Intensive Grundsatzdiskussion um die Öffnung der Stasiakten

von Hartmut Büttner1

Ende 1991 hatte der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit das „Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ verabschiedet. Es war der erste gesamtdeutsche Bundestag, der sich nur elf Monate zuvor, damals noch in Bonn, konstituierte. Ich hatte das große Glück, mit dabei sein zu dürfen.

Direkt gewählt wurde ich für die CDU/CSU im Wahlkreis 287. Der Wahlkreis war das Herz der klassischen Magdeburger-Börde in Sachsen-Anhalt. Zu ihm gehörten die Kreise Schönebeck, Wanzleben, Staßfurt und Magdeburg-Süd-West.

Ostdeutscher Abgeordneter aus dem Westen

Das war ungewöhnlich, stammte ich doch aus Garbsen bei Hannover und war von Haus aus Fleischermeister. Schon in jungen Jahren hatte ich viele ehrenamtliche Funktionen in der CDU und deren Jugendorganisation „Junge Union“ inne. Bereits als Landesvorsitzender der Jungen Union Niedersachsen fuhr ich immer wieder mit Gruppen von jungen Leuten in die damalige DDR. Dabei wurde ich zweimal von der Stasi kurzzeitig festgenommen. Obwohl es jeweils nur wenige Stunden waren, verspürte ich ein wenig von der Machtlosigkeit, der Angst und dem Ausgeliefertsein gegenüber den Vasallen einer Diktatur.

Im Garbsener Stadtrat war ich außerdem das jüngste Ratsmitglied seit 1974. Jahrelang nutzte ich meine Ratsmitgliedschaft, um mich für die Aufnahme einer Partnerschaft mit einer Stadt in der DDR einzusetzen. Ein Antrag von mir wurde insgesamt drei Mal einstimmig vom Garbsener Stadtrat angenommen. Drei Mal gab es von der DDR noch nicht mal eine Reaktion darauf.

Gleich nach dem Mauerfall wurde die Suche nach einer Städtepartnerschaft umgesetzt und bereits im Februar 1990 kam es zu Kontakten zur 40.000- Einwohnerstadt Schönebeck an der Elbe. Ein Feuerwerk von verbindenden Aktivitäten führte zu hunderten von privaten und betrieblichen Begegnungen sowie von Verbänden und Organisationen.

Dabei gab es viel Unterstützung auch beim Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung in der sich gerade wandelnden DDR. Dies reichte von der Wahl zur ersten frei gewählten Volkskammer bis zu den Kommunal- oder Landtagswahlen. Niemals hatte ich zu diesem Zeitpunkt Überlegungen, mich selbst um ein Mandat zu bemühen.

Das änderte sich aber, als die Kandidaten für die Wahl zum Deutschen Bundestag aufgestellt wurden. Eigentlich sollte sich der CDU-Abgeordnete aus der im März 1991 frei gewählten Volkskammer darum bewerben. Dieser wurde jedoch beschuldigt, inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein.

Da es eine auskunftsfähige Stasiunterlagenbehörde zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab, konnte er zunächst nichts zu seiner Entlastung beitragen. Die Aufdeckung der IM-Tätigkeit des Sozialdemokraten Ibrahim Böhme und des DA Vorsitzenden Wolfgang Schnur führte damals zu einer regelrechten IM Hysterie. Auch beim Schönebecker CDU-Kandidaten sollte sich später dessen Unschuld herausstellen.

Da die Zeit für eine weitere Kandidatensuche für die Wahl zu knapp wurde, überzeugten mich vor allem die Mitglieder der Schönebecker Mittelstandsvereinigung (MIT), dass ich mich als Handwerksmeister um das Bundestagsmandat bewerben sollte. Das habe ich dann auch getan und wurde trotz weiterer Kandidaten mit großer Mehrheit nominiert und schließlich auch in den Bundestag gewählt.

Aufgrund meiner kommunalpolitischen Erfahrungen und weil die Fragen der Bewältigung der zweiten deutschen Diktatur im Innenausschuss behandelt wurden, bewarb ich mich um die Mitgliedschaft in diesem Ausschuss.

Schon vor der Aufnahme der Beratungen von Bundestagsgremien zu den Stasiunterlagen war die inhaltliche Diskussion darüber schon heftig entbrannt. Die DDR-Volkskammer hatte bereits am 23. August 1990 ein „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“, verabschiedet. Eine Übernahme dieses Gesetzes in den Einigungsvertrag lehnten die Vertreter der Bundesregierung allerdings ab. Die Abgeordneten der Volkskammer setzten jedoch in einer Zusatzerklärung zum Einigungsvertrag durch, dass die Eckpunkte in einem künftigen gesamtdeutschen Gesetz umfassend berücksichtigt werden sollten.

Mit der Arbeit an diesem Gesetz wurde auch unverzüglich begonnen. Aus dem Innenausschuss heraus wurde eine mit Abgeordneten aus Ost und West besetzte, interfraktionelle 15köpfige Arbeitsgruppe gegründet. Diese nahm sofort ihre Arbeit auf und tagte fast permanent. Meine Fraktion wurde vom innenpolitischen Sprecher Johannes Gerster (CDU), dem Obmann Wolfgang Zeitlmann (CSU) und mir vertreten. Für die SPD-Fraktion sprachen Gerd Warttenberg und der spätere Staatsminister Rolf Schwanitz. Das streitbare FDP-Urgestein Burkhard Hirsch und der Ostdeutsche Jürgen Schmieder repräsentierten die Liberalen, Ingrid Köppe Bündnis90/Die Grünen.

Im Laufe der weiteren Beratungen für die Gesetzesdetails wurde ein Unterausschuss des Innenausschusses zur Bewältigung der Stasiproblematik gegründet, dessen Vorsitz ich übernahm.

Unser Partner war die Bundesregierung. An der Spitze Innenminister Dr. Wolfgang Schäuble. Auf den Innenminister war wenige Wochen zuvor ein Schusswaffenanschlag verübt worden war, so dass er die Verhandlungen aus dem Rollstuhl heraus führen musste.

Bei den Gesetzesverhandlungen beeindruckte er mich besonders. Obwohl seine beiden Schusswunden noch nicht verheilt waren, versäumte Schäuble keine Sitzung. In Sitzungspausen unterzog er sich gesundheitlichen Übungen, die den Heilungsprozess fördern sollten. Am Rand der bis in die Nacht gehenden Einzelberatungen konnte ich beobachten, wie sehr Wolfgang Schäuble an sich arbeitete. Trotz der großen körperlichen Anforderungen diskutierte er mit Konzentration und argumentierte punktgenau.

Ständiger Teilnehmer war auch der spätere erste Chef der Stasiunterlagenbehörde und Bundespräsident, Joachim Gauck. Er hatte in der letzten DDR-Volkskammer den Ausschuss zur Kontrolle der Stasi-Auflösung geleitet und war seit der Vereinigung Leiter der Sonderbehörde für die Stasi-Akten. Viele praktische Lösungsvorschläge flossen gerade von ihm in die Beratungen ein.

"Meine Akte gehört mir"

Der Auftrag aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung und der frei gewählten Volkskammer war eindeutig und klar. Gegen eine Vernichtung der Unterlagen sprachen vor allem die Belange der Opfer. „Meine Akte gehört mir“ hatte die DDR-Bürgerrechtsbewegung bei der Besetzung der Stasiunterlagenbehörde im September 1990 gefordert. Die Akten sollten nicht vernichtet, sondern aufbereitet und den ausgespähten Menschen zur Einsicht gegeben werden.

Für westliche Juristen war dies unvorstellbar. Auf rechtswidrige Weise erlangte Unterlagen müssten vernichtet werden. Diese Auffassung vertraten zunächst auch die Juristen Wolfgang Schäuble und Helmut Kohl. Ihre Meinung veränderte sich allerdings durch viele Einzelgespräche auch in unserer Arbeitsgruppe.

Nicht abfinden wollten sich hiermit allerdings andere, allen voran der FDP-Vertreter Dr. Burkhard Hirsch. Nachdem er mit seinen einschränkenden Vorschlägen zum StUG nicht durchkam, stelle er bei den folgenden sieben Novellierungen immer wieder ähnliche Anträge.

In monatelangen Beratungen hatten sich CDU/CSU, SPD und FDP und Bündnis90 auf einen gemeinsamen interfraktionellen Gesetzentwurf geeinigt. Nach eigener Aussage hatten sie dabei schwieriges Neuland zu betreten.

„Eigentlich ist dieses Gesetz ein Experiment“, sagte der FDP-Abgeordnete Jürgen Schmieder. Als „ein Wagnis“ bezeichnete es der SPD-Parlamentarier Dieter Wiefelspütz. Hans Gottfried Bernrath von der SPD, Vorsitzender des Innenausschusses, betonte, dass es sich hierbei um eine „völlig neue Rechtsmaterie“ handele, bei der die schwierige Balance widerstreitender Interessen zu bewältigen sei.

Schutz der Betroffenen

Das Stasiunterlagengesetz ist vor allem ein Opferschutzgesetz, dass die Einzelheiten der Nutzung der Unterlagen klar regelt. Immer wieder gab es Abwägungen zwischen den berechtigten Interessen der Opfer, weiteren Aufgabenstellungen wie die Aufklärung der Funktionsweise des Stasisystems und Datenschutzinteressen. Bei der Gesetzesverabschiedung hatte ich noch einmal betont, dass hinter dem Opferschutz alle anderen Interessen und Begehrlichkeiten zurückzustehen hätten.

In der Schlussphase der Gesetzesberatungen war noch eine sehr schwierige Frage zu klären: Soll der Klarname des Stasispitzels dem Betroffenen (Opfer) genannt werden oder nicht? Ich selbst war hin- und her gerissen. Wie verantwortungsbewusst werden die ehemaligen Opfer mit diesen Informationen umgehen? Gibt es möglicherweise sogar Übergriffe auf die früheren Spitzel? Was bedeuten die Erkenntnisse auch psychologisch, wenn dabei herauskommt, dass nahe Freunde oder Angehörige die Stasiinformanten waren?

Zahlreiche, durchaus widersprüchliche, Gespräche mit Betroffenen halfen mir bei meiner Entscheidung. Das ausschlaggebende Argument war, ich solle den Menschen vertrauen. Nicht Rache werde das Resultat dieser Namensnennung sein, sondern eine gewünschte Klarheit für die eigene Biografie. So haben wir als Gesetzgeber im § 13 (5) des Stasiunterlagengesetzes die Möglichkeit eröffnet, dass Decknamen von Stasimitarbeitern den Ausgespähten mitgeteilt werden können.

Wochenlang blieb die Homogenität der fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe erhalten. Erst kurz vor Abschluss der Beratungen stieg die Fraktion Bündnis 90/Grüne, vertreten durch die Abgeordnete Köppe, aus dem gemeinsamen Beratungsstand aus.

Köppe kritisierte plötzlich Einzelheiten, die sie kurz zuvor noch mitgetragen hatte. In der Schlussabstimmung des Bundestages über dieses Gesetz zerfiel die Grünen-Fraktion in zwei Teile. Während der Flügel um Ingrid Köppe gegen das Stasi-Unterlagengesetz votierte, enthielt sich die andere Hälfte der Fraktion der Stimme.

Gegen die Stimmen der PDS setzten die anderen Fraktionen des Hauses das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) mit großer Mehrheit durch. Diese Mehrheit war die Grundlage, für die breite Akzeptanz der Regelungen zu dieser schwierigen Materie innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung.

Das Stasiunterlagengesetz (StUG) hat sich in den 29 Jahren seiner Existenz bewährt.

Das StUG ist nach Geist und Buchstaben zunächst ein Gesetz zugunsten der Bespitzelten. Der Einzelne sollte Klarheit über das Einwirken der Stasi und der SED auf seine Persönlichkeit bekommen.

Die Chance, die eigene Biographie in Ordnung zu bringen, haben im Lauf der Jahre 3.666.285 Menschen genutzt. Die insgesamt 111 km Stasi-Schriftgut sind seit Aufnahme der Arbeit von 7.377.292 Antragstellern für die verschiedenen Nutzungszwecke nachgefragt worden.

Das Stasi-Unterlagengesetz ist weiterhin auch ein Veröffentlichungsgesetz, dass ausdrücklich die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS gewährleisten und fördern will.

Und schließlich gab die Behörde der Bundesbeauftragten an öffentliche und nichtöffentliche Stellen die erforderlichen Informationen für die vielfältigen im Gesetz genannten Verwendungszwecke.

Für zahlreiche Fragen der Rehabilitierung bieten häufig allein die Stasi-Akten die einzige Möglichkeit des Beweises.

Hinzu kommen Anträge von öffentlichen und sogenannten nichtöffentlichen Stellen auf Überprüfung einer etwaigen Tätigkeit im Staatssicherheitsdienst.

Das Gesetz hat auch eine nachgewiesene Schutzfunktion für ungerechtfertigte Beschuldigungen. Ein negativer Beweis ist häufig nur mit Hilfe der Stasi-Unterlagen möglich und kann mittlerweile auch sehr rasch erfolgen.

Viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages hatten wie ich auch bei der Erarbeitung des Gesetzes große Bedenken hinsichtlich der Nennung der Klarnamen der frühere Spitzel. Heute kann ich durchaus mit etwas Stolz verkünden: Unser Vertrauen in den Gerechtigkeitssinn der Menschen war gerechtfertigt. Bisher ist kein einziger Fall bekannt geworden, dass sich Opfer an den nunmehr bekannten Tätern gerächt hätten. Die Menschen sind verantwortlich mit dem Wissen um ihre eigene Vergangenheit umgegangen.

Die Tätigkeitsbilanz zeigt auch sehr deutlich, dass das Thema Stasi eben kein reines DDR-Thema, sondern stets ein gesamtdeutsches Problem war. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass das Ministerium für Staatssicherheit auch im alten Bundesgebiet sehr aktiv war.

Das wachsende Interesse in den westlichen Bundesländern ist auch daran zu erkennen, dass über ein Fünftel aller Anträge auf Akteneinsicht von Bürgern der alten Bundesländer gestellt worden waren.

Wir wissen jetzt aber auch, dass die Gleichung, Opfer gab es in West und Ost, aber der Stasi-Täter kam ausschließlich aus Deutschland-Ost, nicht nur zu undifferenziert, sondern einfach falsch ist. Im Laufe der Jahre haben schätzungsweise 20.000 bis 30.000 Westdeutsche als inoffizielle Mitarbeiter für das MfS gearbeitet haben.

Dabei waren die Menschen in der DDR, die Anstand behielten und Zivilcourage zeigten, in der Mehrheit. Trotz schwierigster Umstände in einer Diktatur, scheiterten drei von fünf Anwerbeversuche des Staatssicherheitsdienstes.

Das Erbe der Diktaturen war in allen postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas ähnlich, es wurden aber sehr unterschiedliche Wege beschritten, um die Diktatur der kommunistischen Parteien und ihrer Repressionsorgane aufzuarbeiten.

Die Berliner Normannenstraße und die 14 Außenstellen der Behörde des Sonderbeauftragen, wurden ab 1992 fast zu Pilgerstätten für ausländische Besucher. Das Stasi-Unterlagengesetz ist damals zu einem Exportschlager geworden.

Zeigt sich doch, dass wir mit den damals getroffenen Grundaussagen richtig lagen. Die getroffenen Regelungen waren ohne Beispiel und ohne Vorbild.

Nun hat eine neue Ära begonnen. Mit der Übernahme der Stasi-Unterlagen in das Bundesarchiv bietet sich mehr Breite in den Auskunftsmöglichkeiten.

 

Anmerkungen

1Hartmut Büttner, geboren 1952 in Kolenfeld ist ein ehemaliger deutscher Politiker und war ab 1990 vier Wahlperioden lang Mitglied des Deutschen Bundestages. Seine politischen Funktionen im Bundestag waren unter anderem: Stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses, Mitglied im Stiftungsrat der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium zur Kontrolle der Nachrichtendienste, Vorsitzender der CDU-Landesgruppe Sachsen-Anhalt, Vorsitzender der deutsch-spanischen Parlamentariergruppe, Mitglied im geschäftsführenden Bundesvorstand der MIT. Nach seinem Ausscheiden wurde Hartmut Büttner vom Deutschen Bundestag erneut in den Beirat der Stasiunterlagenbehörde gewählt.

Hartmut Büttner ist außerdem als Zeitzeuge der Wiedervereinigung im Zeitzeugenportal 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit aktiv beteiligt. Im Jahr 2010 gründete Hartmut Büttner das Niedersächsische Netzwerk für SED- und Stasiopfer.

1998 erhielt Büttner das Bundesverdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Weiterhin wurde er 1992 mit dem Stelingen-Preis und 2004 mit dem Garbsener Bürgerpreis "Mutter Courage" ausgezeichnet.