Eine Überkreuz-Initiative 40 Jahre nach Kriegsende

- Aktion der Friedensbewegungen in Ost und West

 

Von Martin Böttger

 

März 1985. In Vorbereitung auf den Mai 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, entsteht die Idee zu einer öffentlichkeitswirksamen Aktion der Friedensbewegungen in Ost und West. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges sollten aufgefordert werden, sich militärisch aus Deutschland zurück zu ziehen. Dadurch sollten beide deutsche Staaten die Möglichkeit erhalten, aus ihren Militärblöcken auszusteigen. Wer soll die Westmächte und die Sowjetunion auffordern, ihre treuesten Vasallen in die Neutralität zu verabschieden? Sollen dies die Angehörigen der Friedensbewegungen beider Länder in einem gleich lautenden Brief an ihre jeweilige Schutzmacht versuchen? Damit hätten wir gleich ein „abgekartetes Spiel“ dokumentiert, was schon mal einen gewissen Reiz besessen hätte.

Ich hatte da eine noch etwas bessere Idee: Die unabhängige Friedensbewegung der DDR schreibt an die drei Westmächte und die Friedensbewegung der BRD schreibt an die Sowjetunion. Mit dieser „Überkreuzaktion“ dokumentieren wir die enge Verzahnung der Zivilgesellschaften in Ost und West und machen den Militärblöcken klar, dass der Einsatz für Blockfreiheit nur von unten in einer abgestimmten Aktion möglich sein kann. Ich hielt das Risiko staatlicher Repressionen für etwas geringer, als wenn wir uns „nur“ an die Sowjetunion gewandt hätten.

Stasi-Fotos:

F1 Lutz Nagorski, Martin Böttger, Mirko Pusch, Mario Wetzky (von links),

F 2 an der Clara-Zetkin-Straße in Berlin-Mitte in der Nähe der US-Botschaft: Mirko Pusch, Lutz Nagorski, Martin Böttger, Mario Wetzky (vlnr.),

F3 Mirko Pusch, Martin Böttger, Lutz Nagorski (von hinten), Mario Wetzky

Tatsächlich blieb die kleine Gruppe, die die Briefe an die Ostberliner Botschaften der USA, Großbritanniens und Frankreichs übergeben wollte, von staatlicher Behinderung weitgehend verschont. Das MfS beschränkte sich darauf, uns genau zu beobachten. Folgende Personen gehörten der „Initiative für Blockfreiheit“ an:

Lutz Nagorski, Pfarrer Martin Michael Passauer, Mirko Pusch, Mario Wetzky und ich. Formulierungshilfe leisteten Stephan Bickhard und Gerd Poppe.

Der Brief begann mit folgendem Motto aus dem Schwur von Buchenwald: „Die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Dann folgte der Dank für die Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Anti-Hitler-Koalition und für unsere Seite die Bitte an die Westmächte:

„Die neuen Gefahren zwingen uns, Sie aufzufordern, mit der Sowjetunion und den anderen am Konflikt beteiligten Ländern in Verhandlungen einzutreten, die den bisherigen Rahmen verlassen und die Blockkonfrontation beenden sollen.“

Wir schlugen als Verhandlungsziele den Abzug der in den deutschen Staaten stationierten ausländischen Truppen vor. Gleichzeitig sollten die beiden Großmächte ihre in den anderen europäischen Blockländern stationierten Gruppen und Waffenpotentiale reduzieren.

40 Mitglieder der ostdeutschen unabhängigen Friedensbewegung unterzeichneten diesen Brief.

Einen ganz ähnlichen, in Teilen sogar wortgleichen Brief schrieben Mitglieder der westdeutschen Friedensbewegung an den Obersten Sowjet in Moskau. Auch dieser Brief trug 40 Unterschriften. Somit hatte die Zahl 40 bei dieser Aktion eine große symbolische Bedeutung.

Die Briefe sollten dann am 8. Mai 1985, also genau 40 Jahre nach Kriegsende, bei den entsprechenden diplomatischen Vertretungen abgegeben werden. Am Tag der Übergabe war Martin Michael Passauer leider verhindert, und so machten sich die anderen Mitglieder unserer Fünfergruppe auf den Weg: Lutz Nagorski, Mirko Pusch, Mario Wetzky und ich. Die Stasi fotografierte uns intensiv und recht auffällig. So entstanden zahlreiche Dokumente, die sich sowohl in der Ablage der Hauptabteilung VIII (Beobachtung) als auch in meiner Akte wieder finden. Eine Kuriosität dieser Aktion erfuhr ich allerdings erst nach Aktenöffnung. Alle meine drei Begleiter, also Lutz, Mirko und Mario waren IM des MfS. Was wäre wohl gewesen, wenn sich die Vierergruppe vor der Übergabe erst einmal beraten und darüber abgestimmt hätte, ob sie die Aktion zu Ende führen solle? Eine solche Abstimmung hätte ich garantiert verloren. Aber keiner meiner Begleiter wusste, dass sich noch zwei weitere IM in der kleinen Gruppe aufhielten und strebte somit auch keine Verhinderung der Aktion an. Da sie auch nicht alle vom gleichen Führungsoffizier gesteuert waren, kam es auch nicht von Stasiseite zu einem Abbruch der Aktion. Manchmal hat mangelnde Koordination auch ihre gute Seite.