​​​​​​​Olle Kamellen werden skandalisiert, um der Recherche in den Stasi-Akten einen mitzugeben

Diskussion zur möglichen IM-Verstrickung des ehemaligen Journalisten-Verbands-Vorsitzenden, Bernd Lammel.

Von Christian Booß1

Warum wärmt die Berliner Zeitung 2021 eine alte Kamelle2, den schon 2015 geäußerten Verdacht auf eine zurückliegende IM-Tätigkeit des früheren Berliner Vorsitzenden der Deutschen Journalistenverbandes (DJV), auf? Das Interesse der Berliner Zeitung scheint darin zu liegen, den Gesamteindruck zu hinterlassen, bei den Stasi-Recherchen stimme grundsätzlich etwas nicht.

Unterschwellig wird inzwischen auch von anderen, vielfach variiert, die These vertreten, es würden hier Menschen von Journalisten rechtswidrig verfolgt und ausgespäht und das mit eifernder Hilfe der Stasi-Unterlagenbehörde. Dieses Konzert wurde wenige Wochen vor dem Ende der Stasi-Unterlagenbehörde angestimmt, bevor die Stasi-Akten am 17. Juni 2021 in das Bundesarchiv abgegeben wurden. Das mag das kein reiner Zufall sein, es geht offenbar darum, die Behörde in einem Abgesang rückwirkend abzuwerten. In Folge könnten künftige Recherchen in den Stasi-Akten erschwert werden.

An den Fall selbst, es geht primär um Bernd Lammel, einen Fotographen, hätte sich kaum noch einer erinnert. Lammel blieb damals nach den Vorwürfen DJV-Vorsitzender, inzwischen ist er es nicht mehr. Es war Lammel persönlich, der jetzt die Welle von Artikeln und Netzkommentaren lostrat. Laut einem Artikel in der Berliner Zeitung wirft er der Stasi-Unterlagenbehörde vor, dass sie Verwandte, Bekannte, Kollegen von ihm „ausleuchtete“; ein durchaus ehrenrühriger Vorwurf, der sich faktisch auch gegen die Auftraggeber der Recherchen, v.a. den RBB und die Bild-Zeitung richtet, also gegen gleich drei nicht ganz kleine und unwichtige Institutionen. Der Stasi-Unterlagenbehörde hat die Vorwürfe inzwischen zurückgewiesen. Sie hat den Vorgang noch einmal geprüft und für rechtens erklärt. Auch die beiden Medieninstitutionen sollen inzwischen dabei sein, sich gegen diese Anwürfe zu verwahren.

Nun kann man keinem übel nehmen, wenn er Vorgänge in Behörden, erst Recht die Eigenheiten und das Kauderwelsch der Stasi nicht versteht, oder verstehen will. Wenn er jedoch darüber mit Schärfe in der Öffentlichkeit urteilt, dann sollte er sich doch mit Grundzügen der Rechtslage und Verwaltungsabläufe vertraut machen und diese objektiv darstellen. Das haben aber Lammel und die, die ihm in Zeitungen und v.a. in Internetmedien mit durchaus größerer Reichweite, aber auch in zweifelhaften Blogs hinterherschreiben, offenkundig nicht gemacht. Hier werden dauernd Äpfel mit Birnen verwechselt. Rein interne Recherchen in der Stasiakten-Behörde werden so dargestellt, als wenn sie veröffentlicht worden wären. Gutachten u.ä. Äußerungen, die nicht komplett vorliefen, und somit nicht überprüfbar sind, werden fragmentarisch zitiert, usw. Hier geht es also offenbar mehr um Stimmungsmache als um Fakten.

Es wäre sinnlos und ermüdend, alles, was da inzwischen im Umlauf ist, zu kommentieren und zu korrigieren, zumal vieles überhaupt nicht nachprüfbar ist. Da wird darauf verwiesen, dass sich der
Bundesdatenschutzbeauftragte eingeschaltet habe, dass Beschwerde bei der Beauftragten für Kultur und Medien eingereicht würde; im Übrigen habe die Stasiunterlagenbehörde die Recherche zu Lammel schon vor einigen Jahren intern für rechtswidrig erklärt. Diese Behauptungen sollen offenbar dem Faktendurcheinander von Lammel und Co. Autorität verleihen. Doch das tun sie in Wirklichkeit nicht. Denn die Anmerkungen des Datenschutzbeauftragen sind andere, als behauptet, das Dementi folgte sogleich. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat ohnehin kein Recht in das mit einem Spezialgesetz geregelte Kerngeschäft der Stasi-Unterlagenbehörde, die Aktenaufbereitung und die Aktenherausgabe, reinzugrätschen. Die Bundes-Kulturbeauftragte, Monika Grütters, ebenso wenig.

Es ist nicht zuletzt eine interne Stellungnahme aus der Stasiunterlagenbehörde von selbst 2017 auf die sich Lammel und dessen journalistischen Follower beziehen und deren Argumente sie zu übernehmen scheinen. Diese ist inzwischen im Internet einsehbar und damit überprüfbar. Und siehe da. Es ist lediglich ein kritischer fachaufsichtlicher Vermerk eines einfachen Sachbearbeiters. Er blieb weitgehend folgenlos, da seine Vorgesetzten, nach intensiver Diskussion die Sache anders beurteilten. Bei genauer Betrachtung sind Text und Argumente dieses Altvermerkes nämlich selbst fragwürdig.

Der Behörden-Sachbearbeiter wurde erst im zweiten Jahr nach der eigentlichen Recherche hellhörig (oder sollte man sagen, hellhörig gemacht?); angeblich, weil eine Recherche von Journalisten zum Thema Journalisten und MfS umfangreich war. Allein dieser Ansatz wirft Fragen auf. Denn es gab und gibt in der Geschichte der Stasiunterlagenbehörde viele derartig umfangreiche Anträge, wenn auch die meisten deutlich kleiner ausfallen. Ist sorgfältige Recherche schon Verdacht erregend? Warum also gerade dieser Antrag zu diesem Zeitpunkt fachaufsichtlich geprüft wurde, ist rätselhaft.

Der Autor des inzwischen von manchem zum Gutachten hochstilisierten Behördenvermerkes ist offensichtlich nicht mit den praktischen Fragen und Nöten von Forschern und Journalisten bei der Recherche und Wahrheitsfindung in den Akten befasst, sondern mit einfachen Rechtsfragen. Alles, was ihm an der Recherche nicht geheuer und prima vista erklärbar erscheint, wird in dem Vermerk nicht als Frage formuliert, sondern als angebliche Rechtswidrigkeit auf- und angezählt. Auf eine derart unterstellende Logik sollte sich eigentlich keiner stützen.

Allein das Totschlagargument, hier werde „Ausforschung“ von heutigen Personen und nicht die gesetzlich vorgeschriebene Aufarbeitung betrieben, beruht auf einer mehrfachen Fehleinschätzung. Der Begriff „Ausforschung“ findet sich erstens im Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht, er ist eine reine Erfindung von einzelnen Behördenmitarbeitern; somit auch das angebliche Ausforschungsverbot. Zum zweiten ist Aufarbeitung mitnichten, rein rückwärtsgewandte, historische Forschung. Aufarbeitung, so lese man bei dem Begriffs- „Erfinder“, dem Philosophen Theodor W. Adorno nach, bedient sich der historischen Erinnerung, um die Gegenwart zu ändern und möglichst zu verbessern. Aufarbeitung bemüht sich um eine Reparatur der Diktaturschäden ex post. Wenn es also gegenwärtige Motive gibt, wie die Rehabilitierung von Stasi-Opfern, dann eben auch die Identifizierung von ehemaligen Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi. Auch dies ist im Grundsatz und in rechtlich gesetzten Maßen Aufarbeitung. Zum dritten, auch das übersehen „Ausforschungs“-Kritiker, war es geradezu der historische Wille des Gesetzgebers mittels Aktenöffnung die Bildung von Stasi-Seilschaften, wie sie in Osteuropa zu beobachten sind, im vereinigten Deutschland zu unterbinden; nachzulesen in den Protokollen der Bundestagsdebatten zum Stasi-Unterlagengesetz vor ziemlich genau 30 Jahren. Den Begriff Ausforschungs-Verbot sollte das Bundesarchiv also tunlichst aus dem Behördensprachgebrauch tilgen.

Moniert wird in dem Aktenvermerk auch, und so tun es in Folge variiert auch Lammel und Co., hier sei insgesamt zu 164 Personen recherchiert worden. Zu viel, nicht rechtlich gedeckt, weil eben „Ausforschung“. Der Rechercheur der Stasi-Unterlagenbehörde hätte sogar in mehreren Fällen eigenständig Personen recherchiert.

Dazu muss man wissen: Es lagen im Jahr 2015 zwei Anträge vor. Einer, der des RBB, befasste sich schwerpunktmäßig mit dem Fall Lammel. Hier wurden aber überhaupt nicht so viele Personen recherchiert, wie sie jetzt immer genannt werden. Es gingen nach Angaben des BStU damals nur bescheidene ca. 70 Seiten zu der RBB-Recherche heraus, die den „Fall“ Lammel dann als erste öffentlich machte.

Ein anderer Antrag, der der Bild-Zeitung, bezog sich zunächst überhaupt nicht auf Lammel, sondern lief zum Thema Journalisten und MfS allgemein. Er wurde mehrfach modifiziert und ergänzt, u.a. um Lammel, nachdem diese Personalie durch den RBB publik geworden war. Allein schon wegen der Zahl der recherchierten Personen, der vorrangigen Recherche nach IM und mehrerer Themen- Modifikationen sei das Thema rechtlich nicht gedeckt, wird behauptet. Das kann freilich nur jemand schreiben, der offenbar selbst keine Recherchen macht. Das Stasi-Unterlagengesetz, und das gilt im Prinzip für diese Akten künftig auch im Bundesarchiv, enthält jedenfalls keine Begrenzung auf eine bestimmte Zahl von zu recherchierenden Personen.

Das Informationsinteresse, und dazu gehört auch die Frage, warum eine Zeitung ein Thema wie „Journalisten und Stasi“ bearbeitet, ist grundsätzlich ihre Sache. Das Bundesverfassungsgericht wie auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit haben immer wieder bestritten, dass eine Behörde dieses bewerten darf. Auch wie die Antragsteller ihre Recherche methodisch angehen, ist grundsätzlich deren Entscheidung. Ob eine Zeitung oder auch ein Wissenschaftler ihre Arbeit überwiegend aufjournalistische IM fokussieren oder nicht, liegt zunächst einmal bei ihnen. Themen- und Methodenfreiheit sind wesentliche Elemente der Pressefreiheit. Diese ist Voraussetzung für eine wirksame Ausübung der Meinungsfreiheit, die bekanntlich in unserem Staat ein hohes Gut ist.

Es gibt zahlreiche Diplomarbeiten, Dissertationen, Forschungspublikationen, auch eine aufwändige Studie und mehrere Filme der ARD zur ARD, die das Thema Journalismus und Stasi und hierbei die IM in den Fokus genommen haben. Die meisten von ihnen hatten umfangreichere Personenrecherchen zur Folge, manchmal sogar mehr als 164 Personen. Alle unzulässig? Sicher nicht! Ob diese Recherchen immer zu den spannenden Ergebnissen geführt haben, die sich die Autoren erhofften, ist eine andere Frage, aber auch dies liegt in deren Verantwortung.

Dass ein solch komplexes Thema wie „Journalisten und Stasi“ sich im Laufe der Jahre und der Erkenntnisfortschritte verändern kann, ist ebenso nicht abwegig, sondern im Gegenteil normal. Recherchen führen regelhaft zu immer neuen Fragen. Es ist eher manchmal sogar die enge Sicht von einzelnen Mitarbeitern der bisherigen Stasiunterlagen-Behörde, die zu solchen Modifizierungen zwingt. Wer beispielsweise Beziehungen von Journalisten und MfS recherchiert, bekommt manchmal keine Hinweise auf eine IM-Tätigkeit auf Personen, wenn diese in der Ausbildungs- oder Armeezeit lag, da dies angeblich mit dem Thema nichts zu tun habe. Das ist eine Spitzfindigkeit, die an der Lebenswirklichkeit vorbei geht und Aufarbeitung geradezu behindert. Dass alte Beziehungen aus der Zeit vor einer Berufstätigkeit das Verhältnis MfS zu einer Person beeinflussen können, ist eine wissenschaftlich erwiesene Binsenweisheit: Die Person kann sich dadurch in einer Erpressungssituation befinden oder es kann umgekehrt eine Empathie fortbestehen, so dass Informationen an das MfS fließen, ohne dass eine nochmalige Werbung als IM erforderlich ist, usw. Eine derartige Vorgeschichte gehört also zum Verständnis und ist auf Bitten des Antragstellers zu recherchieren.

Wie heute durch Lammels Veröffentlichungen bekannt ist, wurden in die Recherche von Bild u.a. damals auch andere Personen, darunter auch DJV-Mitglieder, einbezogen. Daraus wurde kurzschlüssig gefolgert, hier sei der DJV ausgeforscht worden und entsprechend wird jetzt publizistisch Stimmung gemacht. Ein schlagender Beleg für diese Behauptung fehlt jedoch. Unter den 164 in der Behörde durchrecherchierten Personen befanden sich entsprechend dem Thema natürlich auch andere Journalisten. Der fachaufsichtlich beflissene Mitarbeiter in der Behörde, auf den sich Lammel und Co. berufen, gab die Namen dieser Personen ins Internet, identifizierte so einige als DJV-Mitglieder und schlussfolgerte daraus, hier würden gezielt DJV-Journalisten ausgeforscht. Abgesehen davon, dass es fragwürdig ist, wenn ein Behördenmitarbeiter Medienanträge auf diese Weise im Internet gegenrecherchiert, es ist ein abstruser Fehlschluss. Wenn man bedenkt, dass der DJV einer der größten Journalistenverbände ist und nach 1990 ostdeutsche Journalisten, gerade auch ehemals systemnahe, in solche Berufsorganisationen drängten, um sich in den unsicheren Umbruchzeiten abzusichern, wäre es eher erstaunlich, wenn unter den angefragten und recherchierten Journalisten keine DJV- Mitglieder gewesen wären. Kurz vor der Diskussion zu Lammel musste 2015 übrigens der DJV-Landesvorstand Sachsen-Anhalt wegen Stasivorwürfen gegen mehrere Mitglieder zurücktreten. Das Rechercheinteresse war also offenkundig begründet.

Die Aktenlage Lammel, um auf den Ausgangspunkt der Diskussionen zurückzukommen, ist − soweit öffentlich bekannt − einfach und kompliziert zugleich. Die Indizien, die aus Stasi-Karteien und -Akten erhalten sind, sprechen dafür, dass die Stasi ihn in den 1980er Jahren als IM-Vorlauf, bzw. später nach geplanter Werbung, als IM eingestuft hat und die Akte wohl auch substanzielle Informationen vor allem zu den Botschaftskontakten von Lammel enthalten hat. Lammel bestreitet laut Medienberichten Stasi-Kontakte nicht, jedoch die Informantentätigkeit. Das macht die Sache schwierig. Denn weitere Indizien sprechen dafür, dass die eigentliche Akte im Zuge der friedlichen Revolution und Stasiauflösung vernichtet oder von Offizieren mitgenommen wurde.

In solchen Fällen ist es in der Stasi-Unterlagenbehörde seit ihrer Existenz üblich, um nicht zu sagen „best practice“, in Parallelakten Hinweise zu suchen, die zur Bestätigung der IM-Tätigkeit oder ihrer Widerlegung führen könnten. Auf diese Weise sind dutzende von Gutachten für Parlamente und Gerichte, hunderte Auskünfte an Behörden und ja auch Forschungs- und Journalistenanträge in komplizierten Fällen bearbeitet worden. Da das MfS bei Personenüberprüfungen auch von IM geradezu regelhaft die Verwandten 1. Grades (manchmal sogar 2.Grades) überprüft hat, ist es ein plausibler und oft erfolgsversprechender Ansatz in deren Akten nachzusehen. In der Akte des Vaters kann z.B. der Vermerk auftauchen, der Sohn sei „negativ“ oder „positiv“ erfasst, was ein deutlicher Hinweis ist, wie die Stasi zu dem Sohn stand. Manchmal finden sich in Verwandten-, Kollegen- Freundesakten sogar nützliche Informationen aus Gesprächsnotizen oder Aktenkopien, die andere Stasimitarbeiter zulieferten.

Derartige Recherchen sind aber ein rein verwaltungsinterner Recherchezwischenschritt in der Stasiunterlagenbehörde. Sie bedeuten nicht, dass die Informationen zu den Verwandten des vermeintlichen IM automatisch an den Antragsteller und damit quasi in die Öffentlichkeit gegeben werden. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Verwandten von Lammel ausgeforscht worden seien.

Wenn hier der Eindruck erweckt wurde, es seien im Fall Lammel Akten zu 164 Personen recherchiert und an Journalisten herausgegeben worden, ist dies doppelt falsch. Zu Lammel wurde deutlich weniger recherchiert, herausgegeben wurden nach Behördenangaben selbst an die Bild-Zeitung nur Akten zu 15 Personen, z.T. schon bekannte IM-Fälle. Um es noch einmal deutlich zu wiederholen: Zu der ganz überwiegenden Zahl der 164 Personen blieb die Akte im Archiv, ohne dass ein Externer sie überhaupt zu sehen bekam!

Ein Teil der Recherchen, es ging wie gesagt dabei gar nicht nur um Lammel, wie teilweise suggeriert wird, stammt aus anderen Anträgen bei der Stasiunterlagenbehörde, die zu ähnlichen Themen bearbeitet worden sind. Das ist nicht etwa mysteriös oder übereifrig oder gar rechtswidrig. Es erspart Zeit und ist gängige Recherchepraxis. Da sich immer wieder Forscher und Journalisten beschwert haben, dass sie zu einem Thema andere oder weniger Akten bekommen hätten als andere, wird in entsprechenden Altanträgen danach gesucht, ob hier Themenrelevantes enthalten ist. Solange die Antragsteller nicht selbst in den Akten recherchieren können, wird es bei dieser Praxis, die Gleichbehandlung sichern soll, blieben müssen.

Die ganze derzeitige Diskussion geht nämlich eigentlich am Hauptproblem der Stasiakten-Recherchen vorbei. Sie verläuft grundsätzlich anders als in anderen Archiven. Denn das Stasiunterlagengesetz ist gerade auch ein Gesetz zum Schutz der Opfer der Ausspähung. Es soll die Persönlichkeits- und Datenschutzrechte der Betroffenen schützen. Der Zugang ist daher eher restriktiv. Im Bundesarchiv dagegen erhält ein Nutzer mit einem genehmigten Antrag Zugang zu den Findmitteln. Der Nutzer selbst kann sowohl Sachverhalte und sogar Fundstellen zu Personen suchen. Erst vor Akten- und Kopieaushändigung wird noch einmal die Datenschutzfrage geprüft. Im Übrigen muss der Antragsteller später eigenverantwortlich entscheiden, was von seinem Wissen er veröffentlichen darf und wo er Rechte von Personen verletzen könnte.

Im Stasiarchiv und das wird auf absehbare Zeit auch im Bundesarchiv so bleiben, darf der Antragsteller gerade nicht allein in die Findmittel sehen, schon gar nicht in die zu Personen. Dies erledigt ein geschulter Sachbearbeiter für ihn. Der hohe Recherche-Aufwand, der derzeit in der Berliner Zeitung und bei Nachschreibern bemängelt wird, dient also gerade dazu, einen hohen Datenschutz zu wahren. Gerade bei schwierigen Recherchen − und Recherchen bei Teilverlusten von Akten sind eine hohe Kunst − ist der Antragsteller auf kundige und fleißige Rechercheure angewiesen, die unter Beachtung des Gesetzes und der Persönlichkeitsrechte seine Rechercheinteressen professionell verfolgen. Für den Außenstehenden ist das Stasiarchiv eine Art Blackbox. Er braucht daher wie ein Blinder einen Blindenhund, der ihn durch die Akten führt. Wer jetzt, um im Bild zu bleiben, auch den Blindenhund blind, taub oder apathisch machen will, verfolgt offenbar nur ein Ziel, Recherchen im Stasi-Archiv zu verflachen und z.T. unmöglich zu machen.

Eine Akte mit IM-Bezug darf die Behörde aushändigen, selbst wenn nicht der letzte Beweis erbracht ist, dass die Person wirklich IM war. Rechtlich zu unterscheiden ist der archivische IM-Begriff vom materiellen. IM-Indizien laut Aktenlage berechtigen (und verpflichten) das Stasiarchiv zur Herausgabe der Akten. So will es der Gesetzgeber, der das Gesetz erst kürzlich novelliert hat, bis heute. Anders ist beim materiellen IM-Begriff zu klären, ob die Person wirklich entsprechend dem, was die Stasi aufgeschrieben hat und was überliefert ist, verstrickt war. Die Verantwortung für diese Antwort liegt allein bei demjenigen, der die Akteninhalten veröffentlichen will oder es auch guten Gründen lässt.

Schon gar nicht obliegt es der Behörde, zu beurteilen, ob die Person ein „schlimmer“ IM war oder für bestimmte Funktionen tragbar ist. Im betreffenden Fall liegt die Frage ohnehin anders: Darf ein Journalist, der nur der Wahrheit (und allenfalls seinem Arbeitgeber) verpflichtet sein sollte, in den Geruch kommen, verdeckt auch für Dritte Aufträge erledigt zu haben, zumal wenn er als Journalistenfunktionär eine Vorbildfunktion haben sollte. Man denke jüngst an die Ausspähung des Oppositionellen Alexej Nawalny durch russische Medien in der Charité.

Natürlich ist es selbstverständlich, dass sich ein Berufsverband zunächst vor seine Mitglieder und Funktionsträger, auch ehemalige, stellt, wenn diese extern angegriffen werden. Aber von einem Verband wie dem DJV kann man auch erwarten, dass er die Methode verteidigt, die die Basis einer sorgfältigen Arbeit des Journalisten ist: die Recherche. Zu diesem Aspekt hat man bisher sehr wenig vernommen.

Das eigentliche Thema haben DJV wie die Berliner Zeitung ohnehin vergeigt. Es steht nicht an, die Aktenrecherchebedingungen zu verschlechtern, sondern zu diskutieren, was man 30 Jahre nach dem Untergang der DDR aus dem Aktenwissen macht und wie man heute mit Menschen umgeht, die damals – irgendwie − in die Mühlen der Stasi gekommen sind, ob als „Täter“ oder als „Opfer“.

Anmerkungen

1Zum Autor: Dr. Christian Booß, Historiker, jahrelang Journalist beimSFB und ORB (RBB) Hörfunk und Fernsehen; Pressesprecher, später Forschungskoordinator in der Stasi-Unterlagen-Behörde, heute Koordinator in einem Forschungsprojekt an der Europa-Universität Viadrina und ehrenamtlicher Vorsitzender des Aufarbeitungsvereins Bürgerkomitee 15. Januar e.V.

2https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/ausforschung-statt-aufarbeitung-wie-164-menschen-unter-stasiverdacht-gerieten-li.154827?pid=true vcm 24.4.2021 (Zugriff 20.11.2021)