Sabine Auerbach


Ausschnitt aus dem Text "Unverhoffte Morgengabe",  Literareon, 2015

von Sabine Auerbach Man kann nicht behaupten, die Russen hätten in jenen Jahren das Leben im
Städtchen bestimmt. Zumindest war davon nicht viel zu sehen. Nach den
abgezogenen Amerikanern waren die Russen ins Städtchen einmarschiert und
geblieben. Russische Soldaten wohnten in jenen Kasernen, die schon immer
Uniformierte beherbergt hatten. Neu war die Beschlagnahmung des
Villenviertels für die russischen Offiziere und ihre Familien. Mit
Stacheldraht umzäunt, war es fortab für die Bewohner des Städtchens
gesperrt. Hinter den Absperrungen richteten sie sich ein und lebten
unter sich. Russische Offiziersfrauen erkannte man an ihren üppigen
Pelzmänteln, man roch ihr schweres Parfum, wenn sie hin und wieder
durchs Städtchen flanierten. Soldaten und ihre Vorgesetzten sah man so
gut wie nie. Manchmal, an sonnigen Sonntagnachmittagen, saßen Soldaten
in den Rahmen ihrer weit geöffneten Kasernenfenster und spielten
Mundharmonika. Wenn man ihnen zuwinkte, lachten sie zurück. Aber selten
winkte jemand. Der Mehrheit der Bevölkerung waren sie fern und fremd,
was über die Jahre so bleiben sollte. Obwohl die neue Obrigkeit, die
Kommunisten, keine Anstrengungen ausließ, um die russische Sprache und
Kultur ihrer Bevölkerung aufzudrängen, schlugen all ihre Bemühungen mehr
oder weniger fehl. Das mag daran gelegen haben, dass die Menschen trotz
aller Propaganda die Russen weniger als ihre Befreier empfanden, denn
als Besatzer. Zudem gab es Gerüchte im Städtchen: schon nach kürzester
Zeit sei das einstige Villenviertel, das Kleinod der Stadt, völlig
heruntergekommen: Bäume seien gefällt und verheizt worden, auch vor
Fußbodendielen, Fensterläden, Holzgeländer, Türen habe man nicht Halt
gemacht. Vor zerbrochenen Fensterscheiben würden jetzt Säcke hängen und
die Straßen, inzwischen ohne Straßenschilder, seien so verunstaltet,
dass der momentane Stadtplan nie mehr zu gebrauchen sei. Die Empörung
fand ständig neue Nahrung, und da kaum ein Einheimischer das Viertel
betreten durfte, wurden die Mutmaßungen über die Zustände und den Grad
der Verwahrlosung immer kühner. Albert winkte ab, wenn er solche
Geschichten hörte. Er war zufrieden, dass die Russen im Städtchen
lebten, denn für ihn waren sie die Befreier, er setzte auf sie, was die
Zukunft betraf....