Fassungslos - aber nicht überrascht

Akten-Einsicht von einem, den die Stasi mit jungen Jahren als IM geworben hatte.

von Christian Ahnsehl1

Als Zeitzeuge aufzutreten oder während einer Lesung von der DDR zu berichten, bringt es mit sich, dass Leute einem ihre Geschichte erzählen. Manchmal handeln diese Geschichten von Flucht oder Stasi-Knast, meistens jedoch von fast alltäglichen Dingen: dem Verweis auf dem Fahnenappell, dem Auftrittsverbot, dem entzogenen Seefahrtsbuch. Wenn ich diese Geschichten höre, bin ich selten überrascht – und trotzdem jedes Mal geschockt. Immer stellt sich zunächst der eine Gedanke ein: So war’s in der DDR, so und nicht anders. Und zugleich springt mich auch 30 Jahre später noch immer das Entsetzen an: Es kann doch nicht wahr sein! Es ist doch nicht zu fassen! Es ist doch nicht zu glauben!

Beides – Kopfnicken und Entsetzen – erlebte ich das erste Mal während der Einsicht in meine Stasi-Akte. Es ist eine IM-Akte. Die Vorgeschichte: 1985, als Neuntklässler, schrieb ich eine Losung an die Wand unseres Schulgebäudes: „Wacht auf, steht auf, befreit euch. Ich will leben!“ Gegen die DDR war das nicht gerichtet. Mein Unmut zielte auf die streitenden Eltern und die trostlosen Abende bei der Turnhallen-Clique. Außerdem zerriss mich der Spagat zwischen Kirche und Kommunismus – denn beidem fühlte ich mich zugehörig. Die Sache schien noch einmal glimpflich auszugehen. Verhaftung, nächtliches Verhör, zwei Tage später die Aussprache mit Schulleitung und Klassenlehrerin. Ich hatte den Bonus des guten Schülers und stand trotz Junger Gemeinde immer treu zur Sache des Sozialismus: Die Strafe beschränkte sich auf vier Nachmittage Schulgartenarbeit.

Tage darauf wurde mir von der Schuldirektorin ein Zettel in die Hand gedrückt. Im Volkspolizeikreisamt habe man noch Fragen. Der da Fragen hatte, stellte sich als Herr S. vom Ministerium für Staatssicherheit vor, kam sachlich daher, schien sich für meine Probleme zu interessieren. Ob ich zu weiteren Treffen bereit wäre? Klar war ich bereit, schließlich handelte es sich bei ihm um die Stasi – und nicht um irgendeine langweilige Deutschlehrerin! Die folgenden Treffen fanden in einem Wartburg-Kombi statt. Lässig saß es sich auf dem Beifahrersitz. Herr S. sparte nicht mit Zigaretten, und nie zuvor hatte ich mich mit einem Vertreter der Staatsmacht so interessant unterhalten. Ein paar Wochen später unterschrieb ich eine Verpflichtungserklärung. Jeden Mittwochabend besuchte ich von nun an den Jugendtreff einer freikirchlichen Gemeinde, anschließend berichtete ich Herrn S. über Personen und Gespräche. Als sich schon bald Skrupel meldeten, unternahm ich erste zaghafte Ausstiegsversuche. Neun Monate später war ich endgültig draußen. Das war im Sommer 1986, und ich war gerade 16 Jahre alt.

Mitte der 2000er Jahre sah ich meine Akte ein. Vorangegangen waren ein Treffen und etliche Telefonate mit dem damaligen Landesbeauftragten für die Stasi-Akten. Sehr gerne hätte ich gelesen, was ich der Stasi über andere Leute erzählt habe. Meine Bitte wurde verstanden. Erfüllt werden konnte sie nicht, aus ebenfalls verständlichen Gründen: Der Schutz der Bespitzelten hatte und hat Vorrang. Die Behandlung durch die Stasi-Unterlagen-Behörde war freundlich, die Mitarbeiterin einfühlsam, auch dafür war ich dankbar. Meine Vorbereitung auf die Akteneinsicht bestand in der Rekapitulation all dessen, was ich von damals in Erinnerung hatte. Ich hatte tagelang in meinem Gedächtnis gegraben, Abläufe rekonstruiert, mir die Fakten vergegenwärtigt. Über eines war ich mir sicher: 1985 schrieb ich meine Schulwandlosung. Umso größer mein Erstaunen, als die Mitarbeiterin die Akte brachte: „Diese Akte wurde 1984 eröffnet.“ Auf meine Nachfrage erntete ich wissendes Kopfnicken. „Das müssen Sie selber herausfinden!“

Ich brauchte eine Weile, um mich einzulesen. Die Lektüre glich einer Zeitreise. Mir war, als würde ich die DDR wieder riechen können. Bilder von damals traten mir vor Augen. Über die Sprache der Stasi ist viel geschrieben worden, aber eines wurde mir schnell klar: Die Sprache der Stasi war keine andere als die der Staatsbürgerkundestunden und Betriebsversammlungen, der Pioniernachmittage und 1.Mai-Demonstrationen. Es war die Sprache eines ganzen Landes, gesprochen von fast 17 Millionen Menschen. Vokabeln wie Ermittlungsbericht, IM-Kandidat, Zielstellung, Aufklärung, Gewinnung waren mir unendlich vertraut – aber nicht wegen meiner IM-Tätigkeit, sondern weil ich die ersten 19 Jahre meines Lebens in der DDR verbracht hatte ...

Dann dämmerte es mir: Eine schwache operative Basis gäbe es in der Jungen Gemeinde in L. – die Junge Gemeinde, die ich damals besucht hatte. Daher bestünde, so las ich weiter, die Notwendigkeit der Werbung eines IM. Ging ich bisher also davon aus, mit meiner Schulwandlosung rein zufällig an die Stasi geraten zu sein, wurde mir nun die Systematik der Angelegenheit bewusst: 1984 hatte die Stasi in dieser Jungen Gemeinde keine Spitzel. Daher begab sich Herr S. an die Schulen unseres Neubaugebietes, gab sich als Angehöriger der Nationalen Volksarmee aus und versuchte so, potentielle Inoffizielle Mitarbeiter ausfindig zu machen. Ich passte wie die Faust aufs Auge, schien mit 14 Jahren aber noch zu unreif, daher beschloss Herr S. auf Anweisung seines Vorgesetzten, noch ein dreiviertel Jahr zu warten. In dieses dreiviertel Jahr fiel dann meine Schulwandlosung ...

Das alles war mir neu. Ich war fassungslos - aber es überraschte mich nicht.

Dieselbe Akte, ein anderes Detail: Gut in Erinnerung war mir die Wohnung, in der ich Herrn S. nach der Unterzeichnung der Verpflichtungserklärung traf. Sie befand sich in einem Hochhaus. Ich hatte zu klingeln, mich mit meinem Decknamen zu melden, dann ging es hoch in den 6. Stock. Wenn ich geklopft hatte, öffnete Herr S. die Tür, ich schlüpfte in die Wohnung; jedes Mal war ich erleichtert, wenn Herr S. die Tür hinter mir schloss. Ich saß auf einer Wohnzimmercouch, neben mir ein Zeitungsständer, gegenüber die übliche Anbauwand mit RFT-Fernseher und Sandmann-Figur. Herr S. bot mir Zigaretten an, außerdem Kaffee, manchmal eine Punschkugel oder eine Streuselschnecke. Nie hätte ich mich getraut zu fragen, was es mit der Wohnung, in der ich mich befand, auf sich hat. Allerdings bemerkte ich die gewisse Unsicherheit, mit der Herr S. am Ende der Treffen den Tisch abräumte, das Geschirr abwusch, abtrocknete und in den Küchenschränken verstaute. Denn immer hatte es den Anschein, als wüsste er nicht, ob jene Tasse nun tatsächlich in jenes Regal gehörte, und als habe er vergessen, wo genau sich denn nun der Besteckkasten befand ...

An das alles erinnerte ich mich, als ich von einem Treffort namens „IMKW ‚Peter Storm‘ “ las. Meine Nachfrage ergab, dass es sich bei „Peter Storm“ um den Decknamen eines Inoffiziellen Mitarbeiters handelte, dessen Aufgabe darin bestand, stundenweise der Stasi seine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Abermals stellte sich Entsetzen ein – aber überrascht war ich nicht.

Bei Lesungen oder Zeitzeugengesprächen habe ich die Akte immer dabei. Manchmal lasse ich sie rumgehen. Vor allem junge Leute haben dergleichen noch nie in der Hand gehabt. Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen. Wie ihnen wohl die Sprache vorkommt? Und: Ob auch ihnen ein Schauer über den Rücken läuft?

Anmerkung

1  Christian Ahnsehl, 1970 in Greifswald geboren, wuchs im Rostocker Neubaugebiet Lütten Klein auf. Im Alter von 15 Jahren wurde er als IM der Stasi geworben. Dies thematisiert er auch in seinem Debütroman "Der Ofensetzer“ (2020, Grünberg-Verlag). Ahnsehl ist auch einer der Protagonisten der NDR-Dokumentation "Die Stasi im Kinderzimmer" (2019, Regie Kathrin Matern). Er lebt mit seiner Familie in Rostock.