Schneewittchens Flucht

Unbekanntes aus den Stasi und BND-Akten zur Ausreise des Devisenhändlers Schalck-Golodkowski in den Westen im Dezember 1989

Von Andreas Förster1

Der 3. Dezember 1989 ist noch keine Stunde alt, da passiert ein dunkelblauer BMW mit Ostberliner Kennzeichen den Grenzübergang in der Invalidenstraße Richtung Westberlin. Am Steuer sitzt Alexander Schalck-Golodkowskii, Stasi-Oberst und zugleich einer der mächtigsten und einflussreichsten Wirtschaftsfunktionäre der DDR. Auf dem Beifahrersitz neben ihm hat seine Frau Sigrid Platz genommen. In dem für die Devisenbewirtschaftung zuständigen Außenhandelsbereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), der von ihrem Mann geleitet wird, ist sie für die Versorgung der Politbüromitglieder in der Bonzensiedlung Wandlitz zuständig. Es sind zwei höchstrangige Geheimnisträger der DDR-Nomenklatura, die sich in dieser Nacht in den Westen absetzen.

Bis heute sind viele Einzelheiten dieser Aufsehen erregenden Flucht ungeklärt , die in der von den Wendewirren ohnehin geschüttelten DDR ein Beben auslösten: Wer wusste von den Fluchtabsichten des Ehepaars; welche Rolle spielten Stasi und BND; wie reagierten SED-Führung und Bonner Bundesregierung; wie verhielten sich die westlichen Alliierten in dieser Situation; in welcher Gefahr schwebten die Schalcks tatsächlich vor und nach ihrer Flucht? Erstmals hat jetzt der Bundesnachrichtendienst neue Unterlagen zu Schalck freigegeben, die einen Einblick geben in das Agieren des Pullacher Geheimdienstes und des Bundeskanzleramtes in jenen Dezembertagen 1989. Bislang kaum beachtete Unterlagen aus dem Stasiarchiv enthüllen zudem weitgehend unbekannte Details, die der DDR-Staatssicherheitsdienst über Schalcks Flucht und die Tage danach zusammengetragen hatte. Sie zeigen unter anderem, dass das MfS damals genau wusste, wo sich der Staatssekretär in Westberlin aufhielt, und wie eng dessen Kontakt in dieser Zeit zu Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) war. Damit vervollständigen die Akten von BND und MfS das Puzzle jener denkwürdigen Dezembertage weiter, auch wenn das ganze Bild - was noch zu zeigen sein wird - weiterhin Lücken aufweist.

Um die Bedeutung von Schalcks Flucht zu verstehen, lohnt ein Blick auf Leben und Karriere des einstigen KoKo-Chefs.  Alexander Schalck kam am 3. Juli 1932 in Berlin zur Welt. Sein Vater, ein russischer Offizier, der nach der Oktoberrevolution staatenlos wurde, arbeitete als Taxifahrer, seine Mutter, in Hamburg geboren, war Masseuse. 1948 begann Schalck eine Lehre an in den Ostberliner Elektro-Apparate-Werken (EAW). Mit 20 Jahren wechselte er ins DDR-Ministerium für Außenhandel, wo er es schließlich bis zum Staatssekretär und zweifachen Träger des Karl-Marx-Ordens bringen sollte.ii

Von Beginn an hatte Schalck einflussreiche Freunde in der Partei, die ihn förderten. Aber es war nicht nur die SED, die sein Potenzial erkannte. 1962 holte ihn die Stasi in ihre Reihen, was seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägte. Mit der Hilfe des Geheimdienstes und der persönlichen Rückendeckung von MfS-Chef Erich Mielke baute Schalck von 1966 an einen klandestinen Westhandelskonzern mit Milliardenumsatz auf – den Bereich „Kommerzielle Koordinierung“, heute bekannt als KoKo. Bis zur Revolution im Herbst 1989 dirigierte Schalcks KoKo rund 200 Firmen, die allermeisten davon im westlichen Ausland. Die KoKo-Unternehmen erwirtschafteten Devisen für den klammen SED-Staat, durchschnittlich mehr als eine Milliarde D-Mark jährlich. Erreicht wurde der Gewinn durch legalen Handel einerseits, andrerseits aber auch durch Schmuggel- und Schiebergeschäfte mit Waffen, Antiquitäten, Briefmarken, Schmuck und Edelmetallen, die nicht selten aus zweifelhaften Quellen stammten. Durch sein Geschick und seine Skrupellosigkeit beim Einfädeln von Geschäften wurde Schalck zum wichtigsten Devisenbeschaffer des SED-Staats.

Daneben gewann er das Vertrauen bundesdeutscher Spitzenpolitiker, die ihn in den 1980er Jahren als zuverlässigen Unterhändler Honeckers schätzen lernten. Sein diplomatisches Geschick, gepaart mit einer wohlbemessenen Berliner Schnodderigkeit, kam in den westdeutschen Machtkreisen an. Mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Franz Josef Strauß fädelte er 1983 und 1984 zwei politisch im Westen hoch umstrittene Milliardenkredite für die DDR ein. Zwischen den beiden Männern entstand eine Freundschaft , bei ihren diskreten Gesprächen in Bayern tauschten sie so manche geheime Informationen über Politik und Militär aus. Auch der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, bis April 1989 Chef in Helmut Kohls Bundeskanzleramt, hielt Kontakt zum Stasi-Oberst. Schäuble fuhr in dieser Zeit auch schon mal spätabends in der Stasi-Siedlung am Hohenschönhausener Obersee vor, um im Privathaus von Schalck heikle Fragen der deutsch-deutschen Asylpolitik zu besprechen.iii

Im Pullacher Hauptquartier des BND - das zeigen die jetzt freigegebenen Unterlagen des Geheimdienstes aus jener Zeit - war man ab Ende 1981 ziemlich genau über die Rolle von Schalck und seiner KoKo im Bilde. Zu verdanken hatte das der Dienst einem in jeder Hinsicht gewichtigen Überläufer aus der DDR, dem Geschäftsmann Günther Asbeck. Der wegen seiner Leibesfülle „der Dicke“ genannte Asbeck hatte in Ostberlin jahrzehntelang die Firma Asimex betrieben, die im Auftrag der KoKo im Westen mit Lebens- und Genussmitteln handelte. Auch diente die Asimex als Abdeckung für Geheimoperationen der Stasi-Auslandsaufklärung HVA. Nach seiner Flucht in den Westen packte Asbeck, der über enge Kontakte im DDR-Apparat bis hinauf ins Politbüro verfügte, sein gesamtes Wissen über Behörden und Protagonisten des SED-Regimes beim BND aus. Von dem Überläufer erhielt Pullach zudem eine Fülle von Details über Schalck, dessen Stasi-Anbindung und die KoKo. Sogar einen Grundriss der Ostberliner KoKo-Zentrale in der Wallstraße in Mitte zeichnete Asbeck dem BND auf sowie eine Skizze der dortigen Chefetage, in der selbst die Kameras und die Stellung der Möbel in Schalcks Büro eingezeichnet waren.iv

Der BND leitete die Erkenntnisse über Schalck und dessen KoKo sowie weitere wichtige Informationen aus den Gesprächen mit Asbeck zeitnah an ausgewählte Vertreter der Bundesregierung weiter. Aus den BND-Akten geht hervor, dass ab 19. November 1981 - zwei Wochen nach Beginn der Befragung des Überläufers - der damalige Chef des Bundeskanzleramtes, Staatssekretär Manfred Lahnstein (SPD), sowie wenig später auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) regelmäßig zusammenfassende Berichte „aus der besonderen Quelle“ erhielten, wie es in den Begleitschreiben des damaligen BND-Präsidenten Klaus Kinkel heißt.v Ab Anfang 1982 übermittelte Pullach ausgewählte Erkenntnisse aus den Asbeck-Befragungen zudem an das Bundeswirtschaftsministerium sowie an die Bundestagsfraktionschefs von SPD, CDU/CSU und FDP.vi Die politische Führung in Bonn war also genau im Bilde, wer sich hinter den mit westdeutschen Konzernen eifrig Handel treibenden KoKo-Firmen verbarg und mit wem CSU-Chef Strauß ab 1983 in vertraulichen Runden zusammengesessen hatte, um den mit der Kohl-Regierung abgestimmten Milliardenkredit für die klamme DDR auszuhandeln.

An die Öffentlichkeit lancierten BND und Bundesregierung gleichwohl keine Interna über die KoKo. Zum einen aus politischem Interesse, weil man den deutsch-deutschen Unterhändler nicht desavouieren und den Freikauf von DDR-Häftlingen, in den die KoKo ebenfalls eingebunden war, nicht gefährden wollte; zum anderen aus wirtschaftlichem Interesse, da viele namhafte deutsche Unternehmen gute Geschäfte mit Schalcks Firmenimperium machten. Als doch einmal der Spiegel 1988 eine große Geschichte über Schalck und die KoKo vorbereitete, nahm Bonn erfolgreich Einfluss darauf, dass die Veröffentlichung verschoben wurde. Das Magazin hatte seine Informationen vermutlich vom Berliner Verfassungsschutz gesteckt bekommen, dem der BND zuvor auf Anfrage mehrere entsprechende Erkenntnisse übersandt hatte.

Und so schien Schalck auch noch zu Beginn des Revolutionsherbstes 1989 fest im Sattel zu sitzen. In einem langen Fernsehinterview im November präsentierte sich der bis dahin stets im Hintergrund agierende Staatssekretär den staunenden DDR-Zuschauern als mutiger Wirtschaftsreformer, der kein Blatt vor den Mund nahm bei der Beschreibung der misslichen ökonomischen Lage des Landes. In Verkennung seiner Rolle wurde er sogar gelegentlich als Hoffnungsträger einer DDR-Reformregierung genannt. Für den Honecker-Nachfolger Egon Krenz führte er vertrauliche Verhandlungen in Bonn mit dem damaligen Bundesinnenminister Schäuble. Schalck sollte dabei die Bedingungen einer Sicherheits- und Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten ausloten. Die Gespräche kamen gut voran. Voller Euphorie verkündete er Ende Oktober nach der Rückkehr aus Bonn seiner Sekretärin, nun sei alles perfekt, die DDR werde das 12. Bundesland der BRD.vii

Doch Schalck und Krenz, das Politbüro und die Stasi hatten sich verschätzt. Das Versprechen von demokratischen Reformen und die vermeintliche Dialogbereitschaft der SED-Führung verfingen beim Volk nicht. Die Bürger trauten den gewendeten Parteikadern nicht. Der Druck der Straße nahm weiter zu. Hinzu kamen interne Machtkämpfe in der SED-Spitze, bei denen die Kräfte die Oberhand gewannen, die eine Rettung der Partei und ihres Vermögens präferierten, selbst auf Kosten eines Machtverlustes.

Schalck ahnte, dass er ein Opfer dieses Machtkampfes werden könnte, indem der Volkszorn auf seine KoKo gelenkt und ein Exempel an ihm statuiert würde. Während eines seiner vielen Gespräche mit Schäuble in diesen Tagen fragte er seinen Gesprächspartner, ob er mit Hilfe rechnen könne, wenn es für ihn notwendig wäre, sich aus der DDR abzusetzen. Schäuble nickte.viii

In Bonn verfolgte man den Machtkampf in Ostberlin aufmerksam. Da veröffentlichte der Spiegel am 20. November 1989 unter dem Titel „Fanatiker der Verschwiegenheit“ sein schon ein Jahr zuvor recherchiertes Dossier über Schalck und seine KoKo. Garniert war das Ganze mit Anekdoten über den skrupellosen Deviseneintreiber.ix Die Spiegel-Geschichte verfehlte ihre Wirkung nicht – auch nicht in der DDR. Schalck wurde aus dem Zentralkomitee geworfen, die Stasi entpflichtete ihn kurzerhand, Mielke-Nachfolger Schwanitz rief den Oberst persönlich an: „Genosse Schalck, wir können nichts mehr für Dich tun.“ Als der einst so mächtige Staatssekretär am späten Abend des 2. Dezember von seinem Freund, dem Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, auch noch erfuhr, dass bereits ein Haftbefehl für ihn ausgestellt sei, blieb ihm nur die Flucht in den Westen. In der eiskalten Dezembernacht, um 0.40 Uhr, passierte das Ehepaar Schalck wie geschildert die Grenze nach Westberlin. Unter den Augen der Stasi, wie der KoKo-Chef später erzählte. Auf ihrem Weg zum Übergang in der Invalidenstraße sei ihnen ein Lada gefolgt, sagte er vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss. Als das Ehepaar die Grenzkontrolle passierte habe, sei der Lada abgedreht.x

Gut drei Stunden nach der Flucht Schalcks, gegen 4 Uhr früh, wurde SED-Ministerpräsident Hans Modrow aus dem Bett geklingelt und informiert. Die Nachricht von der Flucht blieb jedoch noch bis 10 Uhr gesperrt. Man wollte dem alten Kameraden offenbar ein wenig Vorsprung lassen. Erst gegen Mittag zogen Polizeikräfte vor insgesamt 15 KoKo-Objekten in Berlin und vor Schalcks Wohnhaus in der Hohenschönhausener Manetstraße auf, um eine Besetzung durch Bürgergruppen und den Abtransport von Akten zu verhindern.

Sigrid Schalck hatte die Nachrichtensperre genutzt, um am Vormittag dieses Sonntags noch einmal unbehelligt nach Ostberlin zurückkehren und ein paar Sachen aus ihrem Wohnhaus zu holen. Darunter auch möglicherweise Bilder aus der wertvollen Privatsammlung zeitgenössischer Kunst. Für ihre Haushälterin, Frau Baldauf, ließ sie einen handschriftlichen Abschiedsgruß zurück. Der offenbar in großer Eile und fehlerhaft geschriebene Text lautet: „Werte Frau Baldauf, wir fahren in Urlaub diese Hetze und Verleumnung ist jetzt nicht zu ertragen. Bis bald Fam. Schalck“.xi

Unklar blieb in der MfS-Zentrale, wie schnell Schalck im Westen sein Geheimwissen auf den Tisch legen würde. Die Stasi ließ daher schon wenige Stunden nach der Flucht mehr als 40 Firmen und Geschäftsleute im Westen, die mit der KoKo in Beziehung standen, von der Stasi-Lauschabteilung HA III in Zielfahndung nehmen und rund um die Uhr überwachen. Darüber hinaus wurden Fahndungsmaßnahmen zu insgesamt 30 führenden KoKo-Mitarbeitern eingeleitet. Sollte einer von ihnen an einem Grenzübergang auftauchen, musste vor einem Passieren erst Rücksprache mit dem MfS genommen werden, lautete die Anweisung.xii Die Angst war groß, dass noch weitere Schalck-Getreue überlaufen und dort umfangreich auspacken könnten über geheime Konten und illegale Geschäfte des Bereichs.

Dass diese Furcht nicht unbegründet war, erwies sich am 5. Dezember. Kurz nach 18 Uhr fischten die Kontrollkräfte ein Ehepaar aus dem Strom von Menschen, die über den Grenzübergang Oberbaumbrücke nach Westberlin drängten. Es handelte sich um den Chef der KoKo-Waffenhandelsfirma IMES, Ehrhardt Wiechert, und seine Ehefrau. Beide Personen hätten einen nervösen Eindruck gemacht, heißt es im Bericht der Grenzkontrolleure. Die Wiecherts führten kein Gepäck mit sich, wird weiter vermerkt. Allerdings sei in der Handtasche der Ehefrau ein Zettel versteckt gewesen, auf dem eine Westberliner Anschrift notiert war. Wiechert und seine Frau wurden wieder zurückgeschickt. Einen Tag später meldete sich die Stasi bei dem IMES-Chef und erklärte ihm, dass er vorläufig nicht in den Westen reisen darf.xiii

Am 3. Dezember, nur wenige Stunden nach Schalcks Flucht, hörte die Stasi ein Gespräch von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel mit einem Vertrauten ab. Darin erzählte Vogel, dass er wisse, wo sich der KoKo-Chef aufhalte, er unterliege in dieser Sache aber der Schweigepflicht. Die Stasi-Lauscher notierten auch eine klare Drohung des Anwalts: „Von Sch.-G. habe Vogel Informationen erhalten, die es ihm möglich machen würden, dafür zu sorgen, dass Sch.-G. ‚nicht allein in die Ecke gestellt’ werden kann. … Er habe lediglich das gemacht, was ihm das Politbüro gesagt hat“, heißt es im Bericht der HA III.xiv

In den Tagen nach Schalcks Flucht meldeten sich mehrere Personen bei den Ostberliner Behörden, weil sie angeblich den Aufenthaltsort des Flüchtigen kannten. Ein Professor etwa sagte, Schalck verstecke sich in der Wohnung seiner geschiedenen Ehefrau in Prenzlauer Berg; ein IM „Christian“ war überzeugt, der KoKo-Chef sei bei einem Freund im jugoslawischen Dubrovnik untergetaucht.xv

Doch in der Normannenstraße wusste man es besser – dank abgehörter Telefongespräche, die Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit seinem Büro in Bonn führte. Schäuble war – welch Zufall – kurz nach Schalcks Flucht nach Westberlin gereist. In die über Richtfunkstrecke geführten Gespräche des Ministers mit seinem Büro in Bonn hatte sich die Stasi eingeklinkt und hörte alles mit.

Auf diese Weise erfuhren die MfS-Lauscher am 4. Dezember, dass sich Schalck immer noch in Westberlin versteckt. Am Abend dieses Tages hatte Schäuble seine Sekretärin angerufen, um „über die aktuelle Situation im Fall Schalck-Golodkowski unterrichtet zu werden“, wie die Stasi festhielt. Die Sekretärin informierte den Minister, dass sich Schalck nur zwanzig Minuten zuvor, um 21.30 Uhr, bei ihr in Bonn telefonisch gemeldet habe. Er habe dabei angegeben, inzwischen mit seinem „Schutzpatron“ gesprochen zu haben – gemeint war damit offenbar der Pfarrer Karl-Heinz Neukamm, Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Deutschlands. Schäuble hatte Neukamm als seinen Mittelsmann benannt, als Schalck sich zwölf Stunden nach seiner Flucht beim Minister in Bonn gemeldet hatte.

Schäubles Sekretärin informierte in dem abgehörten Telefonat ihren Chef über das Treffen zwischen Schalck und Neukamm in Westberlin. „Im Ergebnis dieses Gesprächs soll festgelegt worden sein, dass das über die Amis läuft“, wurde die Sekretärin im Stasi-Bericht wiedergegeben. Schäuble erklärte daraufhin, dass er sich noch am selben Abend mit Neukamm in Westberlin treffen werde.xvi Ob Schalck bei dem Treffen mit dabei sein sollte, geht aus den MfS-Akten nicht hervor.

Doch was sollte „über die Amis“ laufen? Offenbar war damit gemeint, den kostbaren Überläufer alsbald aus Westberlin herauszuschaffen. Denn Bonn dürfte klar gewesen sein, dass Schalck in der Stadt vor einem Greif- oder gar Killerkommando der Stasi nicht sicher war. Die Angst hatte wohl auch der Flüchtling. Laut Stasi-Bericht sagte Schalck in dem Telefonat mit Schäubles Sekretärin, „er müsse halt dahin gebracht werden, wo sie die Macht hätten, egal wie, er muss jetzt raus“.xvii Sollten der US-Geheimdienst CIA oder das US-Militär dazu gebracht werden, den Transport Schalcks an einen sicheren Ort zu übernehmen?

Dass die Alliierten ein großes Interesse an dem prominenten Flüchtling aus der DDR hatten, wusste auch der BND-Verbindungsbeamte in Westberlin zu berichten. In einem Telex an die Pullacher Zentrale vom 7. Dezember, vier Tage nach Schalcks Flucht, schrieb der Beamte mit dem Dienstnamen Zangberg: „Die britische Militärregierung bemüht sich sehr um Sch. und hat ihre Rechtsberaterin … mit der Gesprächsführung beauftragt. Ebenso rief der französische VO (Verbindungsoffizier - d.A.) bei mir an, mit der Bitte um Aufklärung über den Vorgang Sch.“xviii

Zu diesem Zeitpunkt aber hatte sich Schalck in Westberlin schon den Behörden gestellt. Am Abend des 6. Dezember, nachdem er und seine Frau sich drei Nächte lang bei einer befreundeten Unternehmerin in Westberlin verborgen hatten, meldete sich der KoKo-Chef in Begleitung seines Rechtsanwalts Peter Danckert in der Haftanstalt Moabit, wo sich der Flüchtling freiwillig in Haft begab. Möglicherweise hatte Innenminister Schäuble auf ihn eingewirkt, sich nicht in die Hände der Alliierten zu begeben. Die Haft diente auch der Abwehr von DDR-Rechtsansprüchen. Schon am Tag darauf übergaben DDR-Kuriere der Staatsanwaltschaft beim Westberliner Kammergericht „ein Rechtshilfeersuchen nebst Haftbefehl wg. Veruntreuung mit der Bitte um Zulieferung des Sch.“, wie es in dem BND-Telex vom 7. Dezember heißt.

Die Behörden steckten nun in der Bredouille. Ohne ein eigenes Ermittlungsverfahren gegen Schalck hätten sie den Flüchtling nach dem Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen ausliefern müssen. Deshalb ersuchte das Westberliner Landesamt für Verfassungsschutz (BND-Deckbezeichnung „Leder“) die Pullacher Zentrale darum, das ihnen ein Jahr zuvor bereitgestellte Material über die KoKo schnellstmöglich freizugeben. „Hintergrund ist die Anfrage des Innensenators bei Leitung Leder nach Erkenntnissen zu Sch., die zur Weitergabe an die Justiz vorgesehen sind“, berichtete der BND-Beamte Zangberg in seinem Telex vom 7. Dezember.xix

Der BND wandte sich an das Kanzleramt mit der Bitte um eine schnelle Entscheidung. „Angesichts der politischen Brisanz wurde dem LfV die Freigabe (der BND-Erkenntnisse - d.A.) zunächst verweigert und auf eine Grundsatzentscheidung der Bundesregierung verwiesen“, schrieb BND-Präsident Hans-Georg Wieck am 8. Dezember an Kanzleramtschef Rudolf Seiters. „Ich rege an, die Angelegenheit am Rande der ND-Lage (gemeint ist die regelmäßige nachrichtendienstliche Lagebesprechung im Kanzleramt - d.A.) am Dienstag, den 12.12.89, zu erörtern.“xx

Doch Bonn zögerte. Offenbar fürchtete man dort, die gerade sehr heikle Phase der Annäherung zwischen Ostberlin und Bonn zu gefährden, wenn man dem Überläufer Schutz gewährt. Der BND machte nun Druck, verwies auf die Gefährdung Schalcks in Westberlin. „In ‚Führungskreisen‘ des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besteht geradezu ‚panische Angst‘ davor, dass sich Schalck westlichen Stellen gegenüber eröffnen und Interna seiner langjährigen Tätigkeit … preisgeben könne“, gab BND-Präsident Wieck in einem Fernschreiben vom 15. Dezember an das Bundeskanzleramt die Meldung einer „sehr zuverlässigen Quelle des Bundesnachrichtendienstes“ wieder. Weiter heißt es in dem Telex: „In den o. a. Führungskreisen ist bekannt, dass Schalck in schwerwiegende Korruptionsaffären verwickelt war, die auch ehemalige Spitzenfunktionäre der SED und des MfS miteinbezogen. … Die angesprochenen ‚Führungskreise‘ setzen alles daran, derartige Eröffnungen Schalcks zu verhindern. Sie geben vor, jederzeit über sein Verhalten in der Untersuchungshaft (Gefängnis Moabit) informiert zu sein. Ferner gehen sie davon aus, den Zeitpunkt seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft rechtzeitig zu erfahren und ggf. auch im Gefängnis einen ‚Anschlag auf Leib und Leben Schalcks‘ durchführen zu können.“xxi

Das überzeugte Bonn offenbar. Noch am selben Tag erteilte Kanzleramtschef Seiters die Zustimmung zur Freigabe der BND-Erkenntnisse über die KoKo „in quellenbereinigter Form“ an die Berliner Staatsanwaltschaft. Der Geheimdienst übermittelte daraufhin der Justiz einen zwölfseitigen Bericht mit dem Titel „Aufgaben und Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel“. Er beinhaltete in einem zweiseitigen Anhang auch detaillierte Angaben über die Persönlichkeit und das Privatleben Schalcks.xxii Der Report basierte im wesentlichen auf den Angaben dreier Quellen, die der BND in den 1980er Jahren rekrutieren konnte: dem schon erwähnten Überläufer Günther Asbeck, dem 1983 in den Westen geflohenen Chef der KoKo-Firma Kunst und Antiquitäten GmbH, Horst Schuster, sowie einem ehemaligen Mitarbeiter aus dem Technologiekombinat Carl Zeiss Jena, der eng mit der KoKo zusammengearbeitet hatte. Von besonderem Interesse für die Strafverfolgungsbehörde dürften dabei die in dem BND-Bericht enthaltenen Informationen über die Beteiligung der KoKo am Embargo- und Waffenhandel und die enge Verquickung des Bereichs und seines Leiters Schalck mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst gewesen sein. Boten sich damit doch Ansatzpunkte für ein eigenes Ermittlungsverfahren, mit dem man die Auslieferung des Überläufers an die DDR verhindern konnte.

Nun wollten aber auch die westlichen Alliierten die BND-Erkenntnisse über Schalcks KoKo erhalten. Eine entsprechende Anfrage des Kanzleramtes beim BND beschied dessen Präsident Wieck jedoch ablehnend. „Von einer Weitergabe von BND-Erkenntnissen an alliierte Dienststellen rate ich ab“, schrieb er in seiner Antwort vom 21. Dezember ans Kanzleramt. „Es ist wahrscheinlich, dass die Alliierten auch über eigene Erkenntnisse zu Schalck-Golodkowski verfügen. Ihr Interesse an Aktivitäten im Bereich des illegalen Technologietransfers ist sehr groß.“xxiii Ein deutlicher Wink des gelernten Diplomaten Wieck, den man auch in Bonn verstand: Sollten die Verbündeten und insbesondere die USA erst einmal tiefer graben beim Embargoschmuggel der KoKo, würden sie schnell auf westdeutsche Konzerne stoßen, die darin verwickelt waren. Daran aber hatte auch die Bundesregierung kein Interesse.

Kurz vor Weihnachten 1989 plante die Westberliner Staatsanwaltschaft, Schalck auf freien Fuß zu setzen. Am 20. Dezember vernahm das Bundeskriminalamt den Überläufer. Bei der Gelegenheit sagte Schalcks Rechtsanwalt Peter Danckert, dass sein Mandant „sich durch die DDR-Dienste gefährdet sieht, deswegen wolle SCH.G. in die Bundesrepublik kommen“, heißt es in einem Vermerk des Abteilungsleiters 1 des BND, Volker Foertsch, für den BND-Präsidenten vom 21. Dezember. „Der Verteidiger fragt, ob der BND die Sicherung der Reise und des weiteren Aufenthaltes SCH.G’s übernehmen könnte.“ Foertsch bittet um eine Entscheidung und gibt zu bedenken: „Es ist nicht abzusehen, ob SCH. dem BND wesentliche Informationen im Sinne eines Auftrages bringt und ob dann dessen Nutzung politisch gewollt wäre. Wie gefährdet SCH. tatsächlich ist und ob der BND wirksam diese Gefahren absehen kann, ist ebenfalls offen. Welche politischen Folgen aus dem Aufenthalt SCH. in der Bundesrepublik entstehen, ist gleichfalls von hier aus nicht zu übersehen. Andrerseits ist zu überlegen, welche Wirkungen von einem Aufenthalt SCH’s in einem anderen Land ausgehen.“xxiv

Welche Entscheidung Bonn und Pullach trafen, ist bekannt. Der BND schaffte den gewichtigen Überläufer und dessen Gattin aus Westberlin hinaus und auf eine abgelegene Almhütte in den Alpen. In wochenlangen Befragungen ließ sich Pullach anschließend von Schalck die Lücken in der eigenen DDR-Aufklärung auffüllen.

Unbeantwortet aber sind bis heute verschiedene Fragen geblieben: Was hat der einstige KoKo-Chef beim Bundesnachrichtendienst ausgesagt? Bekannt ist, dass er zwei seiner Geschäftspartner aus der DDR - den in den Embargohändler verstrickten Stasi-Agenten Günter Forgber und den für High-Tech-Schmuggel verantwortlichen DDR-Außenhändler Gerhardt Ronneberger - als gut bezahlte Auskunftspersonen an den BND vermittelte. Welche Türen konnte Schalck den Pullacher Geheimdienstlern in Ostberlin noch öffnen?

Und war der Ex-Staatssekretär möglicherweise schon vor seiner Flucht in den Westen dem Bundesnachrichtendienst verpflichtet? Auffällig ist jedenfalls, dass Schalck, als der BND ihn ab Januar 1990 zu befragen begann, in den Akten den Decknamen „Schneewittchen“ erhielt. Mit dem gleichen Decknamen hatte ab Mitte der 1980er Jahre aber bereits eine andere hochrangige, bis heute unenttarnt gebliebene BND-Quelle aus der DDR berichtet. Die Vergabe des gleichen Decknamens an zwei verschiedene Quellen innerhalb weniger Jahre ist beim BND unüblich.

Unklar ist auch, ob Schalck bei seinem Wechsel in den Westen belastendes Material gegen westdeutsche Politiker mit sich führte, quasi als eine Art Lebensversicherung. Und was hatte es mit den braunen DIN-A4-Umschlägen auf sich, die eine Freundin der Familie wenige Tage nach der Flucht 1989 aus einem Bankfach der Schalcks in der verschwiegenen Otto-Scheuermann-Bank in Westberlin holte und Sigrid Schalck übergab? Befanden sich darin vielleicht Teile seiner Sammlung von Briefmarken und Münzen, der in einem internen BND-Bericht ein „erheblicher Wert“ bescheinigt wurde?xxv

Nach der Wiedervereinigung erwarb das Ehepaar aus Ostberlin vom bayerischen Fleischhändler Josef März, einem Strauß-Spezl und langjährigem KoKo-Geschäftspartner, ein Haus in Rottach-Egern am Tegernsee. Schalck überstand in den folgenden Jahren sieben Anklagen und drei Prozesse, er kassierte zwei Bewährungsstrafen wegen Waffenschmuggels und Embargoverstößen. Im Sommer 1996 gründete er seine erste eigene Firma, im oberbayerischen Miesbach: „Dr. Schalck & Co“. Der Zweck des Unternehmens: Handel mit Waren aller Art. Was sonst.

Im März 2003 erlitt Schalck einen Herzstillstand, konnte aber wiederbelebt werden. Wochenlang lag er im Koma. Später erkrankte er an Krebs. Am 21. Juni 2015 starb Alexander Schalck in Rottach-Egern, wenige Tage vor seinem 83. Geburtstag.

1

i

ii Vgl. Alexander Schalck-Golodkowski: Deutsch-deutsche Erinnerungen, Rowohlt, 2000, S. 37 ff.

iii Vgl. Deutscher Bundestag, 1. Untersuchungsausschuss („Schalck-Ausschuss“), Zeugenbefragung von Alexander Schalck-Golodkowski, Bonn, 24.6.1992

iv BND: Meldungsnummer 12BY 150182 08, S. 6 f., Archiv d. Verfassers

v BND: Schreiben des Präsidenten an den Chef des Bundeskanzleramtes, StS Manfred Lahnstein, vom 19.11.1981, TgbNr 4652/81 geheim, und an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom 7.12.1981, TgbNr 4677/81 geheim, sowie weitere Schreiben an Lahnstein und Genscher, Archiv d. Verf.

vi Archiv d. Verf.

vii Staatsanwaltschaft beim Berliner Kammergericht, Zeugenvernehmung von Gisela Brachaus, Berlin, 22.1.1992

viii Andreas Förster: Auf der Spur der Stasi-Millionen – Die Wien-Connection, Argon 1998, S. 33 ff.

ix Vgl. „Fanatiker der Verschwiegenheit“, in: Der Spiegel 47/1998

x Vgl. Deutscher Bundestag, 1. Untersuchungsausschuss („Schalck-Ausschuss“), Zeugenbefragung von Alexander Schalck-Golodkowski, Bonn, 24.6.1992; Vgl. Andreas Förster: Stasi-Millionen, a.a.O.

xi BStU: MfS AG BKK, Nr. 25, S. 107

xii BStU: MfS AG BKK, Nr. 25

xiii ebd., S. 37 f.

xiv ebd., S. 84

xv ebd., S. 46 ff.

xvi ebd., S. 90

xvii ebd.

xviii BND: Fernschreiben vom 7.12.89, 13.50 Uhr, Archiv d. Verf.

xix ebd.

xx BND: Fernschreiben von BND-Präsident Wieck an Bundeskanzleramt vom 8.12.1989, 17.29 Uhr, Archiv d. Verf.

xxi BND: Fernschreiben von BND-Präsident Wieck an Bundeskanzleramt vom 15.12.1989, 13.37 Uhr, Archiv d. Verf.

xxii BND: „Aufgaben und Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel“ nebst Anlage 1 zur Struktur des DDR-Außenhandelsministeriums und Anlage 2 zur Person „Dr. Alexander Schalck-Golodkowski“ vom 15.12.1989, Archiv d. Verf.

xxiii BND: Fernschreiben von BND-Präsident Wieck an Bundeskanzleramt vom 21.12.1989, 08.57 Uhr, Archiv d. Verf.

xxiv BND: Vermerk AL 1, Foertsch, vom 21.12.1989, Archiv d. Verf.

xxv Vgl. Anlage 2 zur Person „Dr. Alexander Schalck-Golodkowski“ aus dem BND-Bericht „Aufgaben und Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel“ vom 15.12.1989