Einmalige Akteneinsicht

von Karl-Heinz Bomberg1

Im September 1990 versammelten sich ehemalige politische Verfolgte in der Stasizentrale Berlin-Lichtenberg, um für bessere Bedingungen bei der Akteneinsicht zu kämpfen. Es kam schließlich sogar zu einer Art Hungerstreik auf dem Areal. Als ich dort hinkam, traf ich Wolf Biermann, der mir ein Blatt in die Hand drückte und mir kurz sagte: „Ich hab gehungert, und du siehst so aus.“ Ehe ich mich versah, war Biermann wieder weg.

1992 traf ich mich mit Joachim Gauck in seinem damaligen Büro in der Behrenstraße. Von einem Liedermacherkonzert in Rostock kannten wir uns. Er fungierte als Veranstalter. Nun sahen wir uns nach der FRIEDLICHEN REVOLUTION wieder, und er stellte mir Akteneinsicht in Aussicht. Es werde aber noch eine kurze Zeit dauern.

1994 war Jürgen Fuchs in meiner damaligen Arztpraxis in Berlin-Weißensee. Er legte mir nahe, mich für Betroffene einzusetzen, weil ich selbst Betroffener bin und mein Beruf mir das Handwerkszeug gibt. Diesen Auftrag erfülle ich heute noch.

1993 stellte ich schließlich einen Antrag auf Akteneinsicht, dem Anfang 1994 stattgegeben wurde. Schon vorher war ich ziemlich nervös. Das steigerte sich, als ich dort ankam. Meine Akte wurde mir ausgehändigt. Unruhig blätterte ich und begann zu lesen. Bald musste ich mehrmals zur Toilette. Davor saß ein Mann, der mir bekannt vorkam. Da ich den Ort immer wieder aufsuchen musste, hatte ich Gelegenheit zum Nachdenken. Irgendwo waren wir uns schon einmal begegnet. Dann sprach ich ihn an und er bestätigte, dass er auch mich kenne. Es war Gerulf Pannach, der die dicke Renft-Akte einsah. Der Aktenberg war so hoch, dass er von der Wand gestützt werden musste. Wir kamen ins Gespräch. Zwischenzeitlich kam die betreuende Sachbearbeiterin und redete mich mit Dr. Bomberg an. Gerulf Pannach musste schmunzeln, weil ihm das möglicherweise gefiel, selbst so angeredet zu werden. In der Oberschulzeit sei er ein Einsenschreiber gewesen. Da waren wir Verbündete, bevor wir ausscherten und wieder Verbündete wurden. Das Gespräch mit ihm ist mir auch deshalb heute so wichtig, wie die Akteneinsicht selbst. Wir wollten uns verabreden. Aber es kam nicht mehr dazu, weil er 1997 starb. Traurig, aber wahr.

Zurück zur Stasiakte. Die umfasst gut 1000 Seiten. Neugierig und angewidert las ich Seite um Seite. Es gab so viele Widersprüche in der Akte und in mir. Neugierde, Interesse, Angst auf der einen Seite und zunehmender Ekel und Wut auf der anderen Seite. So beschloss ich nach dem zweiten Einsichtstag, den ich auch noch hatte, die Unterlagen komplett ablichten zu lassen. Seitdem habe ich nicht mehr darin gelesen und auch keinen neuen Antrag wegen möglicher neuer Entdeckungen gestellt. Ich legte alles gut weg und hielt Abstand. Ein paar wenige Auszüge sind in meinen Büchern „Sing mein neualtes Lied“ (1996), „Verborgene Wunden“ (2015), „Heilende Wunden“ (2018) und „Seelische Narben“ (2021) erschienen.

Zwischendurch wusste ich nicht mehr, wo sie ist, meine Stasiakte „OV Sänger“. Ich musste sie sozusagen wiederfinden. Der Grund war folgender: Vom 29.2.1984 bis 30.5.1984 befand ich mich in Untersuchungshaft der Staatssicherheit. Das sind genau 90 Tage. Mittlerweile kann ich deshalb eine Opferpension beantragen. So nahm ich meine Akte wieder zur Hand, legte sie aber schnell wieder weg. Die mögliche Opferente von 330 Euro nach behördlicher Prüfung bekomme ich erst, wenn ich nicht mehr arbeite. Noch habe ich viel zu tun, und die Gesundheit lässt es zu. Anderen Betroffenen geht es mit der Akteneinsicht ähnlich wie mir. Viele haben wiederum noch keinen Antrag gestellt, weil es möglicherweise zu schmerzhaft ist. Einige IMs musste ich entdecken. Eine davon hatte mich mit ins Gefängnis gebracht. Bis heute scheue ich den Kontakt, weil ich nicht ihr, sondern dem System die Schuld gebe. Wenn ich dies schreibe, spüre ich meine Ambivalenz. Habe ich Angst, ihr zu begegnen? Oder könnte meine Wut zu groß sein? Vielleicht bekommt sie dann was ab, was doch auch wieder anderen gehört?

 

1 Karl-Heinz Bomberg, Dr. med., ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Anästhesie und Intensivmedizin. Er arbeitet als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin, ist Dozent, Lehranalytiker und Supervisor an der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin (APB). Zudem ist er Liedermacher.