auftrag“ die „freie verantwortliche Tat“  ( DB 8, 26, 23 ). In seinem Gedicht „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ nennt Bonhoeffer als zweite Station das Wagnis der Tat, die aus ängstlichem Zögern heraustritt in den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und dem Glauben getragen. (DB 8, 571 ) Vielleicht haben wir hier Bonhoeffers  schönste Beschreibung von Mündigkeit vor uns.

Es widerstrebt mir sehr, Orden zu verteilen. Aber  finden sich nicht wenigstens Spurenelemente dieser Mündigkeit und Zivilcourage  in den illegalen direkten Aktionen und Symbolhandlungen, zu denen die Gruppen in den achtziger Jahren auf die Straßen gingen und die Konflikte der Gesellschaft öffentlich inszenierten?  Die friedliche Revolution 1989 zeigte dann, wie diese Mündigkeit, die lange informell und verdeckt gelebt hatte, politische Handlungsformen lernte und auch politische Gestaltungskraft gewann. Diese Seite der friedlichen Revolution wurde im vereinten Deutschland leider zu wenig bedacht und auch bewusst ausgeblendet. Das führt zu meinem letzten Punkt:

 

Konfliktorientiertes Lernen von Kirche und Gruppen
in den politischen Wandlungsprozessen.

Von den Konflikten zwischen den Gruppen und der verfassten Kirche war schon mehrfach die Rede. Diese Konflikte forderten von beiden Seiten ein konfliktorientiertes Lernen. So hat das Ernst Lange genannt, der in den siebziger Jahren  den Antirassismus-Streit in der EKD  analysierte.[15] Um  an  Konflikten zu lernen, muss man sie annehmen und verstehen, statt sie abzublocken. Dabei kann den Kirchen ein Stück Aufklärung, vor allem soziologische Aufklärung  über sich selbst helfen. Das tut weh, aber es kann  einem mündigen Umgang der Kirche mit ihren Konflikten dienen.

Eine soziologische Selbstaufklärung der Kirche zeigte, dass ihr Konflikt mit den Gruppen ein gutes Stück weit sozusagen in der Natur der Sache lag. Das galt in zweierlei Hinsicht. Einmal in der unterschiedlichen Sozialstruktur von Landeskirchen und Gruppen. Zum andern in einer unterschiedlichen Strategie politischen Handelns.

Die Landeskirchen umfassten eine Pluralität von Mentalitäten, politischen Meinungen, kirchlichen Interessen und mussten diese zusammenhalten. Unter dem Druck des SED-Staates waren die Kontroversen zwar gebremst, aber sie waren vorhanden. Der Prozess der Konsensfindung war mühsam, dauerte lange und führte meist nur zu Kompromissen, die durchaus gut sein konnten, oft aber eben auch unbefriedigend blieben. Der Zusammenhalt der Kirche konnte mehr auf synodalem oder mehr auf autoritär hierarchischem Wege gesucht werden. Aber auch auf dem mehr synodalen Weg der Kirchenprovinz Sachsen waren wegen des Delegierungssystems die Gruppen nur durch Einzelpersonen vertreten. Dagegen hatte das mehr zentralistisch-autoritative System der Thüringischen Landeskirche den paradoxen Vorteil, dass es sich in der pluralen Basis nur begrenzt durchsetzen konnte, so dass dort Freiräume für alternatives Engagement blieben.

Auf der anderen Seite die Gruppen. In ihnen sammeln sich Gleichgesinnte. Der Weg zur Konsensfindung und vom Konsens zur direkten Aktion ist sehr viel kürzer. Auch bei ihnen gibt es Reibereien, Streit und Konflikte, aber bei ihnen dominiert die Betroffenheit durch die Mißstände der Gesellschaft, nicht die Abgehobenheit der Spitzen einer Großinstitution, die  das Ganze und seinen Zusammenhalt  bedenken muss. Die Kompetenz der Betroffenen ganz unten aber ist notwendig, sie muss sich Gehör verschaffen. und weil sie „oben“  oft kein oder nur gedämpftes Gehör finden, müssen sie es sich auf ihre Weise verschaffen.

Damit sind wir bei der zweiten strukturellen Differenz zwischen Landeskirchen und Gruppen: Die Strategie politischen Handelns. Die Kirchen verfolgten spätestens seit dem großen Staat – Kirche-Gespräch 1978 eine Gesprächsstrategie. Will man im System des demokratischen Zentralismus etwas bewegen, dann muss man die Regierungsspitze bewegen. Das aber geht nur im Gespräch. Dabei muss man weitgehend die staatlichen Vorbedingungen akzeptieren, z.B. dass politische Kritik nur hinter verschlossenen Türen stattfinden darf. Man darf die Konflikte  im Gespräch nur so weit treiben, dass ein nächstes Gespräch möglich bleibt.

Die Gruppen dagegen verfolgten eine Strategie der öffentlichen Konfliktinszenierung. Aktion Schwerter zu Pflugscharen, persönliche Friedensverträge mit Friedensgruppen im Westen, Fahrrad-Korsos, Mobil ohne Auto, mit Atemschutzmasken durch das Luft-verschmutzte Erfurt  gehen usw. Die Gruppen kündigten also den unausgesprochenen Grundkonsens des DDR-Systems auf, der Staat und Bevölkerungsmehrheit umfasste und teilweise eben auch die Kirchen ankränkelte. Er hieß: Öffentlich angepasst, oppositionell nur privat!“

Spätestens seit 1987, als die DDR öffentlich machte, dass sie der Perestroika-Politik Gorbatschows nicht folgen werde, war klar, dass die Gesprächsstrategie der Kirchen nur der Selbsterhaltung, nicht aber der Gesellschaftsveränderung dienen konnte. Es gab einen Veränderungsstau, die Gruppen bekamen mit ihrer Strategie recht und die Entwicklung führte zur Herbstrevolution 89.

Beide Seiten, Landeskirchen und Gruppen mussten aber einsehen, dass sie in ihrem Konflikt auch aufeinander angewiesen waren. Die Landeskirchen als Institutionen verteidigten den einzigen staatsfreien Raum in der DDR. So konnte auf ihren Synoden ein freier, relativ öffentlicher gesellschaftskritischer Diskurs stattfinden. Die Kirchen schirmten für die Gemeinden einen lebensweltlichen Raum ab, in dem eigenständige, auch widerständige Einstellungen wachsen konnten und in dem  auch die Gruppen ihren Lebensraum fanden.

Die Kirchenleitungen aber brauchten auch die kritisch nach vorn drängenden Gruppen. Sie bekamen z. B. nach der Einführung des Wehrunterrichtes von den Regierenden zu hören, sie seien wohl ein Offizierschor ohne Truppen, es fände an der Basis ja kaum Widerstand  gegen den Wehunterricht  statt. Wollten also die Kirchenleitungen bei  ihren Gesprächen Veränderungen erreichen, mussten sie auf nennenswerten Veränderungswillen an der Basis verweisen können. Andererseits mussten die Gruppen  in der Herbstrevolution lernen, demokratische politische Institutionen, z.B. Parteien zu bilden, also von direkter Aktion zu institutionell vermittelter Wirksamkeit überzugehen. Sie mussten  Mündigkeit als Lernfähigkeit in demokratischen Strukturen beweisen, was nicht einfach war.[16].

Auf-einander-Angewiesensein im Konflikt , das charakterisierte also die Beziehung von Landeskirchen und Gruppen. Das aber erforderte  dialogische Formen der Zusammenarbeit in Hörfähigkeit,  Partnerschaftlichkeit, Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Mandats und Respektierung und Freigabe des anderen  zu seinem Mandat.  In der ökumenischen Bewegung war dazu das Modell der Konziliarität als Lebensform der Kirche entwickelt worden. In der DDR fand sich von 1987 bis 1989 eine Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Friede und Schöpfungsbewahrung zusammen. Sie vereinte nicht nur alle Kirchen, sondern auch Kirche und Gruppen. Auf gleicher Augenhöhe berieten sie über den christlichen Auftrag zur anstehenden Veränderung der DDR-Gesellschaft  und formulierten einen Konsens dazu. Ich denke, dass sich dort ein Stück weit lernen im Konflikt und  „mündige Kirche“  ereignet hat.

 

Anmerkungen:


[1] Der Ausschuss erarbeitete eine Orientierungshilfe„Die Kirche und die Friedensgruppen, wie gehören sie zusammen“.  Sie wurde im  Juli 1984 bei der  Konferenz der Kirchenleitungen eingebracht, stieß dort auf Widerstand und wurde erst im März 85 verhandelt und zur Weitergabe freigegeben. Die Studie ist auf die Friedensgruppen focussiert. Ihre Analysen und Empfehlungen gehen z.T. in die folgenden Ausführungen ein.

[2]  Walter Schilling hat auf die Frage nach den Vorbildern und Vordenkern der OA. gesagt: Nicht Bonhoeffer, aber Martin Luther King!   Vgl. dazu die thematischen Interviews, die Anne Stiebritz mit Walter Schilling, Thomas Talmann und Arnd Morgenroth geführt hat. Thüringer Archiv für Zeitgeschichte. Zum ganzen vgl. Dieselbe: Mythos „Offene Arbeit“, Studien zur kirchlichen Jugendarbeit in der DDR, edition Paideia Jena 2010.

[3] Dazu kritisch schon 1965 Dorothee Sölle, Stellvertretung, Stuttgart-Berlin

[4]  Vgl.  Wolf Krötke, Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft, Tübingen Mohr, 1994

[5] Vgl. dazu Emmanuel Levinas und Wolfgang Nikolaus Krewani, Die Spur des anderen. Untersuchungen zu Phänomenologie und Sozialphilosophie, 1998.  Der andere ist nicht ein alter ego. Er muss in seiner Alterität wahrgenommen werden. Er bleibt nur der andere, wenn ich ihn nicht in meine Vorstellung von ihm integriere. Er ist der „Störenfried“, der die Ordnung stört, in die ich ihn einordnen will, um seiner Alterität das mich Störende, meine Identität infragestellende zu nehmen.

[6] Das Interview mit Arnd Morgenroth ( vgl. Fußn.2) zeigt sehr anschaulich, wie das in den Konfliktlagen von Saalfeld  offen und konstruktiv gelungen ist.

[7] Vgl. dazu U.Duchrow, Weltwirtschaft heute, ein Feld für bekennende Kirche, Kaiser München 1986, 46ff.

[8] in: JG Jena Stadtmitte, Autorenkollektiv,  Die andere Geschichte, Dokumentation 1993, FEHLDRUCK Erfurt,  12

[9] Bischof Leich ist verschiedentlich auch für die OA und ihre Mitarbeiter eingetreten. Die Unklarheiten des Verhaltens der Thüringer und nicht nur der Thüringer Landeskirche gründete doch wohl in der Ungeklärtheit dieser Grundfrage. Vgl. dazu Ehrhart Neubert/Thomas Auerbach, „Es kann anders werden“, Opposition und Widerstand in Thüringen 1945-1989, Böhlau Köln 2005.

[10] Ernst Feil, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, 5.Aufl. München / Mainz 1996

[11]  Hans Joas siedelt diese Unterscheidung von Gott und Welt religionsgeschichtlich in der „Achsenzeit“ an. Ders. Braucht der Mensch Religion? Freiburg-Basel-Wien, 2004

[12]  Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, München 1955, 7, DBW 8, 476. Interview (wie Fußn. 2 ) Walter Schilling, 65f.

[13] Vgl. zu diesem ganzen Fragenkomplex die Analysen und Interpretationen von Wolf Krötke in „Barmen-Barth-Bonhoeffer, Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Lutherverlag –Bielefeld 2009, 357 ff. und: DBW 8, Nachwort der Herausgeber, 651ff.

[14] Wie Fußnote 4

[15] Ernst Lange, Kirche für die Welt, Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, München 1981,215ff.

[16] Dieser Übergang war das Thema des Gruppentreffens bei der Studienabteilung des BEK im Juni 1989, das damit den Schritt der Parteigründungen im September/Oktober 1989 vorbereitete.