„Angstschwärzen“ vs. Transparenzoffensive

Praktischer Erfahrung eines Journalisten mit dem StUG

von Sven Felix Kellerhoff

Ein eigener Paragraf im Gesetz – ist das nicht ein Grund für Stolz? Oder zumindest für ein bisschen Zufriedenheit? Im Stasiunterlagen-Gesetz (StUG) findet sich seit dem Inkrafttreten Ende 1991 in Paragraf 34 die Bestimmung: „Für die Verwendung von Unterlagen durch Presse, Rundfunk, Film, deren Hilfsunternehmen und die für sie journalistisch-redaktionell tätigen Personen gelten die Paragrafen 32 bis 33 entsprechend.“ Eine schlichte Regelung, bestimmt doch der Paragraf 32 StUG: „Für die Forschung zum Zwecke der politischen und historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes sowie für Zwecke der politischen Bildung stellt der Bundesbeauftragte (…) Unterlagen zur Verfügung.“ Auf den ersten Blick zudem großzügig – Journalisten waren Forschern gleichgestellt und sollten Stasiunterlagen einsehen dürfen.

Doch wie immer stecken die Probleme im Detail. Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich als Geschichtsjournalist der WELT intensiv mit Stasiunterlagen, habe in dieser Zeit unzählige Artikel und mehrere Bücher veröffentlicht, die überwiegend oder zu großen Teilen auf solchen Akten beruhten. Von den 749 Anträgen nach StUG-Paragraf 34 allein in den beiden Jahren 2019 und 2020 dürften grob geschätzt deutlich mehr als ein Prozent aus dem Kreis der bei WELT mit diesem Thema befassten Kollegen, mich eingeschlossen, stammen.

Ist der Zugang für Journalisten laut StUG nun gut oder schlecht? Paradoxerweise lautet die Antwort aus langjähriger praktischer Erfahrung: beides zugleich. Der Grundirrtum über den in Deutschland praktizierten Zugang zu den Unterlagen des früheren DDR-Geheimdienstes lautet, es handele sich um eine Aktenöffnung. In Wirklichkeit ist das StUG ein Datenschutz-, also ein Aktenschließungsgesetz mit Öffnungsmöglichkeit – also genau das Gegenteil eines normalen Archivgesetzes. Sicher, das StUG ist vielfach besser als das, was im Sommer und Herbst 1990 zeitweise manche westdeutsche Politiker geplant hatten, nämlich eine Sperrung der Akten auf Jahrzehnte oder gar ihre Vernichtung. Aber um eine echte Aktenöffnung ging es trotzdem nie, sondern immer um Kontrolle. Allein die Abteilung Auskunft (AU) der BStU entschied bis zum Übergang der Unterlagen ins Bundesarchiv, was antragstellende Journalisten zu sehen bekamen, was ganz gesperrt blieb und was nur mit kleineren oder größeren Schwärzungen vorgelegt wurde. Ich erinnere mich an ausgehändigte Aktenkopien über geglückte und über gescheiterte Fluchten, auf denen jede, aber wirklich jede Zeile außer der Seitenzahl geschwärzt war.

Die Begründung dafür war einfach und scheinbar einleuchtend: Die Stasi sammelte ihre Erkenntnisse grundsätzlich mit menschenrechtswidrigen Methoden; auf diese Art gewonnene Informationen (oder Desinformationen, das gab es natürlich auch) aber dürften grundsätzlich nicht verwendet werden, es sei denn, besondere Umstände sprächen dafür. Es geht dem StUG eben um Aktenschließung mit Öffnungsmöglichkeit.

Dass Journalisten gewohnt sind, viel mehr zu wissen als sie am Ende veröffentlichen, spielt in der Logik von Datenschützern keine Rolle. Dass Recherchen ohne Kenntnis von Klarnamen oft unmöglich sind, stört Datenschützer nicht, denn ihnen geht es eben nicht um Erkenntnis. Dass professionelle Redakteure nicht auf die Idee kämen, die Behauptungen in Stasiunterlagen für bare Münze zu nehmen, ignorieren Datenschützer.

Die Auslegung der Aktenschließung mit Öffnungsvorbehalt schwankte jedoch mit der Zeit. Bei einer meiner ersten Recherchen in Stasiunterlagen, 1999 über die Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser alias IM „Gisela“, war ich erstaunt, was in den mir übergebenen Kopien alles an Informationen über die von der bekannten DDR-Kabarettistin bespitzelten Kollegen zu lesen war, teilweise mit voller Namensnennung, mindestens aber leicht erschließbar. Wenig später begann, mit dem ersten Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin im Fall Kohl über die von der damaligen Bundesbeauftragten Marianne Birthler beabsichtigten Herausgabe von Abhörprotokollen und ähnlichem Material zum ehemaligen Bundeskanzler, die Phase des „Angstschwärzens“. Die von der BStU positiv beschiedenen Medienanträge auf Einsicht in Stasiunterlagen über Helmut Kohl verstießen offensichtlich gegen den Zweck des StUG, dienten nicht der Aufklärung der Tätigkeit des DDR-Geheimdienstes, sondern sollten Material für eine Anti-Kohl-Kampagne liefern. Daher konnten die Gerichte nicht anders, als die Herausgabe wieder und wieder abzuweisen. Das führte zu jahrelang wesentlich verschlechterten Einsichtsmöglichkeiten in nahezu alle Stasiunterlagen, auch wenn es gar nicht um Prominente ging.

Eigentliche Archive waren da zur selben Zeit schon wesentlich weiter: Mitunter fand ich, zum Beispiel bei meinen Recherchen über Fluchttunnel, Durchschläge von Stasiunterlagen in den Beständen der DDR-Grenztruppen im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg und konnte sie dort nicht nur auswerten, sondern bekam sogar Kopien, während die Originale aus den Beständen der BStU entweder gar nicht, lückenhaft oder mit großen Schwärzungen vorgelegt wurden.

In den letzten zwei oder drei Jahren von Amtszeit von Marianne Birthler zeigte sich bei einigen (allerdings längst nicht allen) Mitarbeitern der BStU zunehmender Ärger über die deren Ansicht nach unvernünftige Praxis des Schwärzens. Mindestens ein halbes Dutzend Mal habe ich selbst erlebt, dass auf den Rollwagen mit den für mich bereitgestellten Akten nicht nur die ordentlich geschwärzten Kopien zur Einsicht bereitlagen, sondern – vermutlich „versehentlich“ – auch die Originale. Natürlich habe ich das getan, was jeder Journalist in so einem Fall tut: Sämtliche Namen und andere in den Kopien geschwärzten, potenziell interessanten Informationen habe ich notiert und sie später im Büro auf den mitgenommenen Kopien ergänzt.

Doch in die Amtszeit Birthlers fällt auch meine vielleicht größte Überraschung, was den Zugang zu Akten angeht. Im Fall Kurras, des West-Berliner Polizisten, der am 2. Juni 1967 ohne jeden Grund den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte und über den an Christi Himmelfahrt 2009 bekannt wurde, dass er 1955 bis 1967 als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi gespitzelt hatte, kamen im Wochenrhythmus immer neue und kaum geschwärzte Akten in der Redaktion an. Es fühlte sich an wie eine Transparenzoffensive der Behörde. In diesen Unterlagen waren Namen und Zusammenhänge nachlesbar, die noch bei kurz vorher angeschobenen Recherchen zu anderen Themen geschwärzt worden wären. Ob das ein bewusstes Entgegenkommen war oder auf die Überforderung von BStU-Mitarbeitern zurückging, habe ich nie erfahren.

In der Amtszeit von Roland Jahn, dem dritten und letzten Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, entspannte sich die Lage weiter, wenn auch nicht so weit wie erhofft – der Apparat bewies erstaunliche Beharrungskraft (oder zumindest einige Personen aus dem Apparat). Trotzdem ist der Zugriff auf Akten ständig besser geworden. Inzwischen werden vielfach Kopien, inzwischen meist Scans, einfach zugeschickt, ohne dass man sich zuerst der zeitaufwendigen Einsichtnahme vor Ort unterziehen muss. Im Presse- und Forschungslesesaal fühlte ich mich immer ein wenig so wie sich Gymnasiasten früherer Generationen wohl bei Strafarbeiten in der Schule gefühlt haben müssen: unter Aufsicht und spürbar unwillkommen. Der Stil im Bundesarchiv und allen Landes-, Staats- oder sonstigen Archiven, in denen ich innerhalb und außerhalb Deutschlands gearbeitet habe, hob sich davon immer sehr deutlich ab.

Natürlich bleibt das StUG in modifizierter Form weiter die Grundlage jeder Einsichtnahme in Stasiunterlagen, auch nach dem Übergang der Bestände in die Obhut des Bundesarchivs. Dennoch ist zu hoffen, dass nach so vielen Jahren praktischer Erfahrung mit diesem besonderen Erbe die Auslegung der Regeln weiter in Richtung Offenheit tendieren wird.