„Hat die Aufarbeitung versagt?“

Antwort

Von Dr. Martina Weyrauch, Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Oktober 2023

 

Warum beschäftigen wir uns mit einem untergegangenen Staat? Warum fragen wir nach den Ursachen, der Geschichte und den Folgen der Diktatur in SBZ und DDR. Warum fragen wir, welchen Platz das im internationalen Maßstab hatte?

Es geht zum einen um die Benennung von Unrecht. Insbesondere die Opfer der kommunistischen Diktatur können mithilfeder Akteneinsicht ihr Leben neu bewerten.Darauf aufbauende gesetzliche Regelungen tragen dazu bei, dass das an ihnenausgeübte Unrecht öffentlich benannt und anerkannt wird. In nicht wenig Fällen greifen auch materielle Unterstützungen.

Es geht zum anderen um die Chancen zur Erkenntnis und Einordnung. Menschen, die in der SBZ und der DDR gelebt haben, egal in welcher Rolle sie sich sehen und gesehen haben, können ihr Leben besser einordnen. Alle Akteure, nicht nur in Ostdeutschland, können durch die geschichtliche Aufarbeitungheute darüber nachdenken, wie sie sich aktiv in die Gestaltung einer freiheitlichen Demokratie als Gegenentwurf zur Diktatur einbringen können und aktiv werden.

Wichtig ist auch, dass die kommunistische Diktatur als eine gesellschaftliche, ökonomische und politischeFehlentwicklung internationaler Dimension begriffen wird. Gemeinsam mit anderen Institutionen und zahlreichen Partnern – nicht nur in Ostmitteleuropa – gibt es aus diesem Grunde eine große Verbundenheit, Austausch und Zusammenarbeit. Internationale aktuelle Entwicklungen können durch die Erkenntnisse der Aufarbeitung besser beurteilt und beeinflusst werden.

Die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 waren ein herausragendes Ereignis in der deutschen und europäischen Demokratiegeschichte. Das zu vermitteln, ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Die DDR ist nicht nur strukturell, demokratiegeschichtlich und menschenrechtlich zerbrochen, sondern vor allem wirtschaftlich. Die Wiedervereinigung Deutschlands federte, gesamtgesellschaftlich betrachtet, finanzielle Härten ab, aber führte auch dazu, dass insbesondere westdeutsche und internationale Investoren die sich bietenden wirtschaftlichen Chancen nutzen konnten.

Aus Mangel an Kapital und anderen Ressourcen konnte die Mehrheit der Ostdeutschen da nicht mithalten. Die Wirtschaft und die Gesellschaft wurden radikal umgebaut. Es handelte sich um sehr tiefe Einschnitte.Dieser Prozess war alles andere als friedlich. Dieser Umstand und die damit verbundenen objektiven Ungerechtigkeiten führten mehrheitlich nicht zum Stolz auf das Erreichte und nicht zum Bewusstsein, welche großen Kraftanstrengungen, jeder Einzelne erbracht hat. Die Demütigungen in diesem Prozess werden im Gegensatz zur errungenen Freiheit von vielen Ostdeutschen noch heute als dominant empfunden.

 

Wir leben in einem freiheitlichen Staat, der Erkenntnisse nicht oktroyieren kann. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht nur die Chancen, sondern auch die Zumutungen der Freiheit von jedem Einzelnen getragen werden müssen. Der Weg von einem fremdbestimmten Untertanen zu einem selbstbestimmten Staatsbürger ist steinig. Die einen erfüllt es mit Freude, die anderen sehnen sich nach den vermeintlich sicheren Fleischtöpfen Ägyptens. Das müssen wir aushalten und, mit dem Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde gesagt, müssen wir auch hier anerkennen: „(dass) der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen (lebt), die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ (Böckenförde-Dilemma)

 

Das heißt, wir können nichts erzwingen. Kein Tempo der Erkenntnis und schon gar nicht ein vermeintlich adäquates staatsbürgerliches Verhalten. Diese Erwartungen wären wieder ein obrigkeitsstaatliches Herangehen und verfehlten die freiheitliche Intention unserer Gesellschaft.

 

Wenn wir von unserem Ziel der Aufarbeitung und Aufklärung überzeugt sind, können wir nur weitermachen. Weiter Forschen, Informieren, Fördern, Vernetzen und Ermutigen, vielleicht sogar uns selbst.