Allererste Akteneinsicht

von Martin Böttger1

Am 12. Dezember 1989 versammelte sich das Bürgerkomitee Chemnitz im Gebäude der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt des MfS. Den anwesenden etwa 40 Bürgerrechtlern teilten drei Stasi-Offiziere mit, dass sich ihr Ministerium jetzt in „Amt für Nationale Sicherheit” (AfNS) umbenannt hätte. Es würde jetzt alles viel besser werden und wir sollten auch nicht mehr bespitzelt werde, versicherte man uns. Es würden auch keine Unterlagen eigenmächtig vernichtet.

Sollten wir das glauben? Wie ließe sich diese Aussage überprüfen?

 

Spontan stellte ich die Frage nach meiner Akte. Ich berichtete von meinen Plakataktionen an den Maidemonstrationen 1975 und 1976 in Karl-Marx-Stadt und fragte, ob zu diesem Vorgang Unterlagen existieren, denn schließlich wurde ich am 1. Mai 1976 „zugeführt” und stundenlang verhört.

Einer der drei Offiziere ging darauf hinaus und kam wenig später mit einem Pappkarton im Arm zurück. Darin befanden sich drei Aktenordner. Ich nahm mir den ersten und schaute auf den Titel. Auf dem Ordner stand nicht etwa mein Name, sondern nur „OV Spaten”. Bis zu diesem Tag hatte keiner von uns je von dem Begriff „Operativer Vorgang”, Stasi-Synonym für einen Überwachungsvorgang, gehört.

Der Vorgang begann mit einem Eröffnungsbericht von 1976, der eine Art Personenbeschreibung enthielt. Der Paragraph 106 des Strafgesetzbuches, „staatsfeindliche Hetze“, war als Grund für die Bearbeitung benannt. Ich las: „Der Böttger, Martin ist ein fanatischer Anhänger des christlichen Glaubens.” Hier stockte ich schon und musste lachen. Ich ein Fanatiker? Das hatte noch niemand von mir behauptet.

Ich blätterte weiter und entdeckte weitere Stellen, wo ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Ich stieß auf Zuschreibungen wie „feindlich negativ”, „Provokateur” und „Demonstrativtäter”.

Bei dieser ersten Akteneinsicht verloren auch die letzten Mitglieder des Bürgerkomitees ihre Ängste.

Ich wusste nach dem ersten Lesen im Dezember 1989 nicht, wer damals, 1975 und 1976, mehr Angst hatte: ich vor der Stasi oder die Stasi vor mir.

1 Martin Böttger, geboren 1947 in Frankenhain, ist ein Politiker und ehemaliger Vertreter der Bürgerrechtsbewegung in der DDR. 1989 war er Gründungsmitglied des Neuen Forum und Koordinator dieser Bürgerbewegung im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Im März 1990 wurde er auf der Liste von Bündnis 90 in die Volkskammer gewählt, gab aber das Mandat unmittelbar an Werner Schulz ab. Bis 1994 war er Abgeordneter des Sächsischen Landtages, davon bis 1992 als Fraktionsvorsitzender. Ab 1994 war er Geschäftsführer einer Seniorenpflegeeinrichtung in Kirchberg. Von 2001 bis 2010 war er Leiter der Chemnitzer Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Er lebt in Sachsen im Ruhestand und gehört seit 2009 als bündnisgrüner Abgeordneter dem Zwickauer Stadtrat an. Er ist Vorsitzender des Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage in Werdau.