Frau Querfront – Chancen des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“
Von Erhardt Stölting[1]
Die frisch gegründete Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) stellt sich mit der Europawahl zum ersten Mal der deutschen Wählerschaft. In Umfragen liegt sie mit 7% vor der Linkspartei und der FDP. Das ist für eine so junge Partei wacker, aber nicht überwältigend. Es zeigt an, dass es nach deren Positionen eine substanzielle aber nicht überwältigende Nachfrage gibt.
Die prominente und viel gescholtene Sahra Wagenknecht selbst kandidiert nicht. Die Spitzenkandidaten sind der ehemalige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi (44), der vor allem durch seine Aufklärungsarbeit im Cum-Ex- und im Wirecard–Skandal bekannt wurde und der keineswegs erfolglose ehemalige SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf, Thomas Geisel (60).
In den ostdeutschen Bundesländern wird das BSW besser abschneiden als im Westen, vor allem durch frühere Wähler der Linkspartei. Auch solche früheren AfD-Wähler werden zum BSW wechseln, denen der Wandel zur extremen Rechten unbehaglich ist. Ihre Wähler werden sich auch unter jenen mit traditionell linker Orientierung finden, also Älteren, denen der Kampf um historische und soziale Gerechtigkeit durch Veränderung und Überwachung von Begriffen und Grammatik gleichgültig oder peinlich ist. Die Bildungsbürgerin Wagenknecht steht dafür mit ihrer Person ein. Die Zustimmung wird vor allem von jenen kommen, die im Ukraine-Krieg Bemühungen um Verhandlungen für erforderlich und möglich halten.
Es gibt auch Faktoren, die einem größeren Erfolg des BSW entgegenwirken. Schon die Bezeichnung „BSW“ kann sensible Personen als eine Art Personenkult abschrecken. Sahra Wagenknecht weckt – auch ihrem eigenen Wunsch entsprechend – Zustimmung primär über politische Aussagen. Sie, wie ihre Partei, wecken keine charismatische Zustimmung. Die Parteichefin bedenkt bisher sehr sorgfältig die ästhetischen und geschmacklichen Wirkungen ihrer öffentlichen Auftritte. Der Namen „BSW“ hat sie ausdrücklich als „vorläufig“ bezeichnet. Potenzielle Wähler fänden ihre Partei so leichter auf dem langen Stimmzettel der Europawahl, als über eine gut gemeinte Bezeichnung, die noch niemandem vertraut ist. Nach der Europawahl, werde der Parteiname verändert.
Jede neu auftauchende Partei wird von den bereits etablierten als überflüssig, ja schädlich und gefährlich charakterisiert. Beispiel dafür waren die Grünen. Nahezu geglückt war nach der Wende 1989 die lange Umgründung der SED über die PDS hin zur Linkspartei gewesen. Mit massiver Ablehnung bis hin zu persönlichem Hass muss sie zu rechnen haben.
Die Gründung, das rasche Wachstum und die rasante Entwicklung der AfD zu einer rechtsextremen Partei ist für das BSW ein warnendes Beispiel. Die politisch konservative, ökonomisch eher neoliberale Professorenpartei, die die nationale Finanzpolitik der alten Bundesrepublik in der EU durchzusetzen hoffte, wurde durch den erheblichen Zustrom von Neumitgliedern zu einer rechtsextremen Partei, aus der die meisten Gründer sich enttäuscht zurückzogen oder hinausgeekelt wurden und in die politische Bedeutungslosigkeit verschwanden.
Auf diese Gefahr reagiert das BSW von Anfang an. Die Mitgründer waren Sahra Wagenknecht aus der Politik vertraut; sie verfügten über Erfahrung in der politischen Alltagsarbeit und teilten ihre politischen Orientierungen. Sie sollten die, nach Wagenknechts eigener Wahrnehmung, eigenen fehlenden praktischen organisatorischen Fähigkeiten kompensieren. Daher wurde der Aufnahme neuer Mitglieder eine gründliche und lange Überprüfung vorgeschaltet, um eine ungewollte Entwicklung, wie im Falle der AFD, zu vermeiden. Es könnte sein, das diese Vorsicht den Aufschwung des BSW nach der Europawahl weiter abbremst.
In der medialen Wahrnehmung erscheinen die Positionen Wagenknechts bzw. des BWG als zwischen rechts und links schwankend: sozialpolitisch, in der Einwanderungspolitik, der EU-Politik und im Verhältnis zur Umgestaltung der Gesellschaft durch Umformung von Sprache und Kultur als nationalistisch und konservativ – der Schärfe der Auseinandersetzungen entsprechend, zuweilen gar als tendenziell faschistisch. Die heftigste Abneigung aber trifft Wagenknecht aber für ihre Position zu Russland und den Ukraine-Krieg. Als angebliche „Putin-Versteherin“ widerspricht sie hier dem parteiübergreifeden Konsens der deutschen Parteien und Medien. Sie erscheint als Parteigängerin derer, die die westlichen, europäischen Werte zerstören wollen. Sie erscheint damit letztlich als die Feindin schlechthin.
Man muss dabei mitbedenken, dass die Positionen des BSW in der deutsche Öffentlichkeit sehr minoritär sind. Bei so emotionalisierten Spannungen ist nicht überraschend, dass Gegner stets als intellektuell sei es schwach oder verblendet, vor allem jedoch als moralisch verkommen präsentiert werden – ein Vorwurf der vielfach nicht unberechtigt sein muss. Das Gegenteil wäre verwunderlich.
Putin und Russland
Dass es Russland war, das die Ukraine überfiel, dass die entsprechenden Greuel, der russischen Armee zuzurechnen sind, dass Russland unter Putin zu einer totalitären Diktatur geworden ist, dass Putin als ehemaliger KGB-Offizier eine entsprechende kriminelle Mentalität besitzt – all das bestreitet auch Wagenknecht nicht. Gleichwohl wird ihr zugeschrieben „Putinversteherin“ zu ein.
Auch deutsche Beobachter mit sozialwissenschaftlicher oder historischer Vorbildung gehen mit dem Wort „verstehen“ umgangssprachlich um, als ob ihnen Max Webers Schriften unbekannt seien. Tatsächlich bedeutet „verstehen“ umgangssprachlich, sich so in jemanden hineinzuversetzen, das man dessen Gefühle und Orientierungen übernimmt. Ein „Putinversteher“ ist also jemand, der sich von den Begründungen, die der russische Präsident für seine Untaten vorbringt, überzeugen lässt. In einem anderen Sinne bedeutet „verstehen“ allerdings nachzuvollziehen, was jemand, etwa eine historische Persönlichkeit, intendiert, wie sie ihre Intentionen begründet, wodurch ein bestimmten menschliches Handeln – auch verbrecherisches oder irres – zu erklären sei. Das entsprechende „Verstehen“ ist also Resultat einer Interpretation, die auch unplausibel oder falsch sein kann. Vor allem bedeutet es nicht „zustimmen“. Die Antwort auf die Frage, warum ein Mörder gemordet hat, ob aus Liebe, aus Geldgier, aus Ruhmsucht oder um Gott zu gefallen, kann relevant sein. Sie aber nicht mit moralischer Zustimmung gleichzusetzen.
Allerdings nützt es Wagenknecht wenig, wenn sie den dominanten Beschreibungen des russischen Krieges zustimmt. Entscheidend ist, dass die Reaktionen, die Wagenknecht – und mit ihr das BSW – fordern, der dominanten Einstellung widerspricht. Das Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine, das Ende der Sanktionen gegen Russland, den Bezug billiger Energie über bestehende bzw. reparable Pipelines zu fordern, setzt sie der Anschuldigung aus, der Zerstörung der Ukraine und in der Konsequenz die der EU gut zu heißen. Die Verhandlung mit einem verstockten Verbrecher ist danach selbst verbrecherisch.
Dagegen steht der Einwand, man habe, um Zerstörungen und Massenelend zu beenden oder zu vermeiden, immer schon auch mit Verbrechern verhandeln müssen. Lügen, Täuschungen und Vertragsbrüche gehörten seit jeher zu internationalen Auseinandersetzungen. Die politische Kunst bestand darin, mit ihnen umzugehen; Fehleinschätzungen die zu leugnen oder zu vertuschen sind, hat es ebenfalls immer gegeben.
Die westliche Gegenrede besteht überwiegend und je nach Autor aus dem Hinweis auf den kriminellen Charakter des russischen Präsidenten, der russischen Führung, des russischen Volkes oder der russischen Geschichte seit Jahrhunderten. Putin, brauche ja nur die Truppen zurückzuziehen, Kriegsverbrecher der internationalen Justiz zu übergeben und die geforderten Reparationen leisten. Das Argument ist unwiderleglich. Die russische Gegenposition lautet: Die NATO-Mächte müssten nur ihre Militärhilfen einstellen, der russischen Armee ermöglichen, in der Ukraine auf ihre Weise für Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit zu sorgen und die Schuldigen zu bestrafen und schon herrsche Frieden. Beide Seiten, die westliche ebenso wie die russische setzen auf Sieg.
Schon diese Konfliktlage macht Wagenknechts Forderungen unrealistisch. Auch ihr Argument, jeder Krieg ende mit Verhandlungen, ist unvollkommen. Kriege enden zwar meistens mit Verhandlungen, aber erst nachdem eine Seite gesiegt hat und die Friedensbedingungen gestalten kann. Das Motiv Wagenknechts, das Grauen des Krieges zu beenden, ist gewiss menschenfreundlich. Das ist jedoch auch das ausdrückliche Motiv ihrer Gegner, mit der Variante, dass zuvor die anderen ihre Siegeszuversicht eingebüßt haben.
Hinzukommt ein moralisches Moment. Aus westlicher Sicht zwingt die berechtigte Empörung über die russischen Kriegsverbrechen den Westen dazu, die Ukraine so lange mit geeigneten Waffen militärisch zu unterstützen, bis sie gesiegt hat. Der westliche Sieg ist sicher, weil der Westen im Recht ist und sorgfältig auf die im 20. Jahrhundert vereinbarten Regelungen achtet. Auch gegen Bedenken gilt daher die Furcht einer Ausweitung ´des Krieges vielfach als erbärmliche Feigheit. Seit Homers Trojanischem Krieg haben sich zwar die Waffen, kaum jedoch die Bewertungen Feigheit, Tapferkeit und Kriegsruhm verändert.
Dies nicht mit ins Kalkül zu ziehen, ist sicherlich eine Schwäche der Position Wagenknechts, die auch ihre Wahlergebnisse negativ beeinflussen wird.
Immigration
Die Äußerungen Wagenknechts zur Asyl- und Flüchtlingespolitik, boten die Möglichkeit die neue Partei in die Nähe der AfD zu rücken, wie generell jeder Hinweis auf Probleme von Migration und religiösem Enthusiasmus, der Vorwurf „rechtsextremistisch“ zu sein, auf sich zog. Tatsächlich fordert das BSW Zuzugsbeschränkungen. Das war ein Grund, weshalb aus der AfD werbende Töne an Wagenknecht gerichtet wurden, die diese allerdings zurückwies. Die Begründungen des BSW waren ausschließlich praktisch. Die Bundesrepublik sei durch den Zustrom in die Sozialsysteme nachweislich finanziell und organisatorisch überfordert.
Ausdrücklich distanzierte sich Wagenknecht immer wieder von dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit. Es hat ihr nichts genützt. Bei einer Partei, deren bisheriges Führungspersonal einen mehrheitlich migrantischen Hintergrund hat, kann das merkwürdig anmuten. Wagenknecht selbst hat ihrem eigenen Zeugnis nach als Tochter eines persischen Vaters in ihrer Jugend hinreichend rassistische Erfahrungen gesammelt.
Das BSW fordert, jene Migranten, die sich bereits im Lande befinden, in Würde und Freundlichkeit zu integrieren. Wirklich vor Verfolgung Geflohene sollten wie bisher Asyl bekommen. Allerdings solle die übrige Zuwanderung, auch die von fehlenden Fachkräften, begrenzt werden. Die Anstrengungen der Herkunftsländer sollten nicht durch einen Brain Drain torpediert werden. Die Bundesrepublik könne lieber ihr marodes Bildungssystem reparieren. Generell seien aber die Bemühungen von Migranten um ein besseres Leben zutiefst menschlich und alles andere als verwerflich. Das Land könne sie ab einer bestimmten Anzahl nur nicht mehr verkraften.
Dass das BSW mit dieser Argumentation vielfach als „rechts“ gekennzeichnet und in die Nähe der AfD gerückt wird, resultiert wahrscheinlich wie das Verhältnis zum Krieg aus einem diskursiven moralischen Dilemma: Das Zurückweisen von Menschen, die Hilfe brauchen, ist moralisch überzeugender, wenn man die Ursache der Abweisung bei den Abgewiesenen selbst lokalisiert – sie etwa als Verbrecher, Vergewaltiger, Schmarotzer usw. charakterisiert.
Bei einer aufnahmefreundlichen Position liegt es nahe, das Dilemma zu leugnen –Staatsschulden lassen sich etwa durch Inflation reduzieren. Die Strategie, auf das Dilemma zu verweisen, also Flüchtlinge zurückzuweisen, obwohl ihre Anliegen berechtigt und verständlich sind, ist keine Strategie, die Wahlsiege verspricht. Die Position Wagenknechts liegt also quer zu den beiden gegensätzlichen und erfolgsversprechenden Strategien von Rechtsextremen einerseits und den etablierten öffentlichen Meinungen andererseits. Das BSW macht sich so immer wieder von beiden Seiten her angreifbar. Von der einen Seite erscheint es als rechtsextreme Partei mit etwas traditionell linker Tünche. Es bemüht sich zwar, sich gegen diese Sicht zur Wehr zu setzen und zu argumentieren, aber jede Talkshow zeigt, dass dieses Bemühen aussichtslos ist. Die gleichen Vorwürfe werden immer wieder vorgebracht. Eine komplexere Situationsbeschreibung ist eben stets unbefriedigend.
Diese sich wiederholende Konfliktsituation sollte aber nicht als rein kommunikatives Problem gesehen werden. Sie ist fester Bestandteil von asymmetrischen Situationen und spiegelt zugleich die Auflösung traditioneller politischer Lager. Die traditionelle Linke verliert vor allem in den akademisierten Mittelschichten das Attribut „links“, wenn sie nicht die mit der Entwicklungen der Genderpolitik, des Postkolonialismus usw. Schritt hält.
Die kulturell sich als progressiv und damit historisch überlegen verstehenden Richtungen sind hingegen in den Mittelschichten der westlichen Gesellschaften, also auch in denen der EU und in jenen, die sich ihr anschließen werden, dominant. Als sich „links“ verstehende Tendenzen beanspruchen sie zugleich progressiv zu sein, also die einst in Europa ersonnene historische Konzeption des Fortschritts fortzusetzen und frühere Entwicklungen zugleich zu destruieren.
Aber auch die Gegenseite scheint sich aufzulösen. Die „populistischen“ Bewegungen, die in den westlichen Gesellschaften vordringen entsprechen nicht den traditionellen Konservatismen gleich welcher regionalen Ausprägung. In ihrer Aufnahme vieler Elemente des Nationalismus des 19. Jahrhunderts, aber auch von neueren totalitären Bewegungen, von Gewaltrhetoriken, Führerkulten usw. strukturiert sich auch die Rechte um. Der umgeformte Begriff „Identität“ flottiert frei zwischen Biologie und sozialen Begriffsarchiven, er wird von rassistischen und aber auch postkolonialen Strömungen verwendet. Antirassisten sehen oft eine dunkle Hautfarbe als Indikator kultureller und moralischer Überlegenheit
In diesem großen und teilweise blutigen Karneval der Widersprüche gibt es zuweilen Inseln der Nüchternheit. Wagenknecht und ihre Mitstreiter haben sich ins Getümmel gestürzt und sich in vielen Punkten quergestellt. Ihre Positionsnahmen sind in großen Teilen „links“ in einem traditionellen Sinne. In der Umweltpolitik und der Verkehrspolitik vertreten sie Positionen, die mit jenen der Realo-Grünen kompatibel sind. Die Europakonzeption entspricht der „Subsidiarität“, die einst von der CDU vertreten wurde: Probleme seien dort zu bearbeiten, wo die kompetentesten Lösungen erwartet werden können, also zentral, national oder regional und nicht in einem historisch entstrukturierten Zentralstaat.
Die große Dissense zum deutschen Mainstream bestehen im Verhältnis zum Ukraine-Krieg und zu Russland, in der Migrationspolitik und im Verhältnis zur „Lebensstil-Linken“. Wie in einem Krieg kommen echte Friedensgespräche erst nach Sieg oder Niederlage einer Seite oder der völlige Erschöpfung beider Seiten zustande. In all diesen Feldern hat das BSW wahrscheinlich keine Chance, seine Position durchzusetzen. Unehrenhaft ist das nicht.
[1] Politologe, ehemals Professor an der Universtität Potsdam