Vom Streit zum Erfolg

Erinnerungen an die Geburt des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

von Rolf Schwanitz, ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Staatsminister a.D.1

Wie bei Allem, was am Ende gelingt, gibt es später immer sehr viele Mütter und Väter des Erfolges. Heute wird das Stasi-Unterlagen-Gesetz allgemein als großer Erfolg angesehen. Es hat das menschenverachtende Herrschaftswissen des DDR-Geheimdienstes, der Stasi, gebrochen. Es hat klare gesetzliche Regeln zum Umgang mit den eigentlich rechtstaatswidrigen Stasi-Akten geschaffen und dabei die Ansprüche der Betroffenen von Bespitzelungs- und Zersetzungsmaßnahmen ins Zentrum gerückt. Sie haben Rechtsansprüche auf den Zugang zu den Bespitzelungsakten erhalten. Rund 2,17 Millionen Menschen haben nach den letzten Zahlen davon Gebrauch gemacht.2 Die Aktenöffnung und die dadurch entstandenen Forschungsarbeiten haben tiefe Einblicke in den menschenverachtenden Kern des SED-Staates ermöglicht. Dieser Weg der Akten-Öffnung und das Gesetz selbst sind mittlerweile international anerkannte Standards und Vorbilder für die Auseinandersetzung mit einer untergegangenen Diktatur.

Die Aufarbeitung der Repressionen im SED-Staat war eine Kernforderung der Menschen im Herbst 1989“

Die Öffnung der Stasi-Akten durch das StUG wird heute allgemein – außer bei den ewig Gestrigen – als ein wichtiger Meilenstein für das Aufarbeitungsgeschehen im vereinigten Deutschland angesehen. Dabei war die Geburt des Stasi-Unterlagen-Gesetzes alles andere als ein harmonischer Vorgang. Im Gegenteil: Die Forderung nach einer Öffnung der Stasi-Akten war im vereinigten Deutschland hochumstritten. Mehr noch: Die Autoren des Gesetzes, zu denen ich mich zählen darf, waren bis zuletzt aus Ost und West harten Anfeindungen ausgesetzt und standen lange Zeit mit ihrem Projekt ziemlich allein auf weiter Flur.

Dabei schien noch im Frühjahr 1990 alles ziemlich klar zu sein. Abertausende mutige Menschen hatten auf den wöchentlichen Demonstrationen in der DDR den friedlichen Übergang von der SED-Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie erzwungen. Überall hatte sich der Bürgerprotest auf den Straßen und Plätzen durchgesetzt. Es waren Runde Tische und Kontrollen durch die Zivilgesellschaft entstanden. Freie Wahlen waren angekündigt und fest beschlossen worden. Honecker und Krenz waren längst Geschichte und auch Modrow war nur noch eine Figur des Übergangs. Die Stasi hatte zwar im November 1989 mit ihrer geheimen Aktenvernichtung begonnen. Sie wollte ihre Spuren verwischen und möglichst ungeschoren in die neue Gesellschaft hinüberwechseln. Modrow orchestrierte das mit allerlei Restaurationsversuchen: Der SED-Geheimdienst sollte erst in ein Amt für Nationale Sicherheit und dann in zwei Organe, einen sogenannten DDR-Nachrichtendienst und in einen DDR- Verfassungsschutz, umgewandelt werden. Die Zivilgesellschaft ließ sich aber nicht mehr täuschen. Der zentrale Runde Tisch in Berlin hatte zwar noch im Februar 1990 seine fatale Zustimmung zur Vernichtung der elektronischen Datenträger und zur Selbstauflösung der Spionageabteilung, der Hauptverwaltung Aufklärung (HV-A) gegeben, was faktisch einer Aktenvernichtung gleichkommen sollte. Die geheimen Aktenvernichtungen in den Kreis- und Bezirksdienststellen vor Ort waren aber nicht unbemerkt geblieben. Beginnend in Erfurt wurden die Stasi-Stützpunkte nach und nach besetzt und das allgemeine Schreddern der Akten zunehmend beendet. Die Bezirks- und Kreisdienststellen der Stasi wurden von Bürgerkomitees besetzt, gesichert und verschlossen. Modrow gab seinen Widerstand auf, die provisorische DDR-Regierung bekannte sich zur Auflösung des MfS und die Bürgerkomitees erhielten eine Kontrollfunktion.

Im Frühjahr 1990 hatte die Friedliche Revolution faktisch gesiegt, auch wenn die Vertuschungsaktionen in den Rathäusern, Bezirks- und Ministerialverwaltungen der DDR sicherlich noch lange ungebremst fortgesetzt worden sind. Der weitere Weg der DDR aus dem politischen und wirtschaftlichen Konkurs war ab dem 18. März 1990 vorgezeichnet. Die Bevölkerung hatte mit der ersten freien Volkskammerwahl ein klares politisches Votum für eine schnelle Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik auf dem Beitrittswege erteilt. Die Beendigung und Aufarbeitung der Repressionen im SED-Staat war aber bereits eine Kernforderung der Menschen im Herbst 1989 gewesen. Deshalb schien auch die Öffnung der Akten des gefährlichsten Unterdrückungsorgans der SED, des Staatssicherheitsdienstes, nun endlich eine reale Chance zu bekommen. Das war eine der vielen Erwartungen an das neue, demokratisch gewählte Parlament.

Auch ich selbst erhielt im März 1990 ein Mandat für die erste freigewählte Volkskammer der DDR. Im Oktober 1989 war ich dem Neuen Forum beigetreten und in Plauen sogleich in ein Gremium zur Aufdeckung von Korruption und Amtsmissbrauch entsandt worden. Wir waren damals der erste Anlaufpunkt für einschlägige Bürgerbeschwerden in der Stadt; wir ermittelten zu politischen Maßregelungen, zu SED-Privilegien und auch zu konspirativen Wohnungen des Staatssicherheitsdienstes. Plauen war damals, wie noch immer viel zu wenig bekannt ist, ein wichtiger Hotspot und Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution in der DDR. Hier gingen am

7. Oktober 1989 fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen auf die Straße, was fast einem Viertel der städtischen Gesamtbevölkerung entsprach. Sie demonstrierten entschlossen für Freiheit und Demokratie und erzwangen von da ab in der Stadt einen offenen Dialog mit den damals dort Herrschenden. Zum ersten Mal ist damit 1989 in Plauen die Staatsmacht nicht mehr als Sieger vom Platz gegangen. Jeden Samstag machte die Plauener Stadtbevölkerung nun mit einer Großdemonstration unmissverständlich klar, was die Stunde geschlagen hatte. Ich selbst wurde im November 1989 Mitglied bei den neugegründeten Sozialdemokraten, der damaligen SDP, kandidierte erfolgreich bei der Volkskammerwahl und war von da ab quasi über Nacht im Auge des politischen Taifuns. Hier in Berlin übernahm ich unter anderem das Amt des Sprechers der SPD-Fraktion im Rechtsausschuss.

Die Menschen erwarteten, dass im neuen Parlament nicht alte Spitzel und Zuträger das Sagen haben“

Die neue, nun demokratisch legitimierte Volkskammer machte von Anfang an klar, dass sie mit dem alten SED-Scheinparlament nichts mehr zu tun hatte. Bereits auf der ersten Sitzung der Volkskammer am 5. April 1990 wurde nicht nur das Parlament konstituiert. Es wurde auch per Verfassungsänderung alle Regierungsgewalt vorübergehend auf das Parlamentspräsidium übertragen und damit die Machtfrage geklärt. Außerdem setzte das Parlament sogleich einen paritätisch mit jeweils einem Fraktionsmitglied besetzten zeitweiligen Prüfungsausschuss ein, der die neuen Abgeordneten auf Stasi-Mitarbeit überprüfen sollte. Dazu gab es nämlich allen Grund. Als „gelernte“ DDR-Bürger wussten wir nur zu gut, dass der Staatssicherheitsdienst, das „Schild und Schwert der SED“, die DDR-Gesellschaft flächendeckend mit seinem Überwachungswahn unterwandert und überzogen hatte. Außerdem waren in der Endphase der Volkskammerwahl bereits spektakuläre Enthüllungen über die geheime Stasi-Mitarbeit von neuen Spitzenpolitikern bekannt geworden. Es wurden eindeutige Aktenfunde zu Wolfgang Schnur (DA) und Ibrahim Böhme (SDP/SPD) veröffentlicht, die eine langjährige und schwerwiegende IM-Tätigkeit belegten. Jeder DDR-Bürger hielt solche Infiltrationen des neuen politischen Führungspersonals für geradezu zwangsläufig. Schließlich waren gerade die oppositionellen Kreise in der DDR ein vorrangiges Ziel der Überwachung gewesen. Man hatte mit diesen beiden Enthüllungen deshalb bislang wohl eher die Spitze des Eisberges gesehen. Andererseits erwarteten die Menschen zurecht, dass im neuen Parlament nicht alte Spitzel und Zuträger das Sagen haben. Die Abgeordnetenüberprüfung war deshalb ein konstitutiver Akt für das Vertrauen und die Legitimation durch Verfahren in der jungen Demokratie.

Es würde diesen Beitrag sprengen, hier meine Zeit in der Volkskammer beschreiben zu wollen. Im Rechtsausschuss lag schließlich das komplette Vereinigungsrecht als Beratungsgegenstand auf dem Tisch. Aber auch die Aufarbeitungsfragen und die weitere Demokratisierung im Land wurden in diesem Ausschuss mitgestaltet. Diese Dinge standen auf meiner persönlichen Prioritätenliste ganz weit oben – sie waren schließlich so etwas wie ein unmittelbarer Auftrag aus den Demonstrationen vom Herbst 1989. Einige Stichworte müssen hierfür genügen. Dazu zählen unter anderem: die Abschaffung des politischen Strafrechts in der DDR, das Ringen um die Sicherung des SED- und Blockparteienvermögens, die Auseinandersetzungen um die Gesetze für Richter- und Staatsanwälte, das Strafermittlungsverfahren gegen Erich Honecker und das Rehabilitierungsgesetz der DDR. Es gab also jede Menge zu tun.

Am 7. Juni 1990 beschloss die Volkskammer dann die Einsetzung eines Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes. Wir waren im Parlament zu der Überzeugung gelangt, dass dies nicht länger ausschließlich der Exekutive überlassen werden durfte. Zum Vorsitzenden des Ausschusses wurde der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck (NF) bestimmt. Im Parlament entzündete sich zunehmend ein Spannungs- und Misstrauensverhältnis zum für die Stasi-Auflösung zuständigen Innenministers Peter Michael Diestel (DSU). Er entging nur knapp seiner Abberufung durch die Volkskammer.

Eine Schlussstrichlösung hätte nur das Herrschaftswissen der SED konserviert

Auch der weitere Umgang mit den bis dahin erhalten gebliebenen und komplett gesperrten Stasi-Akten wurde durch den Sonderausschuss entscheidend beeinflusst. Nicht nur, aber auch durch die spektakulären Enthüllungen hatte sich in Ost und West eine kontroverse Debatte über den künftigen Umgang mit dieser Hinterlassenschaft entfacht. Aus den Reihen der Bürgerkomitees und früheren DDR-Oppositionellen erklang meist die Forderung nach einer kompletten Öffnung der Stasi-Akten. Das reichte bis hin zum Ruf nach einer persönlichen Inbesitznahme der Papiere, frei nach dem Motto „Meine Akte gehört mir“. Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums standen Forderungen nach einer dauerhaften Sperrung der Akten, ja sogar nach deren Vernichtung. Zu den prominentesten Befürwortern einer solchen Schlussstrichlösung zählten der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Bundeskanzler Helmut Kohl (beide CDU), aber auch der ostdeutsche Pfarrer Friedrich Schorlemmer (SPD), der mit den Stasi-Akten am liebsten ein „Freudenfeuer“ entzündet hätte. Ich selbst hielt das alles für ausgemachten, aber gefährlichen Blödsinn. Es musste, so war ich überzeugt, zu einer vernünftigen und rechtsstaatlich vertretbaren Öffnung der Geheimdienstakten kommen. Alles andere hätte das Herrschaftswissen der SED nur konserviert, Menschen und Gesellschaft auf Dauer erpressbar gemacht und die Ergebnisse der Friedlichen Revolution quasi auf den Kopf gestellt. Mit großer Erleichterung vernahm ich dann, dass Hans-Jochen Vogel, der damalige Parteivorsitzende der SPD im Westen, bei der „Schlussstrich-Debatte“ die Position der Ost-SPD übernahm und ein klares Nein formulierte. Ich hielt das für wichtig, weil damit Schäubles Positionen im Westen nicht die Unterstützung beider Volksparteien finden konnte.

Trotz Mängeln war das Volkskammergesetz das erste Signal für eine dauerhafte Akten-Öffnung.

Am 22. Juli 1990 beriet die Volkskammer dann in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Nutzung und Sicherung der personenbezogenen Stasi-Akten. Dieser Gesetzentwurf war, anders als das spätere gesamtdeutsche Stasi-Unterlagen-Gesetz und seine Änderungsgesetze, damals zunächst noch eine Vorlage der Exekutive. Nach einer streitigen Abstimmung in der Volkskammer wurde der Sonderausschuss federführend für die Parlamentsberatung. Der Regierungsentwurf wurde bis zur Schlussberatung am 24. August dadurch noch an wichtigen Punkten verbessert, blieb aber insgesamt völlig unzureichend. Bereits im Regierungsentwurf war richtigerweise vorgesehen, die Akten als archivarisches Sonderdepot anzusehen, dafür spezielle Schutzregelungen zu treffen und Grundsätze zum Aktenumgang im Einigungsvertrag zu verankern. Die Bestände sollten aber ursprünglich in einem zentralen Sonderarchiv zusammengeführt und durch die Regierung verwaltet werden. Hier griff die Volkskammer ein und veränderte den Gesetzentwurf. Am Ende, im beschlossenen DDR-Stasi-Akten-Gesetz, strich man richtigerweise die Zentralisierungsabsicht der Aktenbestände. Die Hinterlassenschaften sollten nicht verlagert und in Berlin zusammengefasst werden. Sie sollten in ostdeutschen Sonderarchiven verbleiben und von jeweils parlamentarisch zu wählenden Landesbeauftragten verwaltet werden. Diese beiden neuen Punkte – die Etablierung von Sonderbeauftragten als tatsächliche Aktenverwalter und das Verbleiben der Aktenbestände an Ort und Stelle – waren die wohl wichtigsten Eckpunkte, die von der Volkskammer gesetzt worden sind. Ansonsten war das Volkskammergesetz noch immer mit erheblichen Mängeln behaftet und an vielen Stellen faktisch unrealisierbar. Das betraf die Verengung auf personenbezogene Stasi-Akten und die Föderalisierungsabsicht der Archive. Beides hätte unweigerlich zu einer Zertrennung der Aktenbestände geführt. Außerdem waren die Betroffenenrechte völlig unzureichend und noch meilenweit von einer echten Akten-Öffnung entfernt. Die im damaligen DDR-Gesetz auch noch enthaltenen Korrektur-, Kommentierungs- und Löschungsregelungen muten heute wie ein Kuriosum an. Sie wären faktisch nicht umsetzbar gewesen oder hätten über kurz oder lang ins archivarische Chaos geführt.

Trotz aller Mängel war das Volkskammergesetz das erste große politische Signal seit dem Herbst ´89 für eine dauerhafte Öffnung der Stasi-Akten. Deshalb entbrannte auch viel Protest, als das Gesetz letztlich nicht als weitergeltendes Recht in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde. Beide Vertragsparteien verständigten sich aber schließlich im Einigungsvertrag auf eine Zwischenlösung. Das ab dem 3. Oktober 1990 auch auf die neuen Länder übertragene Bundesarchivgesetz erstreckte sich ausdrücklich nicht auf die Stasi-Akten. Stattdessen wurden in den Einigungsvertrag selbst fünf Paragraphen aufgenommen, die ab dem 3. Oktober 1990 gesetzliche Grundlage für die Stasi-Akten waren. Dadurch wurden ein Sonderbeauftragter für die Stasi-Akten, ein beratender Beirat und vorerst nur höchst restriktive Nutzungsrechte etabliert. Zugleich schloss man am 18. September 1990 zwischen den Vertragsparteien (Bundesrepublik und DDR) eine bindende Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages ab, in der es zentral um eine endgültige Regelung zu den Stasi-Akten ging. In dieser Vereinbarung heißt es unter Ziffer 8: „Die Regierungen der beiden Vertragsparteien gehen davon aus, dass die Gesetzgebungsarbeit zur endgültigen Regelung dieser Materie unverzüglich nach dem 3. Oktober aufgenommen wird. Dabei soll das Volkskammergesetz in Verbindung mit dem Einigungsvertrag als Grundlage dienen.“ Nun war klar, dass die eigentliche Öffnung der Stasi-Akten, erst noch im neuen, im ersten gesamtdeutschen Bundestag durchgesetzt werden muss. Die eigentliche Arbeit an einem Stasi-Unterlagen-Gesetz stand also noch bevor.

Am 20. August 1990 verließen die ostdeutschen Sozialdemokraten nach tiefen Zerwürfnissen die Regierung von Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU). Die große Koalition in der DDR war zerbrochen. Auch die Überprüfung der Volkskammerabgeordneten auf Stasi-Mitarbeit war bis dahin keinen Schritt vorangekommen. Der Zeitweilige Prüfungsausschuss, allen voran sein Ausschussvorsitzender Brinksmeier (SPD), hatte sich monatelange Gefechte mit Innenminister Diestel (DSU) geliefert, in deren Folge noch immer keinerlei Akten-Zugang bestand. Es drohte ein Scheitern der gesamten Überprüfungsaktion und damit ein Wortbruch des Parlaments gegenüber der Bürgerschaft. In der SPD-Volkskammerfraktion war man aber auch immer mehr zur Überzeugung gelangt, dass für diese Blockade nicht nur der Innenminister allein verantwortlich war. Am 23. August entschied die Fraktion deshalb, den bisherigen SPD- Vertreter und Ausschussvorsitzenden abzuberufen und durch einen anderen Abgeordneten zu ersetzen. Ich hatte in der SPD-Volkskammerfraktion bereits soviel Vertrauen erworben, dass ich in einer Kampfabstimmung gegen Richard Schröder und Gunter Weißgerber für diese Funktion gewählt worden bin.

Im Prüfungsausschuss selbst verzichtete ich eigenmächtig auf das Vorsitzenden-Amt und überließ es dem bisherigen Stellvertreter Peter Hildebrand (Grüne Partei). Ich rückte dafür an seine Stelle. Das schuf quasi über Nacht Vertrauen in dem mit jeweils einem Fraktionsvertreter paritätisch besetzten Überprüfungsgremium. Wir stürzten uns nun in die Arbeit, wurden eine entschlossene, verschworene Gemeinschaft und waren in den verbleibenden Wochen nur noch kreuz und quer im Land unterwegs, um die jeweiligen Stasi-Akten einzusehen. Das war für mich in doppelter Hinsicht mehr als aufschlussreich. Zum einen sah ich die Archive in den ehemaligen Bezirksverwaltungen des MfS von innen quasi im Originalzustand. Ich erhielt einen ersten, durchaus umfangreichen Einblick in die verschiedenen IM-Akten des Staatssicherheitsdienstes. Ich lernte darin zu lesen, bekam einen Überblick und eine vertiefte Vorstellung davon, was hier von ihm in seinem krankhaften Überwachungswahn zu Papier gebracht worden war. Dabei musste man differenzieren aber auch klar und deutlich bewerten können. Zum anderen lernte ich auch die leider typischen Reaktionen der ehemalige Spitzel kennen. Keiner von ihnen meinte später, wirklich etwas falsch gemacht zu haben. Sie lebten meist fort in der Legende, die sie sich, auch für sich selbst, bereits in der Stasi-Zeit zurechtgelegt hatten. Einmal bekam das für mich sogar kuriose, oder pathologische Züge: Mich sprach an einem Septembermorgen noch in Berlin ein Abgeordnetenkollege bedauernd an, wie schwer ich es doch hätte, weil ich schon um fünf Uhr morgens ins Auto springen und quer durchs Land zur Akteneinsicht fahren müsste. Am Nachmittag saß ich dann im Norden im Archiv und las die Spitzelberichte, die der gleiche Kollege früher als IM bei seinem Führungsoffizier abgeliefert hatte. Hier durfte man sich nicht von Emotionen leiten lassen, musste sich stattdessen zu einem hohen Maß an Objektivität gegenüber dem Einzelfall zwingen. Am Ende konnte der Überprüfungsausschuss ein einvernehmlich beschlossenes Gesamtergebnis vorlegen. Die Volkskammer beriet über das Ergebnis der Abgeordnetenüberprüfung schließlich am 28. September 1990 im Plenum. Auch wenn bei der Namensnennung der belasteten Abgeordneten und Regierungsmitglieder auf Antrag der CDU die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde, markiert dieser Abschlussbericht in meinen Augen ein wichtiges Stück Aufarbeitungsgeschichte in eigener, parlamentarischer Sache.3 Ein Komplettversagen der ersten freigewählten Volkskammer konnte hier zum Glück verhindert werden.

Für die Bundestagsabgeordneten aus dem Westen war das Thema, freundlich formuliert, exotisch.

Am 3. Oktober 1990 begann in Deutschland eine neue Zeitrechnung – auch für mich. Ich gehörte zu jenen Volkskammerabgeordneten, die ab dem Vereinigungstag in den noch existierenden „westdeutschen Bundestag“ entsandt worden sind. Am 2. Dezember 1990 fand dann die erste Bundestagswahl im vereinigten Deutschland statt und ich wurde nun ordentlich gewähltes Mitglied im Bonner Parlament. Sowohl aus persönlichen als auch aus personellen Gründen entschied ich mich in der neuen SPD-Bundestagsfraktion für eine Vollmitgliedschaft im Innenausschuss. Hier spielten sich nach meiner Überzeugung in der Zukunft wichtige Vereinigungsfragen ab und hier stimmte auch die Chemie zu meinen neuen Kollegen. Natürlich hatte ich das Stasi-Thema dabei auch mit im Hinterkopf. Im Rechtsausschuss begnügte ich mich mit einer Stellvertreterfunktion.

Meine Eingewöhnungs- und Einarbeitungszeit war kurz, die Herausforderung aber gravierend. Gegenüber der Volkskammer war der Bundestag ein riesiger, nur schwer durchschaubarer Organismus. In Ost-Berlin hatten wir vorher nur 88 Abgeordnete in der SPD-Fraktion. Alles hatte in der Volkskammer quasi bei einem Nullpunkt begonnen. Es gab kleine Arbeitsgruppen und schnelle Entscheidungswege. Hier in Bonn war alles anders. Die SPD-Bundestagsfraktion bestand, trotz unserer Wahlniederlage, aus stattlichen 239 Abgeordneten. Viele von ihnen waren schon eine gefühlte Ewigkeit in der Politik. Es gab jahrzehntelang eingespielte Arbeits- und Abstimmungsstrukturen in den Fraktionen und im Parlament. Hier fand die eigentliche Arbeit statt. Wer bei der SPD eine Idee einbringen wollte, hatte sie zunächst durch die Arbeitsgruppen, die Arbeitskreise, die Vorständen und durch die Gesamtfraktion zu bringen. Erst dann öffneten sich quasi das Plenum und die Gremien im Parlament. Diese „Legitimat“ war keine bürokratische Schikane, sondern ein wichtiges, ja konstitutives Grundprinzip einer funktionierenden Demokratie. Das hatte man zu lernen, wenn man etwas erreichen wollte. Oder man scheiterte schlicht, was auch Einigen schmerzlich widerfahren ist. Außerdem bestand der 12. Deutsche Bundestag, das erste wirklich gesamtdeutsche Parlament, insgesamt aus 662 Abgeordneten, wobei fast 80 Prozent von ihnen aus dem Westen kamen. Die meisten hatten keinerlei Ahnung von den tatsächlichen Verhältnisse in der DDR, geschweige denn vom fragilen Zustand in der Transformation. Viele Westkollegen waren zuvor kaum oder nie in die DDR gereist, kannten sich in Paris und Rom sehr viel besser aus als in Leipzig oder Dresden, von der ostdeutschen Provinz ganz zu schweigen. Das alles entscheidende parlamentarische Problem bestand also nicht nur darin, sachgerechte Lösungen für den Osten zu finden. Sie mussten vor allem auch in diesem 80-20-Proporz mehrheitsfähig gemacht werden. Das war die eigentliche Herausforderung auch bei der Erarbeitung eines neuen Stasi-Akten-Gesetzes.

Bei den neuen SPD-Abgeordneten aus dem Osten war der Wunsch nach Öffnung der Stasi- Akten klar. Für die Kollegen aus dem Westen war das Thema, freundlich formuliert, exotisch. Natürlich akzeptierte man in meiner Fraktion formal den Wunsch zur Aktenöffnung. Er war schließlich ein Erbe aus dem Herbst 89, kam von dort, wo die ostdeutschen Sozialdemokraten ihre Wurzeln hatten. Die Schlussstrichmentalität des Bundesinnenministers, zu dem man von Natur aus in Opposition stand, tat ein Übriges. Sie verstärkte die Bereitschaft zum Handeln noch zusätzlich. Außerdem hatte die 68er-Bewegung in der West-SPD tiefe Spuren hinterlassen. Die Erkenntnis, dass man das Erbe einer Diktatur nicht aussitzen durfte, sondern sich der Offenlegung und Aufarbeitung zu verschreiben hatte, war deshalb tief verwurzelt. Andererseits war es in Deutschland noch nie aus eigenem Handeln heraus zur Auflösung eines Geheimdienstes und zur Öffnung seiner archivarischen Hinterlassenschaft gekommen. Und diese Hinterlassenschaften waren ohne Zweifel mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar. Die Löschung und Vernichtung solcher Akten wäre deshalb – unter normalen Umständen – wohl unausweichlich gewesen. Die Umstände waren aber nicht normal – schließlich hatte es in der DDR eine Friedliche Revolution, dann die staatliche Einheit gegeben und es bestand ein Gestaltungsauftrag aus dem Einigungsvertrag. Alles in allem waren deshalb die Voraussetzungen in der gesamtdeutschen SPD, und auch im Bundestag, zur Gestaltung eines Öffnungsgesetzes nicht schlecht.

Im Frühjahr 1991, kam das Projekt des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf mich zu. Es sollte für mich das wichtigste und arbeitsintensivste Thema des gesamten Jahres werden.

Die Öffnung der Stasi-Akten konnte nur als gesamtdeutsches und überparteiliches Thema gelingen.

Schnell war im Gespräch unter den Innenpolitikern der Fraktionen klargeworden, dass ein solches Vorhaben eine breite politische Unterstützung braucht. Die Öffnung der Stasi-Akten konnte nur gelingen, wenn sie als großes gesamtdeutsches und überparteiliches Thema verstanden wurde. Ein Zurückfallen in die tradierten Rollen von Regierung und Opposition wäre hierfür kontraproduktiv. Der Inhalt der Akten barg, so wurde von allen vermutet, Sprengstoff genug. Deshalb musste die Aktenöffnung selbst durch einen möglichst breiten Konsens organisiert werden. Die Idee eines überfraktionellen Gesetzentwurfes aus der Mitte des Parlaments war nun geboren. Die Ideen zur Gestaltung des Gesetzes wurden von nun ab im Parlament entwickelt. Die Ministerialbeamten erhielten lediglich die Funktion der Formulierungshilfe. Das war sicherlich eine entscheidende Bedingung für den späteren Erfolg des Gesetzes. Das wurde und blieb auch stilbildend für die künftigen Jahre. Wenn das Parlament, also der Deutsche Bundestag, später stets als der „Hüter des Stasi-Unterlagen- Gesetzes“ bezeichnet wurde, so hatte dies in der damaligen Grundentscheidung seinen Ursprung.

Die Innenpolitiker der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP gingen also nun daran, in einer Arbeitsgruppe das künftige Öffnungsgesetz auszuarbeiten. Ich selbst wurde Berichterstatter, also Verhandlungsführer, für die SPD-Fraktion. Zusammen mit Gerd Wartenberg, dem innenpolitischen Sprecher der Sozialdemokraten, und Willfried Penner, dem zuständigen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, gingen wir in die überfraktionellen Verhandlungen. Zum Glück schenkten mir dabei Beide vollstes Vertrauen und ließen mir für meine Vorschläge und die Verhandlungsführung einen größtmöglichen Freiraum. Auf der Seite der Koalitionsfraktionen waren in der Einbringer-Gruppe bei der CDU die Kollegen Hartmut Büttner (Schönebeck) und Johannes Gerster, bei der CSU Wolfgang Zeitlmann und bei der FDP Jürgen Schmieder (Chemnitz) und Burkhard Hirsch an der Ausarbeitung beteiligt. Es gab also fast überall so etwas wie den Versuch einer Ost-West-Besetzung in der Gruppe. Lediglich Büttner war erst vor kurzem in den Osten gekommen und der CSU-Mann konnte natürlich nur aus Bayern stammen. Für Bündnis 90/DIE GRÜNEN hatte sich anfänglich auch Ingrid Köppe daran beteiligt. Leider hat sie dann aber eine weitere Mitarbeit in der Gruppe und damit auch die spätere gemeinsame Einbringung des Entwurfs durch ihre Fraktion abgelehnt. Hier versteifte man sich noch auf alte Vorstellungen aus dem Volkskammergesetz und reduzierte sich selbst dann auf eine bequemere Ablehnungs- und Oppositionsrolle zu dem, was wir vorlegen sollten. Ich habe das immer für völlig unangebracht und auch für eine historische Fehlentscheidung gehalten.

Die Beratungen der verschiedenen Vorschläge und die Verständigung auf einen gemeinsam getragenen Gesetzentwurf erzwang in den kommenden Monaten eine intensive Arbeit in der Einbringer-Gruppe. Man kam sich dabei auch näher und verstand sich fast als eine auf die Sache eingeschworene Gemeinschaft. Das waren zugleich gute Voraussetzungen für die spätere Arbeit im Beirat der Stasi-Unterlagen-Behörde. Auch der Sonderbeauftragte Joachim Gauck hatte mittlerweile eine wichtige Verstärkung erhalten. Vom Bayerischen Landesbeauftragten für Datenschutz war Hansjörg Geiger - ein ausgezeichneter Fachmann für Recht, Verwaltung und Datenschutz - als Direktor zum Sonderbeauftragten gewechselt. Die neue Hausspitze wurde eng in unsere Formulierungsarbeit einbezogen. Auch später sollte sich das Tandem Gauck/Geiger als ein Glücksfall für den schwierigen Aufbau der neuen Behörde erweisen. Parallel zur Arbeit in der Einbringer-Gruppe wurde im Parlament ein eigenes Beratungsgremium eingesetzt, das als Unterausschuss zum federführenden Innenausschuss fungierte (Unterausschuss zur Bewältigung der Stasi-Vergangenheit). Zunächst konnte in der Einbringer-Gruppe eine Verständigung über Eckpunkte sowie über weitere, noch offene Fragen erreicht werden. In Berlin wurde für den August 1991 eine zweitägige Anhörung anberaumt. Viele Gespräche vor Ort, mit Vertretern der Bürgerkomitees, Landesregierungen und -fraktionen sowie der Öffentlichkeit hatten parallel abzulaufen. Ohne Andere zurücksetzen zu wollen: Die sozialdemokratische Handschrift war im Parlamentsentwurf des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) am Ende unübersehbar. Wir waren der eigentlich aktive Teil in der Einbringer-Gruppe und haben viele Vorschläge und Formulierungen geliefert. Im September speisten wir schließlich unseren eigenen Entwurf, den sogenannten Rohentwurf der SPD, in die Beratungen ein. Der enthielt allein 74 Einzelvorschläge. Über unsere Beteiligung in der Einbringer-Gruppe fand Vieles davon auch tatsächlich Eingang in den überfraktionellen Gesetzentwurf.

Ein Auskunftsrecht für jedermann

Am Ende entstand ein Entwurf des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, der die Aktenöffnung nicht mehr nur als ein privilegierendes Opferrecht verstand. Das neue Öffnungsgesetz sollte stattdessen vom informationellen Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ausgehen. Dieses Grundrecht war erst vor wenigen Jahres im Zusammenhang mit dem sogenannten Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts formuliert worden. Damit wurde das künftige StUG auf eine solide und feste verfassungsrechtliche Grundlage gestellt und es kam folgerichtig zu einem Auskunftsrecht für jedermann. Die Betroffenenrechte wurden prioritär. Sie sollten ein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in die zu ihrer Person geführten Stasi- Akten bekommen. Die Aktennutzung für Strafverfolgungszwecke wurde stark reglementiert, die Nutzung von Betroffenen-Akten durch Geheimdienste verboten. Die politische Bildung, die Aufarbeitung und die Forschungsarbeit zum Staatssicherheitsdienst sollte künftig auch anhand von Akten möglich werden - natürlich unter Wahrung der Betroffenenrechte. Großes Gewicht bekam im Parlamentsentwurf auch die neue Stellung des Bundesbeauftragten sowie der Aktenverbleib. Eine territoriale Zuständigkeit für die Archive auf Länderebene wollten wir ausdrücklich nicht. Dies wurde mittlerweile selbst von den neuen Ländern nicht mehr präferiert. Deshalb sollten die Stasi-Akten nun vollständig erfasst und gesichert, wie bisher aber dezentral gelagert und zentral verwaltet werden. Der Beauftragte für Stasi-Akten wurde auch in seiner Unabhängigkeit gestärkt, denn politische Konflikte, einschließlich Konflikte zu Landes- oder Bundesregierungen, schienen uns nur eine Frage der Zeit. Hier bot das Modell des Wehrbeauftragten gute Anknüpfungspunkte. Der Bundesbeauftragte wurde deshalb als Bundesoberbehörde ohne fachliches Weisungsrecht seitens der Bundesregierung statuiert. Er sollte unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sein. Auch die Rechtsaufsicht wurde nicht zum Bundesinnenminister gelegt, sondern nur der Bundesregierung gesamt übertragen. Schließlich wurden die Berufung des Beauftragten selbst als Wahl durch den Bundestag ausgestaltet und zugleich starke Berichtspflichten gegenüber dem Parlament im Entwurf festgeschrieben. Am Ende konnte ich mich in der Einbringer-Gruppe sogar noch mit meinem Vorschlag eines Rechtsanspruchs der Betroffenen auf Enttarnung der IM-Decknamen durchsetzen. Es wäre für mich schlicht und einfach untragbar gewesen, wenn man die Betroffenen zwar die über sie existierenden Stasi-Berichte hätten lesen lassen, die Klarnamen der berichtenden Spitzel aber weiter verheimlichen würde. Insgesamt war dieser überfraktionelle Entwurf eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes mit dem früheren Volkskammergesetz nicht mehr vergleichbar. Er ist insbesondere beim Umfang der Aktenöffnung und bei den Betroffenenrechten weit darüber hinaus gegangen. Die Aktenöffnung wurde dadurch quasi vom Kopf auf die Füße gestellt.

Bei der abschließenden Beratung in der SPD-Bundestagsfraktion am Dienstag, den 12. November 1991, kam es noch einmal zu einer langen und ausführlichen Diskussion über den Entwurf. Insbesondere „Der Spiegel“ hatte kurz vor Toresschluss noch einmal Front gemacht gegen die Zusammenführungs- und Herausgabevorschriften des Entwurfs. Es ging um sogenannte vagabundierende Stasi-Akten. Das waren aus der Behörde entwendete Aktenbestände, die ehemalige Stasi-Leute während der Auflösungszeit sicher zu lukrativen Preisen auch an einige Medien verkauft hatten. Einige Medien zeichneten deshalb bereits das Gespenst einer neuen, nun drohenden Spiegel-Affäre an die Wand. Andere, insbesondere die Bürgerkomitees, unterstellten uns, mit dem Gesetz die Stasi-Akten nahtlos an den Verfassungsschutz übergeben zu wollen. Die allgemeine Atmosphäre kurz vor der Schlussabstimmung war deshalb ziemlich aufgeheizt und vergiftet. Bei der FDP-Fraktion führte die Medienschelte am Ende sogar noch zu einem Enthaltungsvotum bei der Schlussabstimmung. In meiner eigenen Fraktion, der SPD-Bundestagsfraktion, lief aber alles glatt. Im Gegenteil: Otto Schily hatte den Entwurf in der Diskussion zwar als „Revolutionsrecht“ bezeichnet und meinte das wirklich nicht als Kompliment. Ich selbst hielt aber dagegen und schlug mich in dieser Debatte wohl recht wacker, denn am Ende fand der Entwurf eine übergroße Zustimmung bei nur wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen. Als das Ergebnis ausgezählt war, erhob sich Willy Brandt von seinem Platz am Vorstandstisch, ging von Vorn quer durch die Fraktion zu meinem Platz und drückte mir demonstrativ die Hand. Ich war als junger Abgeordneter von damals gerade einmal 32 Jahren über diese Würdigung, ja Auszeichnung durch den Altvater der Sozialdemokratie tief berührt. Tatsächlich ging es aber nicht nur um mich als Person. Denn es war nicht nur ein schwieriger, sondern zugleich der erste Gesetzentwurf, der federführend durch einen Ostdeutschen erfolgreich durch die SPD-Fraktion gebracht worden war. Das war deshalb ein neues und wichtiges Stück Normalität in der nun gesamtdeutschen Fraktion.

Die Debatte und Schlussabstimmung zu dem von CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurf eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes fand am Donnerstag, dem 14. November 1991, in der Kernzeit des Parlamentes statt. Der Gesetzentwurf wurde gegen die Stimmen der Fraktionen von Bündnis 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste, bei Stimmenthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Am 29. Dezember trat das gesamtdeutsche Aktenöffnungsgesetz, das Stasi- Unterlagen-Gesetz, schließlich in Kraft. Nicht lange danach sahen wir Bilder, auf die wir lange gewartet hatten: Die ersten Oppositionellen und Bürgerrechtler aus der früheren DDR erhielten Einsicht in die Stasi-Akten beim neuen Bundesbeauftragten in Berlin. Nun war endlich das Fenster aufgestoßen, alter Mief konnte entweichen und die Forderung abertausender Menschen aus dem Herbst 1989 war Wirklichkeit geworden.

 

Anmerkungen:

1 Rolf Schwanitz, geboren 1959 in Gera, ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war Mitglied im Neuen Forum, Mitglied der ersten freigewählten Volkskammer der DDR. Rechtspolitischer Sprecher der SPD-Volkskammerfraktion. Juli bis August 1990 Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium der Justiz (DDR). Von Oktober 1990 bis 2013 Mitglied im Deutschen Bundestag. 1991 Berichterstatter der SPD-Fraktion zum Stasi-Unterlagen-Gesetz und Beiratsmitglied beim BStU bis 1998. Von 1998 bis 2005 Staatsminister im Bundeskanzleramt und anschließend von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Gesundheit. Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag auf eigenen Wunsch im November 2013. Seitdem ehrenamtlich politisch/gesellschaftlich aktiv und publizistische Tätigkeit - u. a. Mitglied im Kuratorium und der Mitgliederversammlung der Friedrich-Ebert-Stiftung, im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, im Beirat des Instituts für Weltanschauungsrecht und von 2010 bis 2020 Mitglied im Sprecher*innenkreis der Säkularen Sozialdemokrat*innen. Schatzmeister des Vereins Vogtland 89 e.V.
Würdigungen: 1997 Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und Willy-Brandt-Medaille im Jahr 2013

2 15. Tätigkeitsbericht BStU 2019/2020, Seite 9; Siehe: https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/assets/bstu/de/Publikationen/TB_15_barrierearm.pdf

3 Die Namen gelangten dann doch noch am selben Tag an die Presse und damit Öffentlichkeit.