Die Akten lügen nicht und sagen auch nicht die Wahrheit. Sie können Hilfsmittel unserer Selbstfindung werden.

Redebeitrag von Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE) vor dem Deutschen Bundestag am 14.11.19911

...Ich gehöre dem Wortlaut dieses Gesetzentwurfs nach zur Kategorie der Betroffenen. Ich bin etwa 20 Jahre lang ein operativer Vorgang gewesen. Gestatten Sie mir deshalb, daß ich auf eine recht persönliche Weise mit diesem Problem hier umgehe.

Mir ist neulich beim Aufräumen ein Blatt Papier in die Hände gefallen, das mein damals siebenjähriger Sohn im Jahre 1987 beschrieben hatte. Darauf standen, scheinbar zusammenhanglos, zwei Sätze: Heute war der erste Tag, an dem es schneite. Die Stasi war da und hat Poppoff — das bin ich — mitgenommen. Dann las ich auf einem zweiten Blatt Papier, was einige Zeit zuvor ein Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, den ich jahrelang für meinen Freund gehalten habe, seinem Führungsoffizier über unsere erste Begegnung mitgeteilt hat. Meine Frau und ich hätten in einer Diskussion über Frieden und Menschenrechte einen Text eingebracht und die Anwesenden zur Unterschrift aufgefordert. Dieser Text hätte — ich zitiere — „eindeutig eine scharfe Gewichtung gegen die Sowjetunion und gegen die Staaten des Warschauer Vertrags“ und nähme ebenso eindeutig, „wenn auch mit geschickten taktischen Formulierungen, Position und Partei für die sogenannten parlamentarischen Demokratien der westlichen Welt“. Soweit der IM im O-Ton. Es ist wohl nicht allzu weit hergeholt, wenn ich einen Zusammenhang vermute zwischen solchen Sätzen dieses und anderer Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit und der lapidaren Feststellung des Sohnes über das zeitweilige Abhandenkommen seines Vaters. Am Ende des dreiseitigen Spitzelberichts steht folgender Satz: „Mit Poppes habe ich mich sehr gut verstanden, wir tauschten die Adressen aus, und sie luden mich zu sich nach Hause ein.“ Von da an hat uns der IM oft besucht, hat Süßigkeiten und freundliche Worte für die Kinder mitgebracht, widmete uns hin und wieder eines seiner Gedichte und wurde einer der aktivsten Mitarbeiter unserer Menschenrechtsgruppe. Die Stasi-Berichte schrieb er weiter, und sie wurden um so ausgefeilter, je länger unsere Freundschaft währte. Als seine Stasi-Tätigkeit bekannt wurde, stellte er seine Besuche bei uns ein.

Meine Kinder fragten, warum er nicht mehr komme, und seit ich es ihnen erklärt habe, fragen sie: Warum hat er das getan? Ich würde es ihnen sagen, wenn ich es wüßte.

Vorerst aber weiß ich nur eines: Erlebnisse dieser Art gehören zu den Alltagserfahrungen tausender Menschen in der früheren DDR, gerade solcher, die den aufrechten Gang erprobten, die unbequem für die Herrschenden waren und die — das sei gern zugestanden — auch im demokratischen Gemeinwesen der neuen Bundesrepublik nicht zu den Bequemsten gehören werden. Mit diesen Erlebnissen müssen wir umzugehen lernen, die dunklen Stellen in unserer Biographie aufhellen, die Deformationen des früheren Systems und der Persönlichkeitsstrukturen seiner Helfershelfer aufdecken. Alles muß ans Licht, hat mein Kollege Ullmann gesagt, und er hat recht damit. Jede Verdrängung des Geschehenen verstellt uns den Weg zum Neuanfang. Jedes Schweigen macht uns hilflos gegenüber neuem Unrecht. Nicht die schmerzliche Wahrheit ist zu fürchten, sondern eher der reibungslose Übergang zu einer neuen Tagesordnung. Trauer und Wut, die uns beim Lesen unserer Akten überkommen, werden uns nicht auf Dauer beherrschen. Nicht die vielbeschworenen Rachegelüste werden letztendlich die Folge der Lektüre sein, sondern die Wiederaufnahme des Gesprächs, die Neuentdeckung verloren geglaubter Jahrzehnte. Das Leben in der Diktatur war nicht einfach wertlos. Das werden uns gerade die Geschichten der vielen Namenlosen zeigen, von denen in den Akten zu lesen sein wird, daß sie sich nicht haben verbiegen lassen, trotz des noch so ausgetüftelten Repressionsapparats. Die Akten lügen nicht und sagen auch nicht die Wahrheit. Trotz ihrer Unrechtmäßigkeit und bei all ihrer Widerwärtigkeit können sie gleichwohl Hilfsmittel unserer Selbstfindung werden. Meine Damen und Herren, es versteht sich von selbst, daß der Umgang mit diesem furchtbaren stalinistischen Erbe ein exakt beschriebenes Verfahren voraussetzt, das möglichst im Konsens zwischen allen Demokraten über alle Parteibarrieren hinweg zu entwickeln ist. Es muß den Bedingungen des Rechtsstaats entsprechen und den Betroffenen gerecht werden. Es muß die Opfer schützen und den öffentlichen Diskurs ermöglichen. Es muß schließlich von den idealen Zielsetzungen gewissermaßen auf die Ebene des Behördenalltags heruntergezerrt werden. Es ist ein komplizierter Versuch, das Unaussprechliche in Regeln zu fassen, und niemand kann sich dabei seiner Routine bedienen. Nun ist das besondere Problem bei der Ausarbeitung dieses Gesetzes, daß zwei ganz verschiedene Grunderfahrungen aufeinanderprallen: Die einen haben eine langjährige Kenntnis der rechtsstaatlichen Normen und des Verwaltungsaufbaus der Bundesrepublik aufzuweisen, die anderen — z. B. Vertreter der Bürgerbewegung, die ja mitgearbeitet haben — ihre persönlichen Erlebnisse und die mittlerweile zweijährige Praxis der Stasi-Auflösung, der Aktensicherung und -auswertung. Beide konnten in manchen Fragen nicht zueinander finden. Ich bin Optimist und sage: diesmal noch nicht. Die drei Fraktionen des Bundestages wären gut beraten, wenn sie sich stärker auf diejenigen einließen, die an Runden Tischen, bei der Besetzung der Stasi-Gebäude, in den Bürgerkomitees, in der Volkskammer und in der Behörde des Sonderbeauftragten unverzichtbare Erfahrungen gesammelt haben. Wären sie ausreichend berücksichtigt worden, hätten wir jetzt nicht zwei Gesetzentwürfe, sondern einen. Andererseits verkenne ich nicht, daß das Gesetz, das die Mehrheit dieses Hauses verabschieden wird, unseren Forderungen in sehr wesentlichen Teilen entspricht, über die Forderungen des Einigungsvertrages und teilweise auch des Volkskammergesetzes hinausführt. Ich bin froh, daß wir mit der Aufarbeitung unserer Akten nun bald beginnen können. Unübersehbar aber sind auch die Schwächen, die meine Kollegin Köppe im einzelnen beschrieben hat. Der angemessene Umgang mit dem Problem verträgt sich nicht mit ermittlungstechnischen und strafrechtlichen Bestimmungen, die gegebenenfalls auch auf die Betroffenen zurückfallen können. Er verträgt sich nicht mit geheimdienstlicher Tätigkeit und nicht mit Zensurmaßnahmen jedweder Art. Im übrigen, meine Damen und Herren, kann ich die durchgängige Medienschelte, die hier stattgefunden hat, nicht nachvollziehen. Erinnern Sie sich doch bitte daran, daß auch viele Medien mit dem Thema sehr verantwortungsvoll umgegangen sind! Erinnern Sie sich auch daran, wer hier in Ihren vorderen Reihen noch sitzen würde, wenn es bestimmte Berichte nicht gegeben hätte! Es bleibt im Gesetzentwurf auch noch einiges offen, was heute noch nicht problematisiert wurde. Ich nenne mit Blick auf die Einsichtnahme in die Akten bzw. auf die Übergabe der Duplikate nur ein Beispiel: Es fehlt mir die Formulierung, daß nur die überwiegend schutzwürdigen Interessen Dritter anonymisiert werden sollen. Denn wenn man die persönlichen Informationen über Dritte — auf die hier Bezug genommen wird — zu weitgehend interpretiert, besteht die Gefahr, daß wir mit diesen Unterlagen wirklich nichts mehr anfangen können. Herr Gerster, ich bin nicht der Auffassung, daß die Akten dem Staat gehören. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß die Akten in erster Linie uns, nämlich den Betroffenen, gehören. Deshalb werde ich die paar Kopien mit Berichten über mich selbstverständlich behalten, es sei denn, ich stelle bei der Durchsicht meiner Stasi-Akte fest, daß sie der Gauck-Behörde verlorengegangen sind. Schließlich sage ich Ihnen noch etwas zum Abstimmungsverhalten von Bündnis 90/GRÜNE: Wir vertreten unterschiedliche Auffassungen, zwar nicht im Grundsatz, aber in manchen Details. Ich werde mich bezüglich beider Gesetzentwürfe der Stimme enthalten, und zwar nicht aus Unentschlossenheit, sondern um deutlich zu machen, daß ich die Arbeit an diesem Gesetz noch lange nicht für abgeschlossen halte. Schönen Dank, meine Damen und Herren.

1 Nach der Bundestagsdrucksache ohne Zwischenbemerkungen und Zwischenfragen anderer MdB