Probleme der Aufarbeitung angesichts der (überproportionalen, radikaleren und tendenziell gewaltbereiteren Rechtspopulismus/-extremismus) in Ostdeutschland

vorläufige Thesen von Christian Booß

1.12.2023

Kollektives Geschimpfe über die SED und die Stasi machte aus Menschen noch lange keine Demokraten. Der oft gepflegte Revolutionsmythos (auch der friedlichen Revolution) kann sogar u.U. Rechtpopulisten in die Hände arbeiten. Naive Revolutionseuphorie stützt sich wie diese auf die Ilusion der Volksdemokratie.  Ähnliches gilt für den Runden Tisch und die Verabsolutierung der Basisdemokratie, weil diese unterkomplex verregelt sind, und daher in bestimmten Situationen eine gute (Zwischen) oder ergänzende Lösung für den Interessenausgleich sein mögen, nicht aber als Dauereinrichtung für komplexe Systeme geeignet sind. Beides fördert noch nicht Verständnis für den demokratisch- repräsentativ verfassten Rechtssstaat, der die eigentliche Errungenschaft der westlichen (politischen) Kultur ist. Dieser basiert auf der regelbasierten Streit- und Meinungsschlichtung. Nicht auf dem puren Volkswillen, den es in Reinform gar nicht gibt auch wenn dies romantisierend von manchen behauptet wird.

In Argumentationen, die zum Rechtspopulismus tendieren, sind immer wieder eklatante Missverständnisse festzustellen; wie beispielsweise das Beharren auf einzelnen Grundrechten, die es wie z.B. die Demonstrations- und Meinungsfreiheit pur gar nicht gibt, weil Grundrechte fast immer in Konkurrenz zu anderen Rechten bzw. Rechten Anderer stehen. (Würde bzw., Beleidigung, Bewegungsfreiheit, Unabhängkeit des Parlaments, etc.). Derartige Argumentationen lassen auf Defizite bei der politischen Bildung schließen. Das Wissen über Verfassung, Institutionen und die Funktion von Politik scheint teilweise gering ausgeprägt. Sätze wie die "Demokratie ist schlecht, weil es Harz IV gibt" (Peter Sodann während seine Präsidentenkandidatur) offenbaren ein eklatantes Missverständnis über Form und Inhalte von Politik und Staat. Immer wieder ist festzustellen, dass in Ostdeutschland, selbst im ehemaligen Bürgerrechtsmilieu zur Charakterisierung von wirklichen oder vermeintlichen Missständen in der Bundesrepublik auf Begriffe oder Vergleiche der SED-Diktaturkritik zurück gegriffen wird, die missbräuchlich auf die Bundesrepublik übertragen werden. Dies ist -neben dem fehlenden Augenmaß- auch eine Folge der zu geringen Kenntnis von möglichen Interpretationsmustern zur Erkennung und Einordnung der Wirklichkeit. Auch beim  Zurückgreifen auf platte, wiewohl populäre Klischees ("Die da oben", Kritik an „West“-Eliten), die die Rechtspopulisten bedienen, werden auch Klischees der SED-Propaganda unbewusst weitergeschleppt. Selbst manche Aufarbeiter aus dem Bürgerrechtsmilien fremdeln zuweilen mit dem Rechtsstaat, weil sie der basisdemokratischen Utopie nachtrauern und mit B. Bohley beklagen, dass „nur“ der Rechtsstaat, nicht die Gerechtigkeit eingezogen sei.

Um Verständnis für die Mechanismen von Politik und Rechtsstaat zu entwickeln, muss man auch etwas davon verstehen, bzw. etwas über die Zusammenhänge von Recht, Verfassung und Institutionen verstehen. Die Frage wo, wann und wie Menschen in Ostdeutschland überhaupt die Chance hatten, dieses Wissen zu erwerben, ist nicht ausreichend gestellt worden. Unterstellt wurde, dass die Demokratiedefizite durch die friedliche Revolution quasi über Nacht aufgehoben worden seien. Das ging soweit, dass behauptet wurde und wird, die Ostdeutschen seien den Westdeutschen in Fragen der Demokratie überlegen, weil sie eine Revolution durchgeführt hätten. Das ist zu bezweifeln. Mentalitäten und Praktiken, die in einer Diktatur (45 Jahre plus NS) „eingeübt“ wurden, verschwinden nicht einfach. Die meisten Ostdeutschen haben nur eine sehr kurze Phase der Demokratie aktiv mitgemacht. Meist beschränkte es sich auf die Teilnahme an Kundgebungen und Demos. Nur eine kleine Minderheit hat sich der Mühe unterzogen über Jahre im Vorfeld, während der Revolution und in den Umbruchjahren danach bis heute die „dicken Bretter“ der Politik zu bohren. Die Demo allein führt noch nicht zur Konsensbildung, was gerade rechtspopulistisch Tendierende missverstanden haben.

Wo dann hat die formale Demokratiebildung in Ostdeutschland eigentlich stattgefunden? Die heute über 52 jährigen haben sie in der Schule nicht erfahren. Die etwas Jüngeren, sind teilweise/großenteils noch von Lehrern unterrichtet worden, die noch in der DDR ausgebildet wurden, es dort selber nicht gelernt haben. Die alten Antiwestklischees (Demokratie verschleiert die Herrschaft des Monopolkapitals und des Imperialismus) drohen, modifiziert weiter zu existieren. Sie wurden durch Schockerfahrungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sogar reaktualisiert. So erscheint der Arbeitsplatzverlust der 1990er als Folge von westlichen Machenschaften (die es auch gab) und weniger als die eines Globalisierungsschocks, der auf Grund des zeitgleichen Zusammenbruchs des (fast) gesamten Ostblocks zum wirklichen Problem wurde. Nicht selten werden solche Westklischees auch im Rahmen der Aufarbeitung befördert. bzw. umgekehrt durch reflexhafte Zurückweisung nicht wirklich bearbeitet. Die Debatte über die angebliche Zweitrangigkeit der Ostdeutschen laufen Gefahr, derartige Klischees aus SED-Zeiten zu reaktualisieren, statt sie zu „knacken“. Wo es reale Missstände gibt, sind diese zu benennen und zu klären. Die Wertigkeit von Menschen bemisst sich ohnehin nicht an Einkommen, sozialem Status, etc. Das ist Vulgärmarxismus.

Verkürzte Diskussionen über die (angebliche) durchschnittliche soziale (finanziell, wie Elitenaufstieg) Benachteiligung der Ostdeutschen ist in ihrer Undifferenziertheit selbst populistisch und demokratieschädigend. Wer dem aus falsch verstandener Solidarität nach dem Munde redet, sollte wissen, was er tut. Aufklärung/Aufarbeitung heißt auch, unpopuläre Fakten zu benennen und Kontroversen auszutragen. (Ein Teil der Elitendisproportionen liegen an Entscheidungen der Ostdeutschen 89/90, manches liegt auch an Verhalten der Ostdeutschen selber/Aufstiegsmobilität, die gesamtdeutschen regionalen und sozialen Differenzen treten inzwischen in Ost und West auf, und nicht zwischen Ost und West; manches ist nicht einfach durch den Staat zu beheben; man muss damit leben, etc.)

Die Opferszene/Aufabeitungsszene hat es sich in den staatlich geförderten Verbänden und Strukturen teilweise gemütlich wie in einem Vertriebenenverband eingerichtet. Das mag angesichts der Schicksale und des Lebensalters durchaus sinnvoll und berechtigt sein. Mit Aufarbeitung hat die aber oft gehörte kollektive Selbstversicherung, z.B. dass man immer noch benachteiligt sei, während es den Tätern gut ginge, etc., nur wenig zu tun. Mit dem jahrelangen Verweis auf die Defizite der Aufarbeitung und Opferentschädigung ("Es passiert immer noch zu wenig") wurde teilweise die Unzufriedenheit mit dem jetzigen System mit befördert. Wie bei klassischen Lobbyvereinigungen werden oft die eigenen Ansprüche absolutiert. Das Recht des einenen steht aber fast immer in Konkurrenz zu anderen, muss daher, schon wegen des Gleichheitsgrundsatzes gegeneinander abgewogen werden. Auch sollte nicht über die hohen Summen hinweggesehen werden, die international wohl Ihresgleichen suchen, die die Bundesrepublik für die Aufarbeitungs- und Opferentschädigung schon ausgegeben hat. Defizite sind keineswegs zu leugnen und zu beschönigen. Aber sie sollten genau identifiziert und abgebaut werden. Eine pauschale immer währende Litanei über die Defizite der Opferentschädigung läuft Gefahr selber die Demokratieverdrossenheit zu fördern.

Die Forderung nach Dialog, schließt auch ein, dass man selber wirklich zuhört, und Argumente gegenüber ernst nimmt, auch wenn Dinge gesagt werden, die man nicht gerne hören will. (Z.B. zur Ausländerfrage). Das schließt auch ein, dass man sich in Milieus begibt, wo Derartiges geäußert wird und nicht kuschelig unter Seinesgleichen bleibt. Aufarbeitung aber tendiert zuweilen dazu, im eigenen Saft zu schmoren.

Auch die Verunsicherung nach 1990 und der Heimatverlust an Gewohntem sind nicht gleichzusetzen mit dem Hang zu Ostalgie. Dies war (und ist) ein reales mentales Problem, dem sich eigentlich kaum jemand gestellt hat. Dadurch ist parallel zur Aufarbeitung eine Art Verkitschung der DDR-Vergangenheit entstanden. Merkwürdiger Weise gibt es so etwas inzwischen auch in Kreisen von Bürgerbewegten, bei dienen ihr Leben wie das Leben in einer Art idealem Paralleluniversum von widerständiger Kultur und Gruppen erscheint. Aufarbeitung knuffte (zu) lange und dominant aus der Perspektive der „Opfer“ am System der Repression oder noch verengter beim Thema Stasi an, ohne die Komplexität der Herrschaftssicherung der SED, die auch auf Integrationsangeboten beruhte, die angenommen wurden, hinreichend einzufangen. Das Resultat ist die schräge Ostidentitätsdebatte, in der im Wesentlichen zwei Lager tendenziell immer wieder Dasselbe, Verkürzte behaupten.

Die ostdeutsche Bevölkerung entstand (wie die westdeutsche) aus der NS-Diktaturgesellschaft. Sie war vor 1945 mehrheitlich schwarz-braun eingestimmt. (Entgegen dem Klischee vom roten Mitteldeutschland.) Der Zuzug von Flüchtlingen aus den Ostgebeiten dürfte diese völkischen Wurzeln (nicht 1:1 gleichzusetzen mit Nazis) eher verstärkt haben. Trotz oder wegen des schematischen Antifaschismus der DDR überlebten unverarbeitete Reste dieser Mentalität. Rechte Ideologen, die im Westen scheiterten, versuchen daran anzuknüpfen. Da die Aufarbeitung lange Zeit auf die Zeit nach 45/49 fixiert war, hat sie diese doppelte Prägung unterschätzt.

Das Verhältnis vieler Ostdeutscher zu Russland kann teilweise an Traditionen der deutschen Rechten anknüpfen, die seit Apollo versuchte, mit Hilfe von Sowjetrussland wieder zu erstarken (s. Berlin Babylon). Das ist das Konzept von Nationalisten bis heute, die zugleich fasziniert vom russischen Autoritarismus sind. Der "Russen"-Mythos (Freunde) wurde nach der Befreiung vom NS von der SED weitergeführt und wirkt offenbar weiter nach. Dieses Thema wurde unterschätzt und wurde auf Grund der primär innenpolitischen Fixierung der Aufarbeitung selten bearbeitet. Ohnehin läuft die starke innenpolitische oder gar regionale Fixierung der Aufarbeitung Gefahr, einen Provinzialismus zu befördern, was in der globalisierten Welt riskant ist. Auch das Thema Europa kam in der postsozialistischen Aufarbeitung zu kurz. Es gibt ein subkutanes nationales Narrativ in der Aufarbeitung. (Deutsche Einheit)

Der Medienkonsum in Ostdeutschland funktioniert vollkommen anders. Die traditionellen altbundesrepublikanischen sogenannten Qualitätsmedien, die bei aller Unterschiedlichkeit auch zur Konsensbildung in den die Republik tragenden Gesellschaftsschichten (manchmal sogar übertrieben wie 2014) beitragen, werden in Ostdeutschland deutlich unterproporitional rezipiert. Wie wird darauf reagiert? Wie auf die Fragmentierung des Medienkonsums durch social media?

Die dauerhafte, teilweise rückwärts gewandte, sogar ahistorischen Kritik an der SED und ihren Mitgliedern kann dazu führen, dass übersehen wird, dass (inzwischen) Teile der Linken, zumindest nicht wenige Einzelpersonen, inzwischen aktive Träger der parlamentarischen Demokratie sind. Das heißt ja nicht, dass man ihre parteipolitische Position teilen muss.

Aktive Beteiligung in Vereinen, Stiftungen spiegeln staatliches Handeln und staatlichen Politik im Kleinen. Regelbasierte Abstimmungen und Konsensfindung werden hier auf mehr oder minder zivile Weise eingeübt. Im Osten ist die ehrenamtliche Betätigung deutlich geringer. Berücksichtigt dies die Aufarbeitung/Politische Bildung? Statt die Selbständigkeit zu stärken, bedient die Aufarbeitung zuweilen selbst paternalistisch die Unselbständigkeit ihrer Klientel. (Ruf nach staatlicher Opferalimentierung, etc., Überversorgung). Die zweifelsohne anzutreffende kritisch-distanzierte Haltung von Teilen von Ostdeutschen (Klischee vom "Jammerossi") hat mit vordemokratischen Verhaltensweisen zu tun. Das unmündig gehaltene Volk zeigt sich immer unzufrieden, um die Herrschenden zu sozialen Zugeständnissen zu zwingen. Dies ist aber nicht die Haltung in einer Demokratie, wo Interessen artikuliert und offen ausgehandelt werden. Fördert Aufarbeitung dies?

Aufarbeitung hat auch und gerade mit Selbsterkenntnis und Änderungsbereitschaft gegenüber Verhaltensweisen zu tun, die in einer Diktatur "eingeübt" wurden. (Adorno) Kurioser Weise scheint das für "Täter" und "Opfer" gleichermaßen zu gelten, da beide Gruppen oft Schwierigkeiten haben, sich in den freiheitlichen Verhältnissen zurechtzufinden. Anstelle von Aufarbeitung kann auch der Begriff Aufklärung verwendet werden. Aufklärung tut manchmal weh, hat aber noch nie jemandem geschadet. Sie ist wie eine gute Medizin, die sowohl zu therapeutischen Zwecken als auch prophylaktisch verabfolgt werden kann. Heutzutage ist vor allem Diktaturprophylaxe angesagt.

Die Begrenzung der bürgerlichen Freiheiten in der DDR hat (auch in der politischen Bildung/Aufarbeitung) dazu geführt, dass es eine gewisse Scheu gibt, gegenzuhalten, wenn undemokratische Weisheiten geäußert werden. Oft gibt es auch Verbundenheiten aus alten Zeiten, als man noch gemeinsam gegen das System kämpfte, die davor zurückschrecken lassen, Positionen oder gar Personen zu kritisieren, die sich am extremen Rand bewegen. Allerdings hat Demokratie nur eine Chance, wenn sie auch die Grenzen dessen markiert, was tolerierbar ist. Es geht nicht darum, jemandem vorzuschreiben, wo er die Grenzen von Ausländerzuzug oder die Höhe der Gewerbesteuer anzusetzen hat, was er über die EU-Bürokratie oder den Euro oder die oder jene Anticoronamaßnahme oder die Tüpfelchen auf dem I denkt. Die Meinungsgrenzen können und sollen durchaus weit gesteckt sein, aber ohne den Verweis auf den Kategorischen Imperativ, dass jeder tunlichst das unterlassen sollte, was andere schädigt und entsprechende Regeln funktioniert ein demokratischer Rechtsstaat nun mal nicht. Auch der Verweis auf pädagogische Prämissen, wie den Beutelsbacher Konsens (der nie der Stein der Weisen, sondern eine Notlösung war) erlaubt es der politischen Bildung nicht hier wegzuducken. Auch das altbekannte Argument, man könne die Aufarbeitung nicht (allein) für die gesellschaftlichen Probleme verantwortlich machen, ist eine Binsenweisheit, die nicht davor schützt, sich Gedanken über die Herausforderungen der Demokratie zu machen.