Alte Debatte auf neuem Niveau

Das Datenbankprojekt der „Landschaften der Verfolgung“ zu den Dimensionen politischer Haft in der DDR

von Konstantin Neumann und Michael Schäbitz

Ein Datenbankprojekt untersucht mit Hilfe von Stasi- und MdI-Akten die Dimensionen politischer Haft in der DDR. 

Die bisherigen Angaben beruhen auf Indizien, Schätzungen und Hochrechnungen.

Wer in die Beschuldigtenkerblochkartei des MfS-Untersuchungsorgans schaut, kann echte Überraschungen erleben. Es ist eine der wichtigsten Karteien, die die Ermittler für politische Strafsachen über ihre Verfahren zu den Beschuldigten angelegt hat. Denn neben „klassischen“ politischen Paragrafen wie § 213 („ungesetzlicher Grenzübertritt“), § 106 („Staatsfeindliche Hetze“) oder § 97 StGB (Spionage) ermittelte die DDR-Geheimpolizei auch Straftatbestände der allgemeinen Kriminalität – von kuriosen Bagatellen wie einem klauenden Volkspolizisten über Verkehrsdelikte bis hin zum Mord. Doch ist überhaupt so einfach zwischen „politisch“ und „kriminell“ zu differenzieren, wenn die Stasi als kommunistische Geheimpolizei und „Schild und Schwert der Partei“ Ermittlungsverfahren an sich zog, die man landläufig bei der Volkspolizei vermutet hätte? Schließlich deutet ihre Beteiligung darauf hin, dass der Fall in irgendeiner Weise politisch brisant war.

Nach der Friedlichen Revolution 1989 fokussierte sich die öffentliche Debatte über die SED-Diktatur zu Recht auf den Kernbereich der politischen Repression: die politische Haft. Doch trotz strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, jahrzehntelanger Gedenkstättenarbeit und intensiver Forschung ist bis heute umstritten, was mit „politischer Haft“ eigentlich gemeint ist und welche Häftlingsgruppen hinzugezählt werden können und welche ausgeschlossen werden müssen.1 Ist die politische Überzeugung des Betroffenen oder nicht eher die politische Verfolgungsmotivation des Staates entscheidend? Sind Straftaten ausgenommen, die in rechtstaatlich verfassten Demokratien auch verfolgt worden wären? Sollten Gewalttaten ein Ausschlusskriterium sein?

Folgerichtig besteht Unklarheit zur „Gesamtzahl“ der politischen Haft in der DDR – eine Zahl, die es aufgrund der unterschiedlichen Bewertungsmöglichkeiten wohl auch nie geben wird. In der Literatur wird die Zahl der politischen Häftlinge in der DDR meist auf 180.000 bis 250.000 geschätzt.2 Das Problem: Neben der Unklarheit darüber, welche Ausprägungen der DDR-Strafverfolgung zum Phänomen der politischen Haft hinzugerechnet werden sollen, gibt es statistische und quellenhermeneutische Herausforderungen. So werden in der Literatur meist entweder vage Schätzungen abgegeben oder unterschiedliche (interne) DDR-Statistiken addiert und reproduziert, deren faktische Aussagekraft aber aufgrund unklarer Datenaggregation mit Vorsicht zu genießen ist. Die größte Schwäche dieser Statistiken liegt vielleicht darin, dass sie die Verurteilungen auf einen Hauptparagrafen zusammenfassen, wenn nicht gar größere Deliktgruppen („Militärstraftaten“) gebildet wurden. Es bleibt zu konstatieren, dass eine differenzierte und kritische statistische Beschreibung des Phänomens der (politischen) Haft in der DDR, die nicht nur die zweifelhaften zeitgenössischen Statistiken widerspiegelt, nach wie vor ein virulentes Forschungsdesiderat bleibt – und hier setzt das Datenbankprojekt des Forschungsverbundes „Landschaften der Verfolgung“ an, das 2019 begonnen hat und fünf Mitarbeiter an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen beschäftigt.

Statt auf vorgefertigtes DDR-Statistikmaterial zurückzugreifen, erhebt das Datenbankprojekt selbst die Daten, indem zunächst die bereits angesprochene Kerblochkartei der Hauptabteilung IX digitalisiert und erfasst wird.3 Diese umfasst mit schätzungsweise 66.000 Karteikarten zwar „nur“ die MfS-Ermittlungsverfahren zwischen 1963 und 1989, ist aufgrund der vielfältigen Angaben zu den Personen, zum Ermittlungs- sowie zum Strafverfahren jedoch eine einzigartige Quelle. Mit der Ergänzung der Daten durch die Gefangenenkartei des Ministeriums des Innern der DDR erhalten wir durch die Verknüpfung von Angaben zu Alter, Beruf, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Parteimitgliedschaft, Wohnort, Vorstrafen, verurteilendes Gericht, Haftstrafe, Haftorten, Haftdauer etc. einen völlig neuen Zugang zu den Betroffenen. Wie bei allen Quellen ist selbstredend eine profunde Quellenkritik vonnöten. Mit Hilfe bereits vorhandener Überlieferungen sollen zudem die erfassten Angaben quantitativ und qualitativ abgeglichen werden. Dafür stehen unter anderem die Datenbank der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und eine Kartei der Potsdamer MfS-Bezirksverwaltung zur Verfügung.

Neben der Datenbank entsteht eine Internetpräsentation, die in anonymisierter Form vielfältige eigene Untersuchungen des Bestandes ermöglicht. Die Nutzer sollen sich selbstständig auf Entdeckungstour begeben und in den Daten nach eigenen Fragestellungen recherchieren können. Um den Einstieg zu erleichtern und die vielfältigen Möglichkeiten der Datenabfrage anzudeuten, werden kuratierte Inhalte zu ausgewählten Problemfeldern angeboten. Zudem werden anhand von ausgewählten Biogrammen die Geschichten „hinter den Zahlen“ erzählt.

Mit dem Ende des Projekts im Dezember 2022 wird eine Datenbank bestehen, die die Untersuchungshäftlinge des MfS in den Jahren von 1963 bis 1989 enthält. Damit wird ein Zwischenschritt erreicht, das Potential der Datenbank jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft sein. Zur Weiterführung würde unter anderem die Integration weitere Bestände gehören, die die MfS-Untersuchungshäftlinge der 1950er und frühen 1960er Jahre umfassen. Zudem wäre es für das Verständnis der politischen Repression in der DDR essenziell, die Beteiligung der Volkspolizei an „einschlägigen politischen Paragrafen“ näher zu untersuchen, deren Rolle im Herrschafts- und Unterdrückungssystem der SED immer noch kaum erforscht ist.

Wo bislang holzschnittartige Zuschreibungen dominierten, ermöglicht die Verknüpfung von vielfältigen Angaben in einer Datenbank eine präzise und differenzierte Beschreibung der Häftlingsgesellschaft und damit eine quantitative Auswertung auf einem neuen wissenschaftlichen Niveau. Auf dieser objektiven und nachvollziehbaren Grundlage können verschiedene Experten je nach Gewichtung und Interpretation zu eigenen Ergebnissen kommen. Die Datenbank versteht sich somit nicht als das Ende, sondern vielmehr als fruchtbarer Beginn einer hoffentlich regen Debatte.

Anmerkungen:

1 Einen Überblick über die Debatte gibt Tobias Wunschik: Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989, Göttingen 2018, S. 11-25.

2 Eine tabellarische Übersicht über verschiedene Zahlenangaben in der Forschungsliteratur gibt Ansgar Borbe: Die Zahl der Opfer des SED-Regimes, Erfurt 2010, S. 18.

3 Vorstellung des Projektes auf der Webseite des Stasi-Unterlagenarchivs: „Digitalisierungsprojekt zu Haft-Unterlagen. Gedenkstätte Hohenschönhausen digitalisiert Kerblochkartei der Hauptabteilung IX“, 21.02.2020. Link: https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/ueber-uns/notizen/details/news/digitalisierungsprojekt-zu-haft-unterlagen/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=8bdb507bac84e7c380e0315ed04af628