Meine erste Erinnerung an die „Russen“ ist die an die Militärkolonnen

von Gerold Hildebrand

Wir wohnten in Ruhland an einer Straßenkreuzung, eher einer Dreieckskreuzung, mitten in der Stadt. Noch heute habe ich manchmal das Bild im Kopf, um mir zu vergegenwärtigen, wo es rechts und wo es links langgeht: Links ist da, wo der Daumen rechts ist.

Oder anders gesagt: Rechts lang geht es in die Stadt, links lang in die Pampa. Von unserem Haus aus betrachtet.

An dieser Straßenkreuzung, die meiner Orientierung diente, tauchten mindestens einmal im Monat Uniformierte auf, meist nur einer erstmal.

Nach Stunden oder halben Tagen dann plötzlich ohrenbetäubender Lärm. Eine Militärkolonne durchschnitt die Stadt.

Da brauchte der russische Soldat, der vielleicht gar kein Russe war, auch kein Funkgerät. Hörte er ja auch so, wenn die kamen. Er sprang auf die Kreuzung und wedelte dann mit zwei Fahnen. Auf den Fahrzeugen stand „CA“. Im Russischunterricht kam die Auflösung, das hieß „SA“.

Unter den vielen Viehtransportern, die die Mannschaften kutschierten, plötzlich richtige Panzer. Pfui, so was hatte ich nicht mal als Spielzeug. Und ich konnte ewig nicht auf die andere Straßenseite zum Spielen oder Streunern.

Und es roch. Noch stundenlang danach. Mein Geschichtslehrer, Erhard Manig, genannt „Der Ketzer“, pflegte zu sagen: „Das ist der Kriegskommunismus“. Damit meinte er nicht nur den Duft des Russenbenzins, das süßlich und nach des Teufels Schwefel stank. Später nahm er sich das Leben. Lange vor 89.

Den armen Muschiks, den wie Leibeigene behandelten Soldaten am Straßenrand spendierte niemand Essen oder Tee. Bei uns jedenfalls nicht. Wir mussten ja ohnehin schon blechen für die DSF, die „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ mit ihrem „allgegenwärtigen Freundschaftsgeruch“, wie es Liedermacher Michael Brose auf den Punkt brachte.

Onkel Hans stellte es schlauer an. Als Elektriker in der Braunkohle erhielt er Bergmannsfusel. Das Deputat tauschte er vor irgendeiner Russenkaserne gegen Dinge, die es kaum oder nur überteuert im Laden gab.

Einmal hatte er ein Kofferradio erstanden, mein schönstes Geburtstagsgeschenk 1967 und für lange Zeit danach.

Auf dem Sowjetradio hörte ich nun die Feindsender: RIAS-Treffpunkt, SFBeat, Radio Luxemburg (solange es noch nicht RTL hieß mit der damals besten Musik), sogar die Europawelle Saar war wegen der Skalenerweiterung, die über die in der Sowjetzone übliche Einengung hinausreichte, zu empfangen, freitags „Hallo Twen“ (ich war gerade erst zwei Jahre über zehn) mit Manfred Sexauer, den ich schon aus dem Fernseher meiner Oma kannte, die sich unter einem schweren Seufzer immer in die Küche zurückzog, wenn ich „Beat-Club“ aus Bremen einschaltete.

Ich hörte also im Garten, im Schuppen (kommt daher die Bezeichnung „Beat-Schuppen“?) und abends in meinem Kinderzimmer heimlich unter der Bettdecke. Mein Musikgeschmack wurde nachhaltig geprägt, obwohl „Nachhaltigkeit“ noch gar nicht erfunden worden war.

Draußen auf der Wiese aus der Heule dann die Meldung, dass Otis Redding mit seinem Flugzeug abgestürzt ist. Die Heule brachte einen also auch zum Heulen.

„Sittin on the Dock of the Bay“ war einer meiner frühen Lieblingshits. Die „Modern-Soul-Band“ spielte später viele seiner Lieder nach, auch „Tramp“. Aber das Trampen ist eine andere Geschichte und hat wenig mit den Russen zu tun. Nur einmal: Das war dann am 20. August 1968. Die ganze Nacht fuhren die Panzer. Diesmal von rechts nach links von unserem Haus aus gesehen und auf der Autobahn. Die war danach zerschrammt. Beim Trampen sah man das noch Jahre später.

Nun, im August 1968 wurde der Albaner interessant auf dem Russenradio, Radio Tirana. Da kam der Hilferuf von Alexander Dubček.

Später hatte ich einen Russenfernseher. Marke Junost. Vermutlich hatte den auch jemand gekaupelt. Da sprach an einem Novembertag Günter Schabowski Worte, die sich in ihrer Tragweite nicht sofort erschlossen. Es war einer seiner letzten Auftritte als DDR-Regierungssprecher.

Die Russen-Geräte brachten also auch viel Freude in mein Leben.