Akteneinsicht braucht Quellenkritik

Erfahrungen beim Publizieren von Stasi-Akten

von Christoph Links1

 

Bevor ich als Verleger in die Situation kam, Bücher mit Quellenmaterial aus Stasi-Archiven zu publizieren, konnte ich mir an meiner eigenen Akte zunächst ein Bild vom Charakter der überlieferten Unterlagen machen. Nach einem ersten Antrag auf Akteneinsicht im Oktober 1991 wurde ich zunächst auf das zu erwartende Gesetz vertröstet, das dann zum Glück noch im Dezember desselben Jahres verabschiedet wurde, sodass 1992 die ersten Einsichten möglich waren.Ich bekam einen Tag vor Weihnachten die Gelegenheit, mir mein dickes Konvolut anzusehen und einen kompletten Satz an Kopien zu bestellen. Diese trafen Ende Januar 1993 bei mir ein, damals ging alles noch relativ schnell.

Nun konnte ich nachlesen, wie die Stasi versucht hatte, mich als Student anzuwerben und mit welchen Argumenten ich dies abgelehnt hatte. Daraufhin setzte 1977 eine langjährige Überwachung (Operative Personenkontrolle) ein, die bis 1988 reichte, wozu auch eine Postüberwachung gehörte. Ich konnte so nachträglich Briefe aus dem Westen lesen, die ich noch nicht kannte. Gleichzeitig bot sich mir eine Fülle an IM-Berichten dar, sowohl aus der Studienzeit an der Humboldt-Universität als auch aus den Jahren bei der „Berliner Zeitung“, wo ich fünf Jahre lang als Lateinamerika-Redakteur gearbeitet hatte, sowie aus der letzten Zeit als Assistent der Geschäftsleitung im Aufbau Verlag. Ein Teil davon überraschte mich, ein anderer amüsierte mich eher. Erleichtert war ich, dass kein Freund aus der näheren Umgebung unter den Zuträgern war und meine Nase ganz gut funktioniert hatte. Nur in einem Fall lag ich falsch. Ich hatte jemanden verdächtig, und ihn auch von privaten Feiern ausgeladen, der ganz offensichtlich nicht mit der Stasi kooperiert hatte. Mit ihm habe ich mich getroffen und mich in aller Form entschuldigt.

Den drei fleißigsten IM-Schreibern schickte ich jeweils ausgewählte Kopien ihrer Berichte – „mit freundlichen Grüßen zur Erinnerung an alte Zeiten“. Ich konnte relativ gelassen mit den Vorgängen umgehen, da ich außer beruflichen Behinderungen, wozu auch der Verlust meiner journalistischen Anstellung gehörte, keine ernsthaften Repressionen erleiden musste wie manch anderer. Zwei der Angeschriebenen meldeten sich umgehend zurück und versuchten, mir in langen Kneipengesprächen zu erklären, warum sie damals mitgearbeitet hatten. Beide waren nach ihren Enttarnungen arbeitslos geworden. Der Dritte, der schnell wieder auf die Beine gekommen war und nunmehr eine PR-Agentur betrieb, reagierte nicht. Allesamt waren ihre Berichte nicht besonders böswillig, nur an mancher Stelle spekulativ und im Detail mitunter auch unzutreffend.

Ende 1989 habe ich mit Freunden einen unabhängigen Sachbuchverlag für Zeitgeschichte gegründet (zunächst LinksDruck, dann Ch. Links), in dem die Aufarbeitung der DDR-Geschichte eine zentrale Rolle spielte. Da war es geradezu unvermeidlich, auch auf Akten der Staatssicherheit zurückzugreifen. Der erste Band dieser Art war 1994 „Gott in Bautzen. Die Gefangenenseelsorge in der DDR“ von Andreas Beckmann und Regina Kusch. Anhand der neu zugänglichen Akten konnte darin nachgewiesen werden, dass einzelne Pfarrer für den Geheimdienst gearbeitet und ihre Schweigepflicht gebrochen hatten.

Genau in jener Zeit tobte eine öffentliche Diskussion über die Aussagekraft der Stasi-Akten, deren Glaubwürdigkeit wiederholt in Zweifel gezogen wurde. Dies veranlasste den Bundesbeauftragten und seine Abteilung Bildung und Forschung, für den 11. und 12. März 1994 eine wissenschaftliche Tagung unter dem Titel „MfS-Akten und Zeitgeschichtsforschung“ in Berlin einzuberufen. Das Einleitungsreferat „Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit“ hielt Mitarbeiter Roger Engelmann. Darin wurde – wie sollte es anders sein – ein grundsätzlich positives Qualitätsurteil abgegeben, denn ansonsten hätten die in der Behörde beschäftigten Wissenschaftler mit exklusivem Aktenzugang ja auch ihre Existenzberechtigung verloren. Die Materialien der Konferenz bildeten 1995 dann den Band 1 der wissenschaftlichen BStU-Reihe „Analysen und Dokumente“, die in den nächsten fünf Jahren in unserem Verlag zügig auf 20 Bände anwuchs. Die an sich fruchtbare Kooperation mit der Stasi-Unterlagenbehörde zerbrach 2000 am Streit über den Band von Hubertus Knabe zur „West-Arbeit des MfS“. Im umfangreichen Ursprungsmanuskript hatte der Autor das Quellenmaterial so weitreichend interpretiert, dass man den Eindruck bekommen konnte, die Politik der Bundesrepublik sei ein Marionettenspiel der Stasi gewesen. Mit Andeutungen wurden zudem Verdächtigungen lanciert, die wissenschaftlichen Maßstäben nicht Stand hielten, weshalb der Text abteilungsintern kritisiert und vor der Veröffentlichung entsprechend gekürzt wurde. Dies wiederum veranlasste Hubertus Knabe, beim Ullstein Verlag eine „unzensierte“ Ausgabe zeitgleich zu veröffentlichen, obwohl uns Exklusivrechte übertragen worden waren.

Die Frage, wie weit Geheimdienstquellen tatsächlich glaubwürdig sind und wie weit man daraus seriöse Ableitungen treffen kann, stand wieder öffentlich zur Debatte und hinterließ abermals kräftige Spuren. Einige Intellektuelle und Künstler weigerten sich, ihre Akten überhaupt einzusehen oder Dritten (vor allem Journalisten) einen Zugang zu erlauben, da sie Fehlinterpretationen oder selektive Ausschlachtungen befürchteten. Dazu gehörte auch der Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Er wollte sich diesen „Schund“ zunächst nicht antun. Doch der Druck wurde immer größer. Seriöse Literaturwissenschaftler und Zeithistoriker drängten ihn dazu, sich das Material wenigstens mal anzusehen und dann zu entscheiden, wie damit weiter verfahren werden soll. Immerhin handelte es sich um stolze 2200 Seiten aus den Jahren 1961 bis 1989, in denen es nicht nur um die Zensur von Kollegen in der DDR ging, sondern auch um Themen wie deutsche Einheit, Abrüstung und Umweltschutz. Grass gab 2009 schließlich nach und ließ sich die Kopien kommen. Nach tagelanger Lektüre war ihm klar: Obwohl viele Angaben korrekt waren, enthielten die Berichte auch offensichtliche Missverständnisse, sachliche Fehler, Verfälschungen und mitunter auch bewusst gestreute Lügen. So pur wollte er das alles nicht freigeben. Was also tun?

Nach langen Diskussionen entschied er sich dafür, einen vertrauenswürdigen Kollegen, den Bremer Rundfunkjournalisten Kai Schlüter, mit der Systematisierung und Aufbereitung des über verschiedene Bestände verstreuten Materials zu betrauen. Das Ganze sollte zudem in einem ostdeutschen Verlag erscheinen, der auch entsprechende inhaltliche Expertise im Lektorat mitbrachte. Und dann gab es noch eine dritte Bedingung: Alle noch lebenden Personen, die in den Akten vorkommen, sollten die Gelegenheit erhalten, ihre Sicht auf die dargestellten Vorgänge einzubringen und die Akten aus der eigenen Erfahrung zu kommentieren. Kai Schlüter machte sich zusammen mit uns an die Arbeit. Wir fuhren zu den ostdeutschen Autoren, über die im Zusammenhang mit Grass’ Besuchen in der DDR vielfach berichtet wurde, interviewten sie und baten um die Rekonstruktion bestimmter, lange zurückliegender Vorgänge anhand alter Tagebücher und Kalender. Dabei kam heraus, dass die Staatsicherheit, der es nicht gelungen war, einen Spitzel in die internen Lesungs- und Diskussionskreise einzuschleusen, viel mit Mutmaßungen gearbeitet hatte, da sie sich nur auf vage Angaben von Sekundär- und Tertiärquellen stützen konnte. In den Kommentaren der Betroffenen werden daher manche Ereignisse ganz anders dargestellt und völlig andere Schlussfolgerungen gezogen.

Mit „Günter Grass im Visier – Die Stasi-Akte“ ist so ein facettenreiches Buch entstanden, das nicht nur bei der Präsentation auf der Leipziger Buchmesse im März 2010 viel Aufmerksamkeit fand, sondern mit seiner offen quellenkritischen Perspektive bleibende Maßstäbe für den weiteren Umgang mit Geheimdienstakten gesetzt hat.

Das gleiche Herangehen galt für uns natürlich auch für Projekte aus der anderen Perspektive. Wenn ehemalige Stasi-Mitarbeiter ihre Erfahrungen aus dem Gedächtnis niederschrieben, mussten die dort enthaltenen Angaben an den überlieferten Akten gegengeprüft werden. Exemplarisch geschah das bei den Memoiren von Werner Stiller „Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten“, die im Herbst 2010 erschienen. Stiller hatte als Agentenführer von Markus Wolfs Auslandsspionage gearbeitet, sich dann dem BND angedient und war 1979 mit brisanten Unterlagen in die Bundesrepublik geflohen, von wo aus er an die CIA weitergereicht wurde. Während wir sein Handeln beim MfS anhand der überlieferten Personalakten halbwegs rekonstruieren konnten, war dies bei seinen späteren Aktivitäten nicht mehr möglich, weshalb wir beispielsweise seine Darstellung von der Begegnung mit einem früheren Spion in Frankreich zur Nachauflage korrigieren mussten, da uns für seine Behauptungen die notwenigen Belege fehlten.

Die Arbeit mit MfS-Akten wie auch mit Zeitzeugen aus dem Geheimdienstmilieu über beinahe 30 Jahre hinweg hat mich gelehrt, dass keine der beiden Quellen unkritisch gefolgt werden darf. In jedem Fall sollte nach einer Gegenüberlieferung oder einem zweiten Beleg gesucht werden. Das Dokument braucht den Zeugen wie der Zeuge das Dokument. Nur so können Bücher, Artikel und Filme entstehen, die glaubwürdig sind und auch bei weiterer Forschung Bestand haben.

 

Anmerkungen:

1Christoph Links, geboren 1954 in Caputh, gründete einen der ersten Privatverlage in der DDR, dessen Schwerpunkt auf Politik und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts liegt. Im Ch. Links Verlag erscheinen Standardwerke zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik.

Der Verlag wurde 2019 Bestandteil der Aufbau-Verlagsgruppe, wo er unter eigenem Namen fortgeführt wird. Christoph Links beendete seine Verlegertätigkeit zum Jahresende 2020.

Links promovierte 2008 an der Humboldt-Universität mit einer Studie über die Privatisierung der DDR-Verlage nach der Wende zum Dr. phil. Die Arbeit erschien 2009 unter dem Titel Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen.