Vom Pragmatiker- zum profilierten Präsidenten mit Kriegsrechtsvollmachten

für H-und.G.info exklusiv zu Selenskyjs 5 Jahren Präsidentschaft

von Denis Trubetskoy[1]

Als Politikneuling Wolodymyr Selenskyj, ein A-Promi als Schauspieler, vor allem aber auch ein erfolgreicher Fernsehmanager, Ende Mai 2019 als ukrainischer Präsident antrat, hätte er sich kaum vorstellen können, was ihn in den nächsten Jahren erwartet. Im Wahlkampf hat er ganz klar die euroatlantische Integration befürwortet, wirkte jedoch fast wie das Gegenteil der patriotischen Agenda des Amtsvorgängers Petro Poroschenko mit dem Wahlslogan "Armee! Sprache! Glaube!" Selenskkyj sprach sich im seltenen langen Interview mit dem Journalisten Dmytro Hordon sogar dafür aus, sich bezüglich des seit 2014 andauernden Krieges im Donbass mit Russland "irgendwo in der Mitte" finden zu wollen.

Doch das mit einem "Kompromiss in der Mitte" im Donbass-Krieg erwies sich noch vor seiner offiziellen Amtseinführung als schwierig. Nur wenige Tage nach dem fulminanten Sieg Selenskyjs über Poroschenko mit fast 73 Prozent in der Stichwahl unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin ein Dekret, demzufolge die Bewohner der besetzten Teile der Regionen Donezk und Luhansk ohne besondere Schwierigkeiten einen Anspruch auf einen russischen Pass hätten. Darauf folgte die Massenausgabe von russischen Pässe, die ganz klar gegen den Sinn des ohnehin schwierigen Minsker Prozesses verstieß, die formell eine Reintegration der Gebiete in den ukrainischen Staat angestrebt hatte. Ob es der Kreml damit jemals ernst gemeint hatte, steht auf einem anderen Blatt.

Jedenfalls stellte Putin Selenskyj aber noch vor dem Amtseintritt angesichts seiner Friedensambitionen zu Hause massiv unter Druck. Denn obwohl in Teilen der ukrainischen Gesellschaft nach fünf Jahren des Donbass-Krieges durchaus eine gewisse Kompromissbereitschaft vorhanden war, bedeutete dies keinesfalls die Bereitschaft zur faktischen diplomatischen Kapitulation. Außerdem lehnte rund ein Fünftel der ukrainischen Bevölkerung sjegliche Gespräche mit Russland ab – und dieses Fünftel deckt sich eher mit dem politisch aktiven Teil der Gesellschaft, der gerne an Demonstrationen teilnimmt und bei den Wahlen 2019 eher für Poroschenko abstimmte. Trotzdem hat es Selenskyj mit seiner oft als naiv abgestempelten Friedenspolitik ernst gemeint. Er stimmte riskanten Truppenrückzügen zu, bei denen es unklar war, ob die andere Seite Gleiches tut und sich an Vereinbarungen hielte. Es fanden zum ersten Mal seit Längeren wieder Gefangenenaustausche statt – und ab Sommer 2020 hielt der Waffenstillstand im Donbass ein halbes Jahr weitgehend, was zuvor in dieser Art nie vorgekommen ist.

Eine Chance auf die vollständige Lösung des Donbass-Krieges gab es spätestens nach der Entscheidung Putins zur Pässeausgabe nicht. Die grundsätzliche Chance auf eine langfristige, feste Waffenruhe existierte aber durchaus. Von Russland war diese aber offenbar nicht gewollt. Auf den Waffenstillstand von 2020 folgte Anfang 2021 der erste große Truppenaufmarsch der russischen Armee an der ukrainischen Grenze.

Am 24. Februar 2022 begann dann die Geschichte des Kriegspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, der trotz Evakuierungsangeboten und mehrer Anschlagsversuche von russischen Attentätern in Kiew blieb und damit zu einer Schlüsselfigur der ukrainischen Verteidigung wurde – obwohl er noch kurz vor dem russischen Angriff die Möglichkeit eines großen Krieges stets öffentlich bezweifelt hatte. Der 24. Februar 2022 teilte seine Amtszeit, die aufgrund der ausgesetzten Wahlen wegen des Kriegsrechts trotz des Ablaufens der fünfjähren Wahlperiode im Jahre 2024 weitergeht, auf die Zeit vor und danach.

Vor dem vollumfänglichen Krieg hatte Selenskyj als Präsident sicher seine Verdienste. Erst unter ihm konnte die Ukraine endlich ihren Markt öffnen, bei der Digitalisierung hat das Land einen massiven Schritt nach vorne gemacht – und nicht zuletzt dies half der Ukraine stark, den Umständen entsprechend gut durch die Covid-Pandemie zu kommen. Allerdings waren die ersten Personalentscheidungen Selenskyjs oft suboptimal – und daher ist es alles andere aus überraschend, dass aus seiner ursprünglichen engsten Umgebung kaum noch jemand geblieben ist. Dass seine unternehmerischen Weggefährten aus der Fernsehzeit nicht zwingend automatisch für den Staatsdienst taugten, zeigte sich alsbald in der Praxis.

Vor allem hat sich aber die Idee, eine eigene Partei ausschließlich mit Menschen ohne Erfahrung in Parlamenten zu besetzen, als beinahe katastrophal erwiesen. Die Liste "Diener des Volkes" wurde für die vorgezogenen Parlamentswahl im Juli 2019 binnen kürzester Zeit eher zufällig zusammengestellt, holte aber dann die absolute Mehrheit bei den Wahlen. Diese ist aber längst vor allem virtuell, denn unterschiedliche kleinere Gruppierungen innerhalb der Fraktion können einander teils kaum leiden, was selbst unter Kriegsumständen die Entscheidungsfindung oft schwierig gestaltet. Außerdem waren Selenskyjs Emotionalität und Impulsivität sowohl vor als nach dem Beginn des großen Krieges gleichzeitig je nach konkreter Situation sein Vor- wie auch sein Nachteil.

Ein herausragender Präsident war Selenskyj vor dem 24. Februar 2022 also nicht. Dass ihm -Stand Anfang 2022- laut einer Umfrage des renommierten Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts (KIIS) schon 52 Prozent der Ukrainer nicht mehr vertrauten, hat aber überwiegend eher mit der turbulenten demokratischen Tradition des Landes zu tun, in dem ohnehin nur ein Präsident zuvor für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde und wo schon nach einem halben Jahr die Umfragewerte von so gut wie jedem Staatsoberhaupt massiv fallen. Außerdem waren einige der Selenskyj-Wähler explizit dadurch enttäuscht, dass Selenskyjs Abkehr von der national orientierten Poroschenko-Agenda gar nicht so groß war. Dass dies nicht mit der Angst vor Demonstrationen des entsprechenden politischen Lagers, sondern auch mit der Politik von Wladimir Putin zu tun hatte, wollten bis zur  russischen Invasion viele nicht sehen.

Der jüngsten, in diesem Mai durchgeführten, KIIS-Umfrage zufolge vertrauen Selenskyj aktuell 59 Prozent der Ukrainer. Im Mai 2022 betrug dieser Wert astronomische 90 Prozent, im Dezember 2023 lag er bei 77 Prozent. Einerseits ist hier der Negativtrend klar zu erkennen. Andererseits sind 59 Prozent nach fünf Jahren immer noch Werte aus dem Bereich von Science Fiction für jeden ukrainischen Präsidenten – und bleiben aufgrund der ukrainischen Politkultur, die durchaus dem alten Sprichwort "zwei Ukrainer, drei Anführer" entspricht, selbst unter Kriegsumständen recht bemerkenswert. Doch wie ist diese Entwicklung im Allgemeinen zu bewerten?

Dass die Vertrauenswerte für Selenskyj nicht sehr lange bei 90 Prozent bleiben können, war von Anfang gesetzt. Der Gesellschaftsteil, der ihn vor dem 24. Februar 2022 kategorisch ablehnte, erkannte zwar seine Leistung zu Kriegsbeginn an, hat daher Selenskyj eine Weile lang toleriert und die Kritik vor allem auf seinem mächtigen Stabschef Andrij Jermak konzentriert. Dass dieser Zustand nicht unendlich lange währen konnte. Doch mittlerweile gehen die Gründe selbstverständlich darüber hinaus. Die wohl nicht grundlose, aber nicht gut kommunizierte Entlassung des beliebten Armee-Befehlshabers Walerij Saluschnyj, das schwierige Mobilisierungsthema, welches mit der Zeit natürlicherweise mehr Menschen ohne Militärhintergrund betrifft, die schwierige Situation an der Front, die unvermeidbare Steuererhöhung – einige von diesen Faktoren sind hauptsächlich eher der bitteren Realität statt Selenskyjs Politik geschuldet, werden aber natürlich mit dem Präsidenten assoziiert.

Die Verantwortung dafür kann Selenskyj jedoch mit kaum jemand teilen. Einerseits, weil er persönlich nur einem sehr kleinen Kreis gänzlich vertraut, den er selbst bei einer seiner Pressekonferenzen als "meine fünf-sechs Manager" bezeichnete. Dabei legt er offenbar besonders großen Wert auf Menschen, die in den ersten Kriegstagen mit ihm in Kiew geblieben sind. Das ist zwar einerseits verständlich, andererseits handelt es sich teilweise um Figuren, deren Effektivität zu Recht in Frage steht.

Regieren unter Kriegsrecht unterscheidet sich allerdings gar nicht so stark von der normalen Situation. Selenskyj hat z.B. nicht das Recht, einen Minister zu entlassen oder zu ernennen . In beiden Fällen muss das Parlament immer zustimmen. Das gilt auch für die Ministerposten, bei denen der Präsident gemäß seiner Verfassungskompetenzen das Vorschlagsrecht hat (Verteidigungs- und Außenminister). Insgesamt ist die Ukraine ja eine semipräsidentielle Republik, wo das Parlament auf die eine Art wichtig ist, wobei sein Anteil in der Praxis immer schwer zu bestimmen ist. Weil Selenskyjs Partei nämlich bei den letzten Wahlen die absolute Mehrheit holte, ist das Machtzentrum de facto stark im Präsidentenbüro angesiedelt. Aber, diese absolute Mehrheit gibt es nur auf dem Papier. Bei richtungsweisenden Abstimmungen wie zum Beispiel bei der Mobilisierungsreform, bei der mehr Bürger zur Armee gezogen werden können, findet sich meist eine Mehrheit. Aber in einem solchen Fall reichen die Stimmen der Selenskyj-Partei „Diener des Volkes“ alleine meist nicht. Bei anderen Themen kann es durchaus passieren, dass der Präsident sich im Parlament nicht durchsetzen kann.
Die Governeure werden vom Präsidenten ernannt und entlassen, da kommen etwa Oppositionsvertreter eher ohnehin nicht in Frage. Bei den inzwischen häufigen  Auswechslungen ist es dann oft so, dass die Leute danach eine andere Position übernehmen. Für Selenskyj ist es im Allgemeinen typisch, dass das Personal häufiger rotiert, ohne man damit dann quasi aus seinem Team ausscheidet.

Konflikte und Schwierigkeiten gibt es eher mit einigen Bürgermeistern, die ja direkt gewählt werden und die haben einen unterschiedlichen politischen Hintergrund. Wladimir Klitschkow z.B. der Bürgermeister von Kiew macht seinen Job nicht immer gut. Außer in den internationalen Medien findet er in der Ukraine kaum Resonnanz.

Eine Alternative zum derzeitigen System, eine Art "Regierung der nationalen Einheit", kommt realistischerweise kaum in Frage – aufgrund von vielen Faktoren. Die im Parlament vertretene Opposition um Politikveteranen Petro Poroschenko und Julija Tymoschenko wirkt wie aus der Zeit gefallen. Sie gehören zu den Politikern mit dem größten Antirating in der Ukraine. Auch der Kiewer Bürgermeister Witalij ist eher eine politische Randfigur mit einem Präsidentschaftsrating von rund einem Prozent. Und es ist vollkommen klar, dass beispielsweise die nationalorientierte Richtung von Poroschenko eines Tages von völlig anderen Figuren übernommen werden wird, deren Namen die Ukrainer womöglich noch gar nicht kennen.

So bleibt Selenskyj, der seinen Namen in die ukrainische Geschichte schon jetzt fest eingeschrieben hat, bei allen starken und schwachen Seiten zunächst einmal als einigende Person beim Widerstand der russischen Aggression alternativlos. Erst in der Zeit nach dem Krieg dürfte sich dies massiv verändern.

Trotz der derzeit unangefochtenen Stellung Selenskyjs und obwohl die Wahlen wegen des Krieges ausfallen müssen, ist das Land nicht vollkommen ohne Kontrollinstanzen. Die Opposition ist zwar auf Grund ihrer Zerstrittenheit schwach. Auch ist es fragwürdig, dass ukrainische Nachrichtensender weiterhin verpflichtet sind, rund um die Uhr eine gemeinsam produzierte Dauernachrichtensendung- den Telemarathon-auszustrahlen. Trotz der strengen Zensur in rein militärischen Fragen leisten die unabhängige Medien wie auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk Suspilne kritische Arbeit und glänzen mit Korruptionsrecherchen. Eine von solchen führte im September 2023 zur Auswechslung der gesamten Führung im Verteidigungsministerium. Sie ist ein gutes Beispiel für die zivile Kontrolle auch unter Kriegsrecht. Für die Weiterentwicklung der demokratischen Konttolle in der Zeit nach dem Krieg muss die Ukraine erstmal überleben.

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[1] Politischer Korrespondent, Kiew, Ukraine