Der Unsichtbare

Horst Moelke, oder Wie die DDR an dem scheiterte, was nicht in den Akten stand – ein Nachruf

von Joachim Widmann1

Horst Moelke starb im Mai 2021 kurz vor seinem 83. Geburtstag. Der hagere Mann aus Berlin-Friedrichshagen hatte seiner langen Krankheit zum Trotz bis kurz vor seinem Tod, was er „Hummeln im Hintern“ nannte: Unternehmungs- und Abenteuerlust. Bei Freunden fuhr er hin und wieder mit seinem alten Fiat vor und klingelte: „Ich wollt mal nach dem Rechten sehen“; plauderte gut gelaunt, half, wo immer es etwas zu tun gab. Horsts Talent fürs Praktische hielt nichts auf, es ging immer irgendwie weiter, auch mit ihm, selbst wenn er im Laufe der Jahre sichtlich immer schwächer wurde: „Nicht verzagen, Moelke fragen“, blieb sein Motto. Ein Lied und einen schrägen Spruch auf den Lippen, fand er stets für alles eine Lösung. Bis es dann nicht mehr weiterging, er nicht mehr anrief und Anrufe nicht mehr beantwortete.

Zu den wenigen Dingen, die Horst Moelke nicht zu Ende brachte, gehörte ein Buch zu seiner DDR-Biografie, festgehalten in einigen Stunden Interview voller Anekdoten aus dem Frühjahr 2020. Anekdoten sind fragmentarisch – um ein Buch daraus zu machen, hätte es Kontext und Substanz gebraucht, die Horsts Narrativ über mehr als drei Jahrzehnte und zweihundert Seiten hätten tragen können. Es gibt jedoch keinen Bildungs- oder Entwicklungsroman zu erzählen, keinen Politthriller: Horst war kein Freiheitskämpfer mit politischer Agenda, sondern beschied lediglich die Arbeiter- und Bauernmacht mit undramatisch gleichbleibender Missachtung.

 

Nicht einmal das Ministerium für Staatssicherheit hatte aus seiner Story etwas machen können. Dabei widmete sie sich dem treuen und engen Freund von Wolf Biermann und Robert Havemann jahrzehntelang mehrfach und intensiv, nur um immer wieder neu herauszufinden: Horst war ein offener, zugänglicher, unternehmungslustiger und sehr hilfsbereiter, freier Mensch in einer unfreien Republik. Er passte weder als braver Bürger noch als Klassenfeind ins sozialistische Raster, noch fiel er komplett aus dem Rahmen. „Ich habe mich so durchgeschlängelt“, fiel ihm dazu ein.

Foto: Horst Moelke , J.Widmann

 

Der üblicherweise als praktisch allwissend, effektiv und effizient beschriebene Apparat zum Schutz der Macht der Sozialistischen Einheitspartei rieb sich auf an Horsts sozialer und emotionaler Intelligenz, an der Loyalität, mit der sein engster Freundeskreis und seine Familie gegen das Eindringen von Spitzeln zusammenhielten. „Die wussten alles und hatten keine Ahnung.“ Zum Jubiläum der Aktenöffnung erweist sich der Fall Moelke als exemplarisch dafür, wie sehr die Stasi sich in ihre Feindbilder verbissen hatte und dabei das Wesentliche übersah. Sie verfehlte beständig das Thema, auf das es angekommen wäre, Wirtschafts- und Versorgungslage.

Horsts Akte beginnt mit seiner Festnahme an der Grenze des sowjetischen Sektors in Berlin am 14. August 1963. Er war Grenzgänger, hatte in West-Berlin Wohnung und Arbeit, doch seine schwangere Frau Renate wohnte in Ost-Berlin. Bis 1958 hatte er selbst dort gelebt, bis er den schlechten Zustand der volkseigenen Wirtschaft am eigenen Leibe erfuhr: Eine schwere Bleivergiftung, die er sich bei seiner letzten Arbeit in einem DDR-Betrieb zugezogen hatte, wurde erst in West-Berlin erkannt und korrekt behandelt. Er flog von Tempelhof aus in die Bundesrepublik, ohne sich als DDR-Bürger abzumelden. „Ich hatte die Schnauze voll.“

Horst war mit einem unsentimentalen Lebenspragmatismus aufgewachsen. Der Vater war im Krieg verschollen, die Mutter arbeitete zuerst als Näherin, um sich, Horst und dessen um drei Jahre ältere Schwester durchzubringen. „Wir zogen in eine kleinere Wohnung, und Paule tauchte auf. … Mutter … zog zu ihm nach Potsdam und arbeitete da als Kassiererin.“ Horst und seine Schwester blieben in Berlin, am Wochenende brachte die Mutter Geld und Vorgekochtes. Wie das war für die beiden Kinder? Schulterzucken. „Wir haben uns selbst erzogen.“

Die Stimmung beim VEB Lokomotivbau Babelsberg war misstrauisch bis gereizt, als Horst dort 1953 zur Maschinenschlosser-Lehre antrat. Teile der Belegschaft hatten beim Aufstand wenige Wochen zuvor, am 17. Juni, die sozialistischen Funktionäre in den Löschteich geworfen. Horst, der bisher in einem ganz unideologischen Umfeld gelebt hatte, eckte an. Sein sozialistisches Engagement war aus Sicht der Betriebsparteileitung unzureichend, zumal er „aus Aversion gegen Uniformen“ weder bei den Jungen Pionieren noch bei der Freien Deutschen Jugend gewesen war. Sein Interesse an Fahnenappell und Sowjetgeschichte: mangelhaft. Lieblingsmusik: amerikanisch. Frisur: „Wie der Haarschnitt der Provokateure vom 17. Juni“, meckerte sein Ausbilder. Horst: „Ich verstand als Jugendlicher nicht, was die da veranstalteten mit uns. Über die Vergangenheit der Erwachsenen wurde ja nie geredet. Die waren alle in der Wehrmacht gewesen, und viele auch Nazis.“

Im Westen fand er eine andere Welt. „West unterschied sich von Ost vor allem durch die ideologische Komponente. Im Osten hieß es immer, wir arbeiten für den Frieden oder für die Völkerfreundschaft oder so, aber Arbeitsschutz und Sicherheit waren nur Sprüche. … Da wurde jeder Pfennig zweimal rumgedreht, die Mangelwirtschaft war extrem. Dazu kamen die Scheißparolen an den Wänden. Im Westen waren Ausstattung und Standards viel besser. Ich fühlte mich dort insgesamt freier bei der Arbeit.“ Horst arbeitete als Bauschlosser im VW-Werk in Wolfsburg. Als ein Zirkus Techniker für eine „Welttournee“ suchte, bewarb er sich als Elektriker – Horst war zwar keiner, aber „Elektriker wurden im Zirkus am besten bezahlt. Und das klappte ja auch sehr gut“. Es wurde dann nur eine „Welttournee“ durch Deutschland, Horst ging zurück zum Hallenbau im VW-Werk. Und schließlich zurück nach Berlin: Er hatte dort seine große Liebe kennengelernt, Renate.

Horst hatte einen westdeutschen Ausweis und eine kleine Wohnung in West-Berlin, verdiente dort sehr gut als Schweißer in einem Apparatebau-Betrieb. Renate blieb im Osten wohnen, arbeitete dort als kaufmännische Angestellte. Horst pendelte zwischen Freundin und Freunden im Osten und Existenz und Arbeit im Westen – ein Grenzgänger: „Das war kein Problem.“ Sie heirateten am Tag vor seinem 23. Geburtstag, dem 9. Juni 1961, in West-Berlin, Reni war schwanger.

Im Laufe des 13. August erkundete Horst, wie immer abenteuerlustig, ganz sorglos den Bau der neuen Grenzbefestigung zwischen Ost- und West-Berlin. In seiner schwarzen Lederkombi fuhr er mit seiner BMW R 67/2 mit West-Berliner Kennzeichen mehrfach über die Sektorengrenze und beobachtete die Bauarbeiten mal von Westen, mal von Osten. Er übernachtete bei Renate, fuhr am Morgen des 14. normal zur Arbeit. „Ich kam ohne Probleme rüber und auch am Nachmittag wieder zurück.“

Grenzgänger mit Ost-Berliner Ausweis hingegen saßen fest. Einige von ihnen gaben Horst Briefe an ihre Lehrherren und Arbeitgeber jenseits der blockierten Sektorengrenze mit, in denen sie sich unter Hinweis auf die Lage abmeldeten und für „danach“ ihre Arbeitskraft anboten. Ferner gaben sie Horst ihre Westgeld-Bestände, damit er sie zum weit günstigeren West-Berliner Kurs in Mark der DDR umtauschte. Gegen 18 Uhr war er wieder auf dem Weg nach West-Berlin. „Diesmal nahmen sie mich auseinander.“ Die Volkspolizei beschlagnahmte die Briefe und das Geld. Nach längerer Wartezeit, in der seine Personalien intensiver als sonst geprüft wurden, konfrontierten die Polizisten Horst mit ihrer Erkenntnis, dass er laut Aktenlage ein DDR-Bürger auf ungenehmigten Abwegen war.

Am 25. August 1961 fand vor dem Bezirksgericht Prenzlauer Berg die Hauptverhandlung statt. In der Urteilsbegründung erkannte der Angeklagte sich nicht wieder: Die Richterin stellte Horst als einen korrupten Menschen dar, der nach seiner Ausbildung in der DDR „durch seinen illegalen Verzug nach Westdeutschland … den Werktätigen unseres Staates in den Rücken gefallen“ sei und sich „ins Lager der Feinde der Arbeiterklasse begeben“ habe. Jeder, der die DDR illegal verlasse, leiste „der Hetze und Revanchepolitik in Westdeutschland Vorschub“ und stelle „seine Arbeitskraft in den Dienst der Kriegsvorbereitung, unabhängig davon, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht“. Er habe „die Maßnahmen vom 13. August“, mit denen die DDR-Regierung „den für den Herbst … geplanten Angriff gegen die DDR“ unterbinde und also den Frieden sichere, „nicht verstanden“ und „die Großzügigkeit unserer Staatsorgane“ gegenüber West-Berlinern dazu ausgenutzt, „um Grenzgängern dabei zu helfen [sic!] Geldmittel zum Schwindelkurs umzutauschen und ihnen damit noch länger ein Leben auf Kosten unserer Werktätigen zu ermöglichen“. Von den fünf Monaten Haft wegen Verstoßes gegen die Passverordnung und einem Monat wegen Beihilfe zu Wirtschaftsvergehen wurde die U-Haft abgezogen. Horsts letztes Wort vor Gericht: „Ich bin nicht für Krieg.“

„Ich habe der DDR nie verziehen, was sie mit Reni machten.“ Horsts Familie blieb wochenlang im Unklaren, wohin er verschwunden war, erhielt trotz Vermisstenanzeige keinerlei Auskunft. Das sei traumatisch gewesen, erinnert sich Renate Moelke: „Wir machten uns schreckliche Sorgen, bis uns dann einer benachrichtigte, den Horst in der Untersuchungshaft kennengelernt hatte.“

Gegen Ende der Haft im Frühjahr 1962 bestand Horst Moelke zunächst darauf, nach West-Berlin entlassen zu werden, doch die Staatsmacht nahm ihm die Hoffnung, dass es leicht werden würde, seine Frau und die inzwischen geborene Tochter in absehbarer Zeit aus Ost-Berlin herauszuholen. Er wählte die Liebe und die Familie. „Beinahe hätten sie mir mit meinen Sachen meinen West-Ausweis wieder ausgehändigt. Das fiel dann aber auf, und er wurde eingezogen.“ So wurde Horst wieder DDR-Bürger.

Er richtete sich in den folgenden Jahren in einer Art innerem Exil ein, suchte eine Karriere in der schrumpfenden Privatwirtschaft der DDR und fand die Autowerkstatt von Alfred Schulze in der Chausseestraße in Berlin-Mitte. Deren wichtigstes Geschäft war die Regeneration von Kurbelwellen. Wenn der Wartburg-Zweitakter meist auf Kurzstrecken bewegt wurde, konnte sich Kondenswasser im Motor nicht verflüchtigen, so dass die Kurbelwelle rostete und die Lager fraßen. Es gab nur drei Betriebe in der DDR, die solche Kurbelwellen regenerierten, über den offiziellen Ersatzteilhandel waren sie praktisch nicht verfügbar – ein einträgliches Geschäft.

Als sein Chef 1970 starb, übernahm Horst, inzwischen Kfz-Meister, die Werkstatt von dessen Witwe. Die Staatsmacht sah eine willkommene Gelegenheit, nun mit der Kollektivierung des Betriebs dessen Eingliederung in sozialistische Strukturen zu erzwingen. Der Magistrat von Berlin, Abteilung „Örtl[liche]. Versorgungswirtschaft, Gewerbelenkung“, verweigerte Horst daher die Gewerbeerlaubnis. Ohne die konnte er kein Geschäftskonto eröffnen und keine Verträge mit Lieferanten schließen. Auch den Vertrag mit dem Automobilwerk in Eisenach zum Bezug von Kugellagern, die er brauchte, bekam er nicht. In der Produktionsgenossenschaft des Kfz-Handwerks wäre er wieder nur Angestellter gewesen. Einlenken kam also nicht in Frage für Horst. „Ich hatte einen Kumpel, der arbeitete im Lebensmittel-Großhandel. So ein Großhändler brauchte auch ab und zu Kurbelwellen. Er bekam also seine Kurbelwellen schnell bearbeitet, ich konnte im Gegenzug Bananen kaufen, später auch Mandarinen und Apfelsinen. [Ich] fuhr … zum Ersatzteilhandel des Automobilwerks nach Leipzig und brachte denen Bananen, wodurch ich dann die Teile kaufen konnte.“ Doch es reichte nicht für einen dauerhaften Nachschub. „Ich schrieb an den Magistrat, dass ich auch fürs Rote Kreuz arbeite – nichts.“

Von Horsts geschäftlichen Problemen wusste die Staatssicherheit nichts, jedenfalls tauchen sie in seiner Akte nicht auf. Die Stasi beschäftigte sich stattdessen schon seit Jahren mit dem mutmaßlichen Staatsfeind Moelke, der scharf formulierte Eingaben an den Staatsrat schickte und aus Unmut über die DDR immer wieder seine Ausreise beantragte. Er war daher schon bald nach seiner Haft laut „Maßnahmeplan“ der Stasi-Kreisdienststelle Berlin-Mitte „zur operativen Bearbeitung der Person Horst Moelke“ vom 7. August 1964 in Verdacht geraten, „einen Grenzdurchbruch vorzubereiten“. Die Stasi mobilisierte den Abschnittsbevollmächtigten der Schutzpolizei, einen Kommissar der politischen Abteilung der Kripo (K I) sowie fünf Inoffizielle Mitarbeiter. Das Ergebnis war dünn. Der schlimmste Vorwurf im Zuge dieser Ermittlungen kam von einer „sehr mitteilsamen“ Hausbuch-Verwalterin, die der Stasi am 18. April 1968 anvertraute: „Arbeiten die Mieter in ihrer Freizeit vor dem Haus, sieht die Familie M. ‚grinsend‘ aus dem Fenster auf die im NAW [Nationalen Aufbauwerk] arbeitenden Mieter herab. Wird M. aufgefordert, sich am NAW zu beteiligen, entschuldigt er sich mit ‚Zeitmangel‘, ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen. … An Staatsfeiertagen hat M. als einziger Mieter nicht geflaggt. Die 7jährige Tochter sage zu … anderen Kindern …: ‚Wir lieben keine Fahnen und das Ostfernsehen.‘ … wobei die gesammelte Familie M. allen Diskussionen zu politischen Tagesfragen ausweicht …“ Zwei Monate später stellte die Stasi-Kreisdienststelle Mitte die fruchtlose „Aufklärung des M.“ nach vier Jahren ein: „Die Aufklärung ergab, dass M. im Betrieb und im Wohngebiet nicht offen negativ auftritt. … Die letzten Ermittlungen ergaben, dass das Ehepaar M. über ein gutes Einkommen verfügt und einen guten Lebensstandard führt. Er verhält sich in jeder Beziehung politisch indifferent und geht jeder gesell. Tätigkeit bewusst aus dem Wege“. Keine Spur von einer geplanten Republikflucht.

Wenig später geriet Horst wegen Wolf Biermann erneut ins Visier der Stasi. Er hatte den oppositionellen Liedermacher, der ein paar Häuser von der Werkstatt entfernt in der Chausseestraße 131 wohnte, über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt. „Er brachte mir Platten von Biermann, leihweise, und irgendwann brachte ich sie zurück. Biermann und ich verstanden uns auf Anhieb sehr gut.“ Horst half Biermann, der als Staatsfeind Nummer zwei nach seinem Freund Robert Havemann galt, an der Ostsee beim Ausbau eines Scheunendachs zum Wochenendhaus. „Da entstand rasch eine Freundschaft. Biermann konnte Südfrüchte und Kurbelwellen gebrauchen – und Publikum. Er kam öfters zu uns in die Werkstatt und sagte, er habe ‚zufällig‘ seine Gitarre dabei.“ Dann gab es ein Konzert.

Wer mit Biermann befreundet war, fand auch Zugang zu dessen Freund Robert Havemann, dem prominentesten Kritiker des SED-Regimes, zumal in dessen Haus am Möllensee in Grünheide immer etwas zu reparieren war. Das machte Horst interessant: Die Stasi stattete den Industrieökonomen Gerhard D. – intern als Inoffizieller Mitarbeiter „Engel“ geführt – offenbar eigens mit einem Ford aus, ehe er in der Werkstatt auftauchte, um mit Horst ins Gespräch zu kommen. „Ich war nie arglistig, immer freundlich, … bei dem war das mein Handicap.“ Auch „Engel“ war an Südfrüchten interessiert, offen, charmant, sehr gesprächig und gab sich regimekritisch. „Wir fuhren sogar gemeinsam in den Urlaub.“

„Engels“ Auftrag: Über Horst Zugang zu Biermann und Havemann zu erhalten, was auch gelang.

Nach Biermanns Ausbürgerung 1976 verschärfte die Stasi ihre Überwachung, denn Horst trat mit schriftlicher Vollmacht als Verwalter und Treuhänder von dessen Hinterlassenschaft in der DDR auf und unterstützte Biermanns in der DDR gebliebene damalige Ehefrau Christine, bis sie ausreisen konnte. Die Stasi begann eine Operative Personenkontrolle (OPK) unter dem Decknamen „Kurbel“. Wie schon zehn Jahre zuvor wurde Horsts Wohnumfeld ausgekundschaftet. Familie Moelke wohnte inzwischen in Friedrichshagen, zuständig war nun die Stasi-Dienststelle in Berlin-Köpenick, die Ermittlungen führte derselbe Volkspolizist, der schon zuvor für Horst zuständig gewesen war. Vier Tage, nachdem Biermann die Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, am 20.11.1976, notierte der Mann unter der Tagebuchnummer 17251/76 dank wachsamer Nachbarn, dass Moelkes als „undurchsichtig“ gälten, während Horst – anders als acht Jahre zuvor – bereit sei, „aufgrund seiner handwerklichen Kenntnisse in der Hausgemeinschaft mitzuarbeiten, wobei er politische Tätigkeit ablehnte. … Seine Ehefrau war … gegenüber den Hausbewohnern vollkommen ‚zugeknöpft‘“. Nicht verborgen blieb den Nachbarn, dass Moelkes „des öfteren kistenweise“ Südfrüchte geliefert bekamen und „Sekt und Spirituosen“ aus ihrem neuen Shiguli ausluden, der gleich nach Anschaffung „in einer westlichen hellen Farbe neu gespritzt wurde“ – Horst: „Reni mochte das scheußliche Mausgrau nicht. Ich beschaffte also aus West-Berlin echtes Porsche-Gelb. Ich montierte auch breitere Reifen und ein italienisches Sportlenkrad. Damit fiel man schon auf, ist richtig.“ Ferner fiel auf, dass die inzwischen zwei Töchter der Familie nie in der Tracht der Jungen Pioniere oder der Freien Deutschen Jugend zu sehen waren. Überhaupt war der Kommissar an Äußerlichkeiten interessiert: „Von der Erscheinung des Moelke her, [sic] kann man mehr einen ‚Künstler‘ vermuten, [sic] als einen Werkstattinhaber. Dieses bezieht sich auf seine Frisur“, stellte er am 30.11. fest, als er die Kurbelwellenwerkstatt in Augenschein nahm – Horst trug das Haar schulterlang.

Er schien „nervös“ bei dem Besuch. „Ich hatte Angst, dass die mich mit irgendwas zur Zusammenarbeit erpressen könnten.“ Inzwischen handelte Horst nebenher zur Festigung seiner Geschäftsbeziehungen zur Ersatzteilbeschaffung auch mit Küchen- und Haushaltsgroßgeräten sowie Farbfernsehern: „Absolute Mangelware, fast wie Autos – ‚Kennste keinen, kriegste keinen‘, hieß es.“ Es war keine Hehlerei: „Die Ware wurde immer bezahlt“, mit Geld oder geldwerter Leistung – nur dass sie dem staatlichen Handel entzogen wurde. Auch bei den Kurbelwellen gab es eine doppelte Buchführung: Auf der einen Seite das offizielle Teileversorgungs-Geschäft mit den Fuhrparks von Volkseigenen Betrieben und Handelsorganisationen sowie Produktionsgenossenschaften im Umfang von rund 100.000 Mark Planumsatz jährlich, auf der anderen Seite das Geschäft gegen Bargeld oder Tausch gegen andere Mangelware an den offiziellen Wartelisten und Produktionsplänen vorbei. Hätte es dieses Geschäft geben dürfen, hätte Horst es versteuert, denn das Entdeckungsrisiko war erheblich. „Ich wusste, dass das Finanzamt manchmal bei Betriebsprüfungen einen Laden übernahm – ich hätte nichts dagegen machen können, wenn dann einer der Privatkunden gekommen wäre, um seine Kurbelwelle abzuholen, und offiziell gab es die gar nicht.“

Horst hatte nun „Schatten“. „Wie Robert [Havemann] folgte mir die Stasi eine Zeitlang ständig, wo immer ich hinfuhr.“ So wickelte Horst seine Geschäfte unvermeidlich unter den Augen seiner Verfolger ab. Er ahnte nicht, dass die Stasi so sehr darauf fixiert war, zu beobachten, was er eventuell für Biermanns, deren mit Berufsverbot belegte Freundin, die Schauspielerin Eva-Maria Hagen, oder Robert Havemann transportierte oder besorgte, dass sie seine übrigen Aktivitäten praktisch aus dem Blick verlor. Zumindest aktenkundig steckte sie auch nicht hinter den ungewöhnlich häufigen Buchprüfungen in seinem Betrieb. Sie nahm den kreativen Kampf des Unternehmers gegen Mangelwirtschaft und Unterversorgung augenscheinlich wie selbstverständlich hin. Im Mai 1977 zog die Stasi in einem Bericht zur OPK „Kurbel“ lediglich dieses Resümee ihrer intensiven Beobachtungen: „Moelke … erfüllte bisher alle Aufträge des Biermann, dessen Frau und der Hagen, selbst unter Zurückstellung persönlicher Interessen, mit großer Hingabe und Leidenschaft. … Vorliegende Informationen lassen darauf schließen, nachdem auch die Biermann und die Hagen ausgewiesen wurden, dass Moelke weiterhin Verbindung zum genannten Personenkreis unterhält und bereit ist, weitere Aufträge zu erfüllen. Seine politische Einstellung gegenüber der DDR und dem Sozialismus ist absolut feindlich und zeitweise aggressiv, obwohl er das nach außen nicht immer zu erkennen gibt.“

Die Akten belegen die Eröffnung des Operativen Vorgangs „Kurbel“ gegen Horst: Im Rahmen des Stasi-Ermittlungsverfahrens wurden neue Personenkontrollen, neue Befragungen, neue Prüfungen der Aktenlage ausgelöst. Auch „kriminelle Handlungen“ gedachte man ihm nachzuweisen, um Havemanns Unterstützerkreis zu stören. Auftragsgemäß kam IM „Engel“ via Horst zunächst sehr nah an Havemann heran, verwickelte ihn in politische Diskussionen, auf die dieser sich auf Grund seiner Isolation freudig einließ. „Engel“ prahlte mit seinen Kontakten und bot dem Regimekritiker an, Manuskripte, Ton- und Videobänder zu transportieren. Ein durchsichtiges Manöver. Die Kanäle zu Havemanns Verlegern und anderen Kontakten im Westen und seine „Postillione“, wie er seine Helferinnen und Helfer nannte, gehörten zu den bestgehüteten Geheimnissen des Regimekritikers. „Engel“ hatte sich mit seinem Angebot praktisch selbst enttarnt, Katja Havemann wies ihm die Tür. Der IM verschwand damit auch aus dem Leben der Moelkes.

Was „Engels“ konkreter Auftrag in Bezug auf Horst gewesen war, wird anhand seiner Berichte nicht deutlich. „Jedenfalls schadete er mir nicht direkt im Sinne des Stasi-Plans, irgendwelche kriminellen Machenschaften bei mir aufzudecken.“ Stattdessen eröffnete er der Stasi romanhaft ausgeschmückte Details über das angebliche Privatleben des Ehepaars Moelke, die Horst „totale Scheiße“ nannte und weder kommentieren, noch veröffentlicht sehen wollte.

Horst machte sich schon lange Sorgen, dass seine schattenwirtschaftlichen Aktivitäten auffliegen könnten. Doch wahrscheinlich war die Stasi an seinen Geschäften kaum interessiert. Ein möglicher Beleg dafür ist, dass sie erst im Zuge der OPK wegen Biermann, also fünf Jahre später, auf die Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit der Gewerbeerlaubnis stieß: „In der Gewerbeakte des Moelke befinden sich keine Unterlagen oder Hinweise, aus welchem Grunde … die Gewerbeerlaubnis erteilt wurde“, nachdem sie ihm zunächst verweigert worden war, da er „keine ideologische Klarheit … u.a. in der Einstellung vom Ich zum Wir“ habe, notierte ein Mitarbeiter nach seiner Lektüre der alten Magistratsakten am 30.11.1976.

Ein Bittbrief Horsts von 1971 bleibt unerwähnt – es war kein Brandbrief gewesen, wie sonst. Er wies darin höflich und sachlich auf die Bedeutung seiner Firma für den Wartburg-Teilenachschub hin, auf geplante Kurbelwellen-Bearbeitungen im Umfang von 70.000 Mark Umsatz. „Das Geschäft lief sehr gut, ich hatte inzwischen fünf Angestellte.“ Der Brief hatte die erwünschte Wirkung. Eine Woche später hatte Horst seine Erlaubnis. Wie es genau dazu kam, ist nicht aktenkundig. Horst bekam zudem auch gleich den Vertrag mit dem Teilehandel. Dessen Chef wollte dies noch mit der Bitte um Nichtverlängerung der befristeten Gewerbeerlaubnis verhindern – anstelle einer Antwort wurde sie kommentarlos entfristet.

Empfänger seines Briefes und Horsts Helfer im Hintergrund war kein Geringerer als der seinerzeit gerade ins Amt gelangte Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende gewesen, Erich Honecker. „Die aktuelle Direktive lautete [damals], das Handwerk zu fördern“. Diesen Hinweis verdankte Horst Havemann.

Nicht auszudenken, die Stasi hätte sich so lange und so intensiv, wie sie Horst Moelke als Staatsfeind verfolgte, um die Durchsetzung dieser Direktive bemüht. Es wäre eine andere DDR geworden.

Der maroden realen DDR hatte Robert Havemann kurz vor seinem Tod 1982 vorhergesagt, dass sie schon bald von der wirtschaftlich ebenso erledigten Sowjetunion an den Westen verkauft werde.

Horsts Stasiakte wurde nach Havemanns Tod geschlossen und archiviert, die Kurbelwellenwerkstatt Moelke schlängelte sich weiter durch, bis ihre Dienstleistungen von heute auf morgen überflüssig wurden.

Horst überlebte die Stasi um mehr als 30 Jahre, immer unerschütterlich gut gelaunt, gewitzt, taff und tapfer. Ein guter Freund, ein würdiger und bescheidener Sieger der Geschichte.

 

1 Joachim Widmann, Verfasser von „‘Dich kriegen wir weich‘ – Leben im Unrechtsstaat DDR“, Berlin/Bonn 1997, erw. Neuausgabe als E-Book 2015, sowie – mit Katja Havemann – von „Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte“, Berlin 2003, und zahlreicher Artikel über DDR-Unrecht, ist Geschäftsführender Gesellschafter der Berliner Journalistenschule.