Chancen und Ängste.

Herr Kaufmann über seine berufliche Stellung Anfang der 1990er Jahre

Von Dorothee Wierling[1]

Zwischen 1991 und 1993 führte ich in der gerade zusammengebrochenen DDR 20 lebensgeschichtliche Interviews mit dem Geburtsjahrgang 1949 durch, die meisten davon in Leipzig, wo ich damals eine Außenstelle des Kulturwissenschaftlichen Instituts NRW aufbaute. Lutz Niethammer hatte mich darauf gebracht, nachdem wir 1987  ein Oral-History-Projekt mit der sogenannten Aufbaugeneration der DDR durchgeführt hatten, also den Geburtsjahrgängen bis 1930.[2] Diese Jahrgänge waren stark geprägt von ihrer Kindheit nach dem Ersten Weltkrieg, den Krisen der Weimarer Republik und den wechselnden Bedingungen des Lebens in der DDR, deren Ende noch nicht absehbar war. Wie aber würde eine Kohorte ihr Leben erzählen, das mit der DDR begann und das in einem Moment, wo diese DDR gerade unwiederbringlich zusammengebrochen war?[3]

 

Das war der Ausgangspunkt. In diesem Kontext interviewte ich Herrn Kaufmann (pseud.). Die Interviews wurden in drei Phasen geführt. Sie begannen mit einer freien Erzählung auf einen allgemeinen Impuls, das ganze Leben zu erzählen. Im zweiten Schritt wurden zu dieser Ersterzählung Fragen gestellt, um Lücken zu füllen. Detaillierung zu erbitten oder Unverstandenes zu klären. Die dritte Phase dient der reflektierenden Rückschau auf das Leben, die ich mit „Bilanzfragen“ anregte. Bei Herrn Kaufmann handelte sich – mit 450 Transkriptseiten – um das zweitlängste Interview im Gesamtsample, und es zog sich über drei Treffen hin. Herr Kaufmann sprach über die DDR-Erfahrung als eine der beständigen Behinderung und Kränkung. Das schien im Widerspruch zu seinem offiziellen Status zu stehen, denn er war von seinem Betrieb beauftragt, in der gesamten DDR Betriebe in die Nutzung westlicher Maschinen einzuführen, er verfügte dazu über einen eigenen Fahrer, aber nicht über ein eigenes Büro; in der „Partei“ war er nicht, sein Büro teilte er mit weiblichen Kollegen (und SED-Mitgliedern), von denen er sich kontrolliert fühlte; und der Fahrer fuhr die Routen nicht etwa nach Kaufmanns Anweisungen, sondern entlang der langjährigen Kontakte, die er selbst in diesem Kontext zu  Partnern im dichten Netz der Schattenwirtschaft aufgebaut hatte.

Während Kaufmann die DDR also als Ort systematischer Beschränkung und Kränkung erfahren hatte (jedenfalls es so erzählte), stellte er seine Teilnahme an den Leipziger Demonstrationen als aktiv und einflussreich dar. So deutete er an, er habe alle Aktivitäten in der Stadt genau beobachtet; und er selbst habe den ihm bekannten Kommandeur der Kampfgruppen davor gewarnt, Gewalt gegen Demonstranten  auszuüben. Im Interview lag ihm viel daran zu beweisen, dass mit dem Ende der DDR seine Stunde gekommen war. Und in diesem Zusammenhang berichtete er stolz über seine Anstellung bei einer Firma, in der er seine Karriere als selbständiger Firmeninhaber vorbereite: 

 

„Diese Firma stellt mich ein mit der Maßgabe, daß ich früher oder später über das Prinzip des managing-buy-out in die Selbständigkeit gehe [....] (Dazu) brauche ich also einen Partner, der gewisse Sicherheiten bieten kann und der auch eine Anschubversicherung sichert. So, und dort bin ich [...] eingestellt worden und bin also bis zum heutigen Tage dort noch beschäftigt und habe innerhalb von wenigen Monaten unter ausgezeichneten Arbeitsbedingungen, das heißt also einen schönen großen Arbeitsraum, freundlich und hell, nicht unbedingt mit westlichen Möbeln (lacht) eingerichtet, aber das ist auch nicht das Entscheidende, aber innerhalb von kurzer Zeit aufgrund einer selbst erarbeiteten Konzeption, der eigenen Strategie, was auf die Beine gestellt, was sich sehen lassen kann. Das heißt also vom technologischen Konzept über wirtschaftliches Konzept über das Marketingkonzept, eigentlich alles rundherum gesichert, so daß das ganze Unternehmen, wenn es aufgebaut wird, sich trägt und damit ein leistungsfähiges, mittelständisches Unternehmen wird und zum andern 30 neu geschaffene Arbeitsplätze sichert.“[4]

 

Herr Kaufmann beschreibt ein – für mich zunächst völlig unverständliches – Umfeld, in dem er sich endlich entfalten, und dabei auf Unterstützung bauen kann, die nur seiner Qualifikation und künftigen Selbstständigkeit dient, und ihn letztendlich zum Unternehmer machen wird. Worum es in der von ihm, offensichtlich schon fertigen Konzeption geht, was für eine Art von Firma ihm da vorschwebt, darüber erfahre ich zunächst nichts. Die professionell klingenden Anglizismen (managing-buy out) klingeln westlich routiniert, lediglich der Verweis auf die Möblierung, die noch aus der DDR stammt, verweist nebenbei auf eine Verbindung zur DDR, jedoch anders als damals, der „freundliche, helle Raum“ steht im Gegensatz zu der stickigen Enge mit zwei rauchenden SED-Genossinnen, die sein ehemaliges DDR-Büro charakterisierten. Zwar existiert sein „Unternehmen“, das „30 Arbeitsplätze“ und ihm die Zugehörigkeit zur Mittelschicht sichern soll, noch nicht, aber es bleibt auch unklar, was dort produziert werden soll.      

 

In der Nachfragephase bitte ich deshalb um weitere Erläuterungen seiner Pläne und erhofften Chancen.  

 

„Und das wollte ich Sie noch mal nach fragen.

Ja.

Also, das hab ich nämlich beim letzten Mal nicht richtig verstanden. Aber ich, ich wollte Sie nicht unterbrechen.

Ja.

Können Sie das nochmal ganz genau beschreiben, was Sie da jetzt im Moment machen?

Ja.“[5]

 

Auf die drei knappen Bejahungen erfolgen jedoch keine klärenden Erläuterungen. Mein eigenes Unverständnis ist meiner Begriffsstutzigkeit geschuldet, aber keinesfalls gespielt. Über zehn weitere Transkriptseiten quälen sich seine Versuche, die aktuelle Position zu beschreiben und zu bestimmen, hin. Erst dann wird mir klar:

 

„Das heißt, Ihre jetzige Firma ist eine Beschäftigungsgesellschaft[6], in der Sie da arbeiten?

Ist eine Beschäftigungsgesellschaft.

Achso!

Wobei man das nicht auf die Goldwaage legen darf, das Wort. Nicht, dass sich die Leute beschäftigen, die haben eine sinnvolle Arbeit.

Nee, nee (beschwichtigend)

Das ist ein normaler Betrieb.

Ich weiß

Bloß mit Ostdeutschen. Mal sagen, mit einem sehr guten Verhältnis zueinander, sowohl von Geschäftsführer als auch zu Leitern und Mitarbeiten, auch untereinander ein sehr gutes Einvernehmen. Und dadurch auch, mal sagen, recht gut läuft. Natürlich nicht den -Supergewinn einspielt, aber sich trägt. Mit leichtem Gewinn. Zahlen darf ich nicht nennen.“[7]

 

Herrn Kaufmann ist meine späte Entdeckung nicht recht. Mein erleichtertes „Achso!“ bestätigt seine Furcht, dass ich nun entdeckt habe, dass er im Grunde arbeitslos ist. Im Gegenzug verweist er darauf, dass „Beschäftigung“ nicht auf bloßem Zeitvertreib beruht, sondern eine richtige Arbeit meint, die Ergebnisse zeitigt. Dass es sich also um einen „normalen Betrieb“ handelt. Sein Zusatz: „bloß mit Ostdeutschen“ nimmt das allerdings ungewollt wieder zurück. Dabei ist ihm vielleicht unbekannt, dass Beschäftigungsgesellschaften auch in der alten Bundesrepublik der 1980er ein Mittel gegen die hohe Arbeitslosigkeit war und der Umschulung oder Weiterbildung entlassener Arbeitskräfte diente. Wegen der hohen Kosten und geringen langfristigen Erfolgen wurde dieses Modell wieder eingestellt, aber den 1990er Jahren in Ostdeutschland erneut angewendet. Herr Kaufmann benutzt den Verweis auf die „Ostdeutschen“ allerdings für ein anderes Merkmal der Beschäftigungsgesellschaften, dass sich in ihnen nämlich etwas typisch Ostdeutsches zeigt oder erhält, das gute Verhältnis, das gute Einvernehmen untereinander, die flache Hierarchie. Obwohl seine eigenen Arbeitserfahrungen in der DDR dem zum Teil widersprechen, ruft er diese Merkmale nun – indirekt – gegen die kapitalistischen Verhältnisse auf, die ihn erwarten, wenn er mit seinen großen Plänen aus diesem Schutzraum entlassen wird.

 

Am Ende des Interviews, dem Raum für Lebensbilanz und Ausblick, formuliert Herr Kaufmann eine Überlegung zur Gerechtigkeit der deutschen Vereinigung, mit einer überraschenden Begründung:   

 

„Ich meine, jeder der hier gelebt hat, hat ein gewisses Recht an dem Volksvermögen, sagen wir mal ein Sechzehnmillionstel. [...] Denn darauf hat er ja ein Recht, denn das hat er ja an Geld nie ausbezahlt bekommen. Es war ja Volkseigentum. Es gehörte ja Allen.“[8]

 

Es ist hier irrelevant, ob eine solche Logik nicht eher eine Schuldengemeinschaft getroffen hätte und das Erbe hätte abgelehnt werden müssen. Vielmehr deutet Kaufmann sich hier als Teil einer Schicksalsgemeinschaft, die als Ganzes um die Früchte ihrer Arbeit betrogen wurde, und damit um ihre kollektiven Rechte. Es ist sicher eine unklare Identifizierung mit der DDR, aber doch eine Einordnung in die Gemeinschaft aller DDR-Bürger, die ihre „gewissen“ Rechte an den Früchten dieser Gemeinschaft gegen den Westen verteidigen sollten. Das Problrm ist allerdings, dass diese „Rechte gerade nicht „gewiss“ sind, sondern von denen definiert werden, die am Ende das Sagen hatten.

 

 

 

 

 

  

 


[1]Dorothee Wierlling war stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und Professorin an der Universität Hamburg.

[2] Lutz Niethammer, Alexander von Plato, Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Zur Archäologie in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991

[3] Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Geburtsjahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002

[4] S. 51f. Die Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen des Transkripts.

[5] S. 330f

[6] Zur Charakterisierung und Funktion von Beschäftigungsgesellschaften in der Transformationsphase vgl. Wolfgang Beywl, Wolfgang Helmstädter, Michael Wiedemeyer: In die beschäftigungspolitische Abseitsfalle? Die Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung in den neuen Bundesländern, in APuZ 35/1993, 27. 8. 1993

[7] S. 340

[8] S. 449