Bespitzelt im Westen

Meine“ Lager Gießen und Marienfelde November 1980 in den Akten

von Utz Rachowski1

Ich kam am 20. November 1980 nach 14 Monaten Haft in Karl-Marx-Stadt und Cottbus im Aufnahmelager Gießen an. Dort gab es einen Lauf-Zettel, man musste Behördenwege innerhalb des Lagers machen. Ich stand sehr früh auf und war der erste der am Vortag angekommenen Gefangenen.

Ärztliche Untersuchung zuerst, dann Bürokratie, Personalien, alles etwa 6-8 Stunden lang. Am Ende eine Kommission, die fragte, in welches Bundesland in Westdeutschland man gehen wollte. Ich sagte (West)-Berlin, weil ich dort einen einzigen Menschen kannte − den inzwischen bekannten Schriftsteller Jürgen Fuchs, der seit meiner Schulzeit mein Freund gewesen war. Verwandte, Bekannte oder andere Freunde in Westdeutschland hatte ich nicht.

Nur drei Gefangene hatten es geschafft, an einem einzigen Tag diese Bürokratie zu durchlaufen und alle Stempel auf dem Laufzettel zu bekommen. Am späten Nachmittag gingen wir, wir hatten neben 30 Mark ein Zugticket und ein Flugzeugticket erhalten, zum Bahnhof Gießen, um nach Frankfurt/Main zum Flughafen zu fahren. Dort fanden wir nach langem Suchen unseren Flug auf dem riesigen Flughafen. Man muss sich vorstellen, dass wir nach Jahren im Gefängnis plötzlich dort unter Tausenden Menschen standen, 24 Stunden vorher hatten wir noch in unseren Zellen gesessen.

Flug nach Berlin, dann sahen wir von oben die orangefarben beleuchtete Berliner Mauer deutlich beim Anflug. Wir flogen Pan Am, denn keine deutsche Fluggesellschaft durfte damals Westberlin anfliegen.

Die anderen zwei Mitgefangenen wurden von Verwandten abgeholt, und ich stand plötzlich allein vor dem Flughafen in Tegel. Ich fragte einen Taxifahrer, wie viel es ins Aufnahmelager kosten würde, es war viel zu teuer. Also fragte ich einen umherstehenden Busfahrer, der war sehr freundlich und schrieb mir einen Zettel: Bus bis Jacob-Kaiser-Platz, dann U-Bahn 7 bis Mehringdamm, dort umsteigen in U-Bahn 6 Richtung Alt-Mariendorf, dann wieder Bus. Ich fragte zwei ältere Leute im Bus nach dem Lager, sie sahen mich an wie einen Verbrecher, sagten mir aber, wo ich aussteigen muss an der Haltestelle des Lagers Marienfelde.

Ein Pförtner in Uniform gab mir den Schlüssel für ein Zimmer, das schon mit zwei ehemaligen Gefangenen belegt war, ich war der dritte. Beide waren in der DDR schwere Kriminelle mit jeweils acht Jahren Haft wegen Schlägereien und Diebstahl. Ich wusste sofort: Hier musst Du wieder raus! Von einem Knast in den anderen, dachte ich…

Am nächsten Morgen schon belästigten mich die beiden ehemaligen Gefangenen mit Fragen, wie viel Geld ich noch hätte, ob ich mit ihnen heute Bier trinken gehen würde, usw. Ich ging schnell zum Frühstück. Dort war eine nette Frau, die mir zusätzlich Milch gab, obwohl ich schon über 25 war (wie sie sagte, durfte sie nur Personen unter 25 Milch zum Frühstück geben). Sie sah wohl auch, wie ich aussah: nach den Monaten der Zwangsarbeit blass und wächsern im Gesicht, und jeden Morgen liefen durch Kreislaufschwäche meine Finger und Hände bis zum Handgelenk schwarz an. Ich rief danach, es war auch meine einzige Hoffnung, meinen Freund Jürgen Fuchs an, und er und seine Frau Lilo sagten sofort, dass ich zu ihnen kommen solle, sofort raus dort! Ich besuchte sie am Mittag und fuhr am späten Nachmittag zurück ins Lager, um meine wenigen Sachen zu holen, es war nur ein kleiner Kunstlederbeutel. Die beiden „Mitbewohner“ hatten mich bereits bestohlen, meine Schuhe und meine Jacke waren weg, die ich am Vormittag in einer Kleiderkammer des Lagers Marienfelde erhalten hatte. Man gab sie mir, weil ich nur Sommerkleidung hatte, meine Verhaftung war an einem warmen Tag Anfang Oktober des vorletzten Jahres gewesen.

Ich wohnte sechs Wochen bei Familie Fuchs, die mich mit Alete-Kinder-Vitaminsäften und gutem Essen wieder aufpäppelte, und dann war ich auf Vermittlung von Sarah Kirsch zu Gast im Literarischen Colloquium am Wannsee untergebracht. Nach 10 Wochen fand ich eine eigene Wohnung in Tempelhof. Von diesen drei Orten aus musste ich jedoch noch sehr oft aus bürokratischen Gründen zurück ins Lager Marienfelde fahren und auch zu vielen anderen Ämtern der Stadt. Um als Ostdeutscher ein Deutscher zu werden, brauchte ich, obwohl ich jeden (!) Wochentag 4 – 6 Stunden unterwegs war, über sechs Wochen. Gerade im Lager Mariendorf waren die Bearbeiter der bürokratischen Angelegenheiten überwiegend unfreundlich und herablassend, vielleicht auch erschöpft.

Ich musste auch zu den sogenannten „Sichtungsstellen“ der West-Geheimdienste – außer zu den Briten – sonst bekam man die notwendigen Stempel nicht und durfte nicht Westdeutscher werden. Die Franzosen waren lässig drauf und schenkten mir Gauloises-Zigaretten ohne Filter, sie fragten mich kaum etwas und wir lachten viel zusammen. Die Deutschen, der BND, sie waren steril – graue Anzüge und graue Gesichter –, distanziert und sie fragten auch nicht viel. Einer beeindruckte mich mit dem Wissen, als er mir sagte, wo genau es am Waldrand meiner kleinen Stadt eine gute Pilzgegend gibt. Der amerikanische Geheimdienst jedoch bestellte mich nach einem kurzen Erstgespräch im Lager Marienfelde an einen anderen Ort in der Stadt, ähnlich einer Kaserne. Dort wurde ich von einem sehr unfreundlichen, verhalten aggressiven Mann im mittleren Alter über Stunden verhört, es war eine Situation ähnlich den Stasi-Vernehmungen. Nach dem ersten Überraschungsmoment, etwa 40 Minuten, bis ich die Situation begriff, verweigerte ich zunehmend jede Aussage, wodurch der Mann noch schärfer und verbal aggressiver wurde. Nach etwa drei Stunden sagte ich zu ihm: Wenn die Russen Westberlin überfallen, dann springen Sie als Amerikaner ins letzte Flugzeug nach Westen und mich stellen die Russen an die Wand. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir.

Daraufhin beendete der Mann seine Vernehmung. Er schien auch beeindruckt. Ich musste etwas unterschreiben, was offenbar mit Geld zusammenhing („for working“). Am Ausgang des Hauses, eines von vielen in der Kaserne, erhielt ich vom Pförtner 30 Mark. Ich ärgere mich noch heute, dass ich das Geld angenommen habe, diese Situation plötzlich am Ausgang hatte mich überrumpelt. Ich war und bin ein wirklicher Amerika-Fan, brachte es 2012 sogar zu einem Lehrauftrag in der Stellung eines Professors für deutsche Sprache am Gettysburg College, aber diese frühere Westberliner Erfahrung ging mir noch lange nach.

Erst viel später im Leben dachte ich darüber nach, ob die verschiedenen Dienste der westlichen Alliierten nicht doch an einem Seil zogen, ihre folkloristischen Rollen bei den Verhören spielten und sich danach austauschten. Auf jeden Fall schien ihnen bewusst, dass sie in Westberlin alle zusammen an einem seidenen Faden hingen.

 

Nach etwa sechs Wochen seit meiner Ankunft in Berlin war ich nun ein „echter Deutscher“ und musste nicht mehr ins Lager fahren. Einen meiner Mitbewohner des Zimmers im Lager Marienfeld sah ich noch einmal wieder, mitten in der Stadt, ich achtete erschrocken darauf, dass er mich nicht erkannte. Er trug meine Winterjacke und meine neuen Schuhe. Ich gönnte sie ihm, aufrichtig.

 

Nach dem Fall der Mauer erfuhr ich durch die Medien, dass der oberste Leiter des Lagers ein Spitzel der „Stasi“ war und unzählige Berichte nach Osten geschrieben hatte.

 

 

Die Aktenlage

 

Knapp zwei Jahre nach der Niederschrift dieses Textes, den ich während eines langen Aufenthaltes in Polen, in Wroclaw, verfasste, bekam ich von der Behörde, die die Stasi-Akten verwaltet (BStU) eine neue Auskunft. Ich hatte 1992 damals gleich einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt, diesen 1993 und 1995 und 2004 wiederholt – man kann das alle zwei Jahre beantragen. 2015 erhielt ich überraschend eine Auskunft, die meine Ankunft im Aufnahmelager Berlin-Marienfelde betrifft: die Stasi hatte aufgeschrieben, was ich beim Französischen Geheimdienst in Westberlin, der mich befragte, äußerte.

 

Meine Erinnerung

 

Ich erinnere mich so an das Gespräch:

Es waren zwei Männer im Raum, offenbar Franzosen, die sehr gutes Deutsch sprachen. Sie fragten mich u. a. wo ich in der DDR meinen Grundwehrdienst abgeleistet hätte. Ich sagte es ihnen: in Erfurt, Kaserne „Blumenthal“, von November 1973 bis April 1975.

Aha, sagten sie, da hatten wir schon mal einen hier von dieser Einheit, der auch dort war, Georg Gafron.

Ach so!, rief ich erfreut aus, Georg, den kenne ich gut, ich war während der Armeezeit mit ihm sehr befreundet. Ich hörte schon, dass er in den Westen geflüchtet sein soll und jetzt Redakteur beim RIAS Berlin ist. Wissen Sie vielleicht, wo er jetzt lebt?

Das sagten sie mir natürlich nicht. Mich wunderte, dass diese Männer diesen Namen offenbar sofort parat hatten. Sie sprachen ja über die Jahre mit tausenden Flüchtlingen bzw. aus dem Gefängnis entlassenen Menschen, die aus der DDR kamen.

Das Gespräch damals war kurz und mit diesem Dialog auch beendet, zum Schluss schenkten sie mir drei Päckchen Gauloises ohne Filter, was mich hoch erfreute. Die Verabschiedung war äußerst freundlich, von beiden Seiten, daran erinnere ich mich genau.

 

Die Schilderung in den Akten

 

Bezirksverwaltung

für Staatssicherheit

Leiter der BV

Genossen Generalmajor Gehlert

Karl-Marx-Stadt

 

Durch eingeleitete politisch-operative Maßnahmen zu dem nach der BRD aus der Haft ausgewiesenen Beschuldigten im OV „Wolke“ – RACHOWSKI, Utz –wurde bekannt:

 

Rachowski wurde am 20.11.1980 in das Lager Gießen eingewiesen. Am 21.11.1980 kam er nach Frankfurt/M. und von dort mit dem Flugzeug nach West-Berlin, Lager Marienfelde.

In Marienfelde Vernehmung durch Amerikaner und Franzosen, dazu die Bemerkung des Rachowski …“haben Sie die Adresse von Georg Gafron – So ein Schwarzhaariger, mit dem ich bei der Armee war.“

 

22.11.1980 erstes Zusammentreffen mit Jürgen und Lilo FUCHS. Sie stellten ihm sofort ein Zimmer zur Verfügung.

Auf Vermittlung von Lilo FUCHS wurde durch einen Pfarrer in dessen Kirchgemeinde eine Sammlung von Mobiliar für Rachowski durchgeführt.

 

Am 11.12.1980 postalische Verbindungsaufnahme von Rainer KUNZE (Reiner wäre richtig, Anm. d. Autors) zu Rachowski und Geldüberweisung in Höhe von DM 300,-- am 12.12.1980.

 

10.1.1981 derzeitiger Aufenthalt in einer Schriftsteller-„Gästevilla“ – „Literarisches Colloquium Berlin“

Adresse Utz Rachowski bei Literairisches Colloquium 1 Berlin 39 Am Sandwerder 5

 

- festgestellte Rückverbindungen

 

Meine Anmerkungen

 

Mindestens einer der beiden französischen Geheimdienstleute, die mit mir sprachen, in den sogenannten „Sichtungsstellen“ im Westberliner Lager Marienfelde, war demnach ein Stasi-Spitzel. Offensichtlich waren sie auch besonders an Georg Gafron interessiert.

Später traf ich Georg Gafron mehrmals. Er rief mich 1981 an, als er im Zusammenhang mit der Verhängung des Kriegsrechts über Polen, gegen das ich mich in der „Frankfurter Rundschau“ ausgesprochen hatte, auf mich aufmerksam geworden war. Mehrmals durfte ich in seiner Live-Sendung „RIAS-Treffpunkt“ sprechen. 1982 trug ich dort Gedichte von internierten polnischen Schriftstellern vor, u.a. von Tomasz Jastrun. Dann verlor sich mein Kontakt zu Georg Gafron wieder.2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Zum Autor: Utz Rachowski, geb. 1954 in Plauen/Vogtland. Mit siebzehn Jahren Relegation von der Oberschule wegen Gründung eines Philosophieclubs. Bahnhofsarbeiter, Elektromonteur, Grundwehrdienst, Abitur. Kurzes Medizinstudium in Leipzig, Heizer. 1980 Verurteilung zu 27 Monaten Gefängnis wegen fünf seiner Gedichte und Verbreitung verbotener Literatur (Biermann, Fuchs, Kunze, Pannach). Klient von Amnesty International. Ausbürgerung im November 1980. Bis 1992 in Westberlin u. Göttingen. Studium Kunstgeschichte/Philosophie. Rückkehr ins Vogtland. Freier Autor mit Nebenberufen. Bücher u.a.: Namenlose (1993), Red’ mir nicht von Minnigerode (2006), Beide Sommer (2011), Miss Suki oder Amerika ist nicht weit! (2013, polnisch 2015), Die Dinge, die ich vergaß. Gedichte aus fünf Jahrzehnten (2018), Poesiealbum 339 (2018), Die Lichter, die wir selbst entzünden. Essays (2019), Unverschuldete Teilnahme (dt.-poln. 2021), Spaziergänge mit Miss Suki. Ein Poem (dt.-poln. 2021), Es fielen die schönen Bilder (Gedichte 2022). Reiner-Kunze-Preis 2007. Nominierung Pushcart-Prize (USA) 2013. Nikolaus-Lenau-Preis 2014. Prosa-Preis der Society for Contemporary American literature in German (USA 2017), Alfred-Müller-Felsenburg-Preis f. aufrechte Literatur (2020), Lisa-u.-Robert-Kahn-Lyrikpreis (USA 2021).

Soeben erschienenes Buch - : „Es fielen die schönen Bilder“ (Poetenladen Verlag, Leipzig)

2Georg Gafron wechselte später zum Westberliner Sender 100,6 und danach zur Tageszeitung BZ und war ein bekannter Medien-Mann.