Umfragen zur Akteneinsicht

Zur Reaktion auf die Aktenlektüre gibt es verschiedene Befragungen, die hier auszugsweise  zitiert werden:

I. Das Ergebnis der Untersuchung des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg auf der Basis von Befragungen von 1997 Bürgern.1

Es gaben 71 % der Betroffenen an, sie hätten sich kritisch zum politischen System in der ehemaligen DDR geäußert. West-Kontakte nannten 65 %, den eigenen Ausreisewunsch vermuteten 49 % als Grund für die Bespitzelung. Erwartungsgemäß empfanden 64 % die Bespitzelung als sehr oder doch ziemlich negativ; gleichzeitig halten die meisten Befragten sie jedoch für eine prägende Erfahrung. Die Mehrzahl betrachtete das erlebte Überwachungsgeschehen als Herausforderung zum Widerstand. … Die Existenz des Spitzelsystems des MfS war den meisten Betroffenen gegenwärtig: 82 % der befragten Bürger äußern, sie hätten von der Bespitzelung gewußt oder zumindest geahnt. Nur 16 % geben an, die Ausspähung nicht bemerkt zu haben. Die überwiegende Mehrzahl der Befragten fühlte sich durch die wahrgenommene oder vermutete geheimdienstliche Bearbeitung in ihrer regimekritischen Haltung bestärkt, bei 76 % führte die Ausspähung allerdings zu vorsichtigerem und bedachterem Verhalten. Welche psychische Belastung eine wahrgenommene Ausforschung mit sich brachte, zeigt sich darin, daß viele Befragten (39 %) sich fiktive Umstände vorzuspiegeln pflegten, die ihnen die Lage erleichterten. Um in dieser Situation nicht allein zu sein, suchte etwa die Hälfte das Gespräch mit anderen Personen, zum Teil gezielt mit Leidensgenossen; die andere Hälfte der Befragten versuchte mit der Belastung allein fertig zu werden. ...

 

Die Sicht der Betroffenen auf die früheren inoffiziellen Mitarbeiter 57 % der Befragten halten die inoffiziellen Mitarbeiter für ziemlich oder in sehr hohem Maße verantwortlich für das, was ihnen widerfahren ist. Noch mehr, nämlich 70 %, meinen, die inoffiziellen Mitarbeiter hätten die Folgen ihrer Tätigkeit sehr gut vorhersehen können. Bemerkenswerterweise stehen die verantwortlichen Führungsoffiziere der Staatssicherheit nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Befragten; ihnen wird zumeist eher der kleinere Teil der Verantwortung zugeschrieben. …

 

Haßgefühle werden jedoch offenbar nur von 27 % der Bürger gehegt, während die Mehrheit eher mit Gefühlen der Verärgerung oder Enttäuschung reagiert. Was hat die Akteneinsicht gebracht? Auf die Frage, welche Bedeutung die Akteneinsicht für sie gehabt habe, antworteten 58 %, sie wüßten jetzt, daß die Staatssicherheit alle wichtigen Lebensbereiche ausgeforscht habe. 95 % der Befragten sind der Auffassung, es sei richtig gewesen, die Unterlagen einzusehen. 80 % geben an, die Situation sei danach nicht mehr so belastend. Einige Stellungnahmen im Wortlaut: „Ich habe durch die Akteneinsicht die Auseinandersetzung mit der Bespitzelung abgeschlossen. " …

Insgesamt ist zu erkennen, daß die Möglichkeit der Akteneinsicht durch die meisten Befragten außerordentlich positiv aufgenommen wurde.

 

 

II. Im Jahre 1999 befragte die Stasiunterlagenbehörde mehr als 550 Personen, die Akteneinsicht genommen hatten.2

 

Eine Frage lautete: „Was hat die Akteneinsicht für Sie persönlich bedeutet?“ Die Antworten der Umfrageteilnehmer waren wieder überaus vielfältig und geprägt von den jeweiligen Lebensschicksalen. Die größte Gruppe bildeten mit 24 % diejenigen, die angaben, nunmehr Gewißheit oder Aufklärung über ein vergangenes Kapitel ihres Lebens erhalten zu haben. Eine Antwort lautete: 'Sie schafft Klarheit über das, was gewesen und geschehen ist.' .... 20 % gaben Antworten, die mit „Abschluß der Vergangenheit“ und „Abstand gewonnen“ zusammengefaßt werden können: „Ein wesentlicher Schritt, um ein Kapitel abschließen zu können.“ ...

9 % empfanden Genugtuung, Befreiung, Erleichterung, Befriedigung: „eine Freude, daß auch eine Diktatur mit allen Horchern die Gedanken und Gefühle der Menschen nicht lesen kann, eine Befriedigung, daß man ein anständiger Mensch geblieben ist und allen Korrumpierungsversuchen widerstanden hat“. Für 8 % hatte die Akteneinsicht keine große Bedeutung. ...

Insgesamt 8 % der Bürger machten Angaben, die sich nicht zusammenfassen ließen, oder beantworteten die Frage nicht. Auf die Frage des Bundesbeauftragten „Haben Sie jetzt das Gefühl, für sich persönlich mit diesem Kapitel Ihres Lebens abschließen zu können?“ antworteten 50 % mit „ja“, machten aber zum Teil Einschränkungen: „Abschließen ja, vergessen nein“ ... 30 % erklärten, sie könnten nicht oder niemals damit abschließen: 'Nein – mit diesen Schikanen kann man nicht abschließen.' …

 

Die Antworten der Umfrage machen vor allem eines deutlich: Der Antrag eines Bürgers auf Einsicht in die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes ist ein bewußter Akt zur Wahrnehmung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die Akteneinsicht versetzt Bürger in die Lage, sich bisher unbekannte oder nur vermutete Aspekte ihrer Biographie anzueignen, Teile ihres Lebenslaufes zu hinterfragen und neu zu bewerten oder aber sich in ihren bisherigen Auffassungen durch die Akten bestätigt zu sehen. Für viele ist dies ein schmerzlicher Prozeß. Dennoch meinte letztlich keiner der Befragten, er hätte die Akten lieber nicht lesen sollen. Nur einer klappte die Unterlagen vorzeitig zu, weil die Berichte ihn „anwiderten“. Trotzdem sah er seine Erwartungen letztlich erfüllt, denn, wie er schrieb, sprach er den damaligen Leiter der MfS-Dienststelle an und hörte von ihm unter anderem: „Ich entschuldige mich für alles, was ich Ihnen und Ihrer Familie, damals guten Glaubens, angetan habe!“ Die übergroße Mehrheit, insgesamt 90 %, bewertete die Bedeutung der Akteneinsicht positiv, vor allem deshalb, weil daraus eine Gewißheit erwuchs, die jeder einzelne ganz individuell, auf sein persönliches Leben bezogen, beschrieb.“

 

III. Die Stasi-Unterlagenbehörde befragte im Jahr 2005 ca. 1000 Personen, die ihre Akte eingesehen hatten.3

 

Insgesamt 85 Prozent der Befragungsteilnehmer würden anderen Personen ebenfalls einen Antrag auf Akteneinsicht empfehlen. Dies zeigt, dass die Arbeit der Behörde für wichtig gehalten und akzeptiert wird. Zugleich wird bestätigt, dass die 1991 getroffene Entscheidung des Parlaments, die MfS-Unterlagen unverzüglich und weitgehend zu öffnen, richtig war.

Inhaltlich entsprechen die vorgelegten Unterlagen nicht immer den Erwartungen und persönlichen Erinnerungen, denn bei Frage 14 gaben 12 Prozent der Befragten an, dass die Sachverhalte in den MfS-Unterlagen aus ihrer Sicht nicht wahrheitsgemäß wiedergegeben sind. Die überwiegende Mehrheit findet jedoch die Darstellungen in den Akten im Wesentlichen (53 Prozent) oder teilweise (34 Prozent) zutreffend. – Mehrfach wurde darauf hingewiesen, wie wichtig die Entschlüsselung von Decknamen für die Antragstellerinnen und Antragsteller ist, um Klarheit über ihr Umfeld zu haben, aber auch, um eventuelle falsche Verdächtigungen korrigieren zu können. …

 

Mehr als 40 Prozent der Befragten bei Frage 18 antworten, dass das „Kapitel Staatssicherheit“ für sie persönlich noch nicht abgeschlossen ist. ... Bei der Umfrage vor sechs Jahren fühlten sich mehr als 60 Prozent der Befragten während bzw. nach der Akteneinsicht emotional sehr berührt …. Demgegenüber gaben jetzt nur noch knapp 40 Prozent an, dass der Inhalt der Unterlagen sie seelisch bewegt hat. …

Zunehmend handelt es sich bei den – 41 – Gesprächspartnern aber auch um Menschen, für welche das MfS ein zentrales Thema in ihrem Leben geblieben ist. … In 90 Prozent dieser Äußerungen wurde nochmals betont, wie bedeutsam sowohl der private Zugang zu den Unterlagen als auch die politische Aufarbeitung der Vergangenheit für den Einzelnen und für die Gesellschaft sind.

1 BStU. Tätigkeitsbericht. Berlin 1995, S. 16f.

2 BStU. Tätigkeitsbericht. Berlin 1999, S. 2, 9ff.

3 BStU. Tätigkeitsbericht. Berlin 2007, S. 9, 37f.