Zwischen Protest und Verhandlung

Die Strategien gewerkschaftlicher Akteure im Stahlwerk Hennigsdorf gegenüber der Treuhand.

Im November 1991 besetzten die Beschäftigten des Stahlwerks im brandenburgischen Hennigsdorf aus Protest gegen die Treuhand ihren Betrieb. Die IG Metall und der Betriebsrat bauten Druck auf die Behörde auf und nahmen so viel Einfluss, dass sie die Privatisierungsfolgen für die Beschäftigten deutlich verbessern konnten.

 

Die Fotos wurden vom Autor mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Hennigsdorf zur Verfügung gestellt.

Von Jakob Warnecke2

Abhandlungen über die ostdeutsche Transformation erscheinen nicht selten als negativ gestimmte Verlust- und Niedergangsgeschichte. Das spiegelt einerseits tatsächliche ostdeutsche Erfahrungen wider und korrigiert zu Recht undifferenzierte Erfolgsnarrative über die deutsche Einheit. Dabei drängt sich bei einigen Darstellungen der Eindruck auf, dass historische Akteur:innen vor allem als Opfer übermächtiger Verhältnisse verstanden werden. Solche Darstellungen bestätigen gerade in Ostdeutschland immer wieder zu beobachtende kollektive Gefühlswelten des Abgehängtseins und der Benachteiligung, nähren einen Mythos, der nicht zuletzt der in den letzten Jahren so im Aufwind befindlichen extremen Rechten als politische Ressource dient. Diese betreibt mitunter durchaus erfolgreich eine instrumentelle Umdeutung von Geschichte und somit auch der Gegenwart, um daraus politischen Machtgewinn zu schöpfen. Die ostdeutsche Transformationszeit spielte beispielsweise im Wahlkampf der AfD zu den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg eine Rolle. Der AfD-Politiker Jürgen Pohl bezeichnete die Treuhand als „Wurzel allen Übels“. Das Argumentationsmuster stützt sich auf ein vereinfachendes und typisches Schema, wobei das “einfache Volk” als eigentlicher Souverän einer Elite aus Politik und Medien, die das Volk verachtet: Im Treuhand-Narrativ stehen das „Oben“ – Westdeutschland, die CDU-Regierung und insbesondere die Treuhand –, auf der anderen das „Unten“ – das überwältigte Volk in Ostdeutschland, das über den Tisch gezogen wurde. In derartigen Konstruktionen wird alle Verantwortung dem „Oben“ zugeschoben, während „die da unten“ entlastet werden und als handlungsohnmächtig erscheinen. Die AfD zeigt auf die wahrgenommenen offenen Wunden und Frakturen und inszeniert sich zugleich als Heilsbringerin - das altbekannte Muster der Affektmobilisierung der extremen Rechten, das mit einfachen Antworten auf komplexe Zusammenhänge zu punkten versucht. Angesichts der politischen Wirkmächtigkeit solcher absichtlichen Verdrehungen und Simplifizierungen der Geschichte sind differenzierte Perspektiven mehr als notwendig. Es stellt sich daher die Frage, wie die beteiligten Akteure innerhalb ihrer Handlungsspielräume wirklich agiert haben. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem die Perspektiven der Belegschaftsvertretung und der gewerkschaftlichen Akteure – also jener, die direkt mit den sozialen Auswirkungen des ostdeutschen Transformationsprozesses konfrontiert waren.

Der folgende Beitrag legt diese Zusammenhänge am Beispiel des Stahlwerks Hennigsdorf und dessen Wandlungsgeschichte über die Zäsur 1989/90 dar.3 Dessen grundlegender gesellschaftlicher Funktionswandel ist der Ausgangspunkt für die im Folgenden beschriebene Konfliktsituation der frühen 1990er Jahre. Dabei ist die Bedeutung des Betriebes in der DDR zu unterstreichen: Das Stahlwerk in Hennigsdorf war nicht nur ein Ort der Produktion, sondern organisierte auch die außerbetriebliche Lebenswelt der Belegschaft: Dazu zählten Ferien- und Sozialeinrichtungen, Wohnheime und Unterkünfte, Wohnungswirtschaft, Poliklinik, Gesundheitswesen, Kultur und Sport sowie die Kinderbetreuung. Auch wenn die Hennigsdorfer Stahlwerker:innen zur von der SED-Führung privilegierten Industriearbeiterschaft gehörten, machte sich gerade in den 1980er-Jahren angesichts der sich zuspitzenden ökonomischen Lage in der DDR eine zunehmende Unzufriedenheit im Betriebsalltag breit.

Wende“ im Betrieb

In Hennigsdorf gingen wie in vielen anderen Städten der DDR im Herbst 1989 Menschen gegen das SED-Regime auf die Straße. Die Bewegung auf der Straße mündete bald in der sogenannten Hennigsdorfer Bürgerversammlung, in der sich auch Angehörige der beiden Großbetriebe in der Stadt engagierten -ein Zusammenhang der aufgrund der Prägekraft der Betrieb auf die kleine Stadt nahe Berlins fast unvermeidlich scheint. So gelangten auch betriebliche Belange in dieses Forum und Impulse aus dieser Versammlung in den Betrieb, der wie viele der „volkseigenen Betriebe“ in der DDR ebenfalls zum Ort der „Wende“ wurde wie auch zum Thema auf den Demonstrationen der Friedlichen Revolution wurde.

Im Stahlwerk hatten sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre innerhalb der Stahlwerksbelegschaft schon erste Ansätze einer kritischen Betriebsöffentlichkeit abgezeichnet, die im Zuge der Herbstereignisse ihren Unmut über betriebliche und gesellschaftliche Zustände gegenüber dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) Gewerkschaft, staatlichen Leitung und der SED im Betrieb immer deutlicher und direkter artikulierten. Dazu gehörten Diskussionsrunden in den Pausen und eine gemeinsame Eingabe an den FDGB-Vorstand,4aber auch konfrontative Aktionen wie eine Demonstration von Stahlwerker:innen über das Stahlwerksgelände unter dem Motto „SED raus aus dem Betrieb“ bis vor das Gebäude der SED auf dem Betriebsgelände, das von den Genossen schon im Vorfeld verlassen wurde.

Vom Herbst 1989 bis zur Jahreswende 1989/90, dem Zeitraum der betrieblichen „Wende“, zerfielen unter dem Druck engagierter Belegschaftsteile die alten politischen Machtstrukturen der betrieblichen Partei- und Massenorganisationen.

Der Wandel gewerkschaftlicher Praxis hin zu mehr demokratischer Partizipation und Unabhängigkeit vom Staat und der Partei wurde im Stahlwerk im Zuge der „Wende“ im Betrieb im Herbst 1989 aus der Basis heraus vorangetrieben. Die vormals von der Partei herausgegebene Betriebszeitung wurde durch das Engagement der Hennigsdorfer Bürgerbewegung und der gewerkschaftlichen Basis als Zeitung der Belegschaft und im Sinne einer neu entstandenen demokratischen Betriebsöffentlichkeit fortgeführt. Parallel zu diesen innerbetrieblichen Veränderungen knüpften einzelne Belegschaftsmitglieder Kontakte zu Gewerkschafter:innen und Betriebsrät:innen in Westberlin auf, um sich Wissen über die Betriebsratsarbeit anzueignen.

Ein wesentlicher Diskussionspunkt im Betriebswende-Diskurs war die zukünftige Rolle der Gewerkschaftsorganisation im Betrieb, die sich hin zu einer unabhängigen Vertretung entwickeln sollte. Denn zu den zentralen Aufgaben des FDGB gehörten bisher die Leitung der Sozialversicherung, der Feriendienst und die Verteilung der Urlaubsplätze und die Kulturarbeit. Als „Transmissionsriemen“ der SED fungierte die Gewerkschaft als „Motor der Mobilisierung für Produktionssteigerung" und verfolgte die Erziehung und die Ideologiekontrolle der „Werktätigen“. Kritische Stimmen stellten die Legitimation des FDGB infrage, aber nicht die Gewerkschaft an sich, vielmehr sollte diese im Sinne einer tatsächlichen Interessenvertretung reformiert werden. Die Gewerkschaftsstrukturen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) im Betrieb begaben sich tatsächlich in einen Prozess der Selbstreformierung, der durch Neuwahlen vorangetrieben werden sollte, letztlich jedoch an einer gewissen Halbherzigkeit und den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung Einheit scheiterte. Eine aus der Belegschaft hervorgegangene Betriebsratsinitiative, deren Akteure in der Hennigsdorfer Bürgerbewegung aktiv waren, leitete Betriebsratswahlen ein, sodass der Betrieb wenige Wochen vor der Deutschen Einheit einen Betriebsrat und einen gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörper hatte. Diese Organisierung wurde als unverzichtbar angesehen, da allen Beteiligten bewusst war, dass die bevorstehende Zusammenführung beider deutscher Staaten tiefgreifende Veränderungen für den Betrieb und betrieblichen Alltag mit sich bringen würde.

Konflikt mit der Treuhand

Im Mai 1990 wurde der Betrieb in eine GmbH umgewandelt und stand fortan unter der Verwaltung der Treuhandanstalt. Im Sommer 1990 rutschte das Hennigsdorfer Stahlwerk wie viele ehemals volkseigene Betriebe in eine schwierige wirtschaftliche Krise, die durch Absatzschwierigkeiten, Zahlungsprobleme und auch die Last der Altschulden gekennzeichnet war. Der Betrieb musste ein Sanierungskonzept ausarbeiten, das letztlich auf eine markteffiziente Restrukturierung des Stahlwerks hinauslief. Das bedeutete eine Einschränkung der Produktion und eine Reduktion der Belegschaft, in deren Folge sich der Betrieb sukzessive aus seiner vormals sozialen und die Stadt prägenden Rolle zurückzog. Die Arbeit des Betriebsrats richtet sich dementsprechend vorwiegend auf die soziale Absicherung der Belegschaft, die nach dem „Währungsschock“ 1990 zu großen Teilen in Kurzarbeit geschickt wurde und von Arbeitslosigkeit bedroht war. Die Zahlen sprechen für sich: Ende 1989 haben hier 8.500 Menschen gearbeitet, im Herbst 1991 sind davon noch etwa 5.000 Arbeitsplätze übrig. Der Betriebsrat agierte der Situation entsprechend in einem typischen Spannungsfeld zwischen den Interessen der Arbeitnehmer: innen und der Sicherung des Unternehmens, doch der Gestaltungswille ging auch über den Betriebskontext hinaus. Die neuen Betriebsratsmitglieder zeigten von Beginn an ein hohes zivilgesellschaftliches Engagement. Betriebsratsmitglieder waren z. B. in der SPD, als Stadtverordnete aktiv, übernahmen Positionen in der IG-Metall und organisierten über die Gewerkschaftsstrukturen den überbetrieblichen Austausch.

Mit der Wirtschaft auf dem Gebiet der DDR ging es nach der Einheit weiter rapide bergab. Zahlreiche Entlassungen und Stilllegungen von Betrieben trieben Zehntausende Ostdeutsche in den „neuen Bundesländern“ auf die Straße. Die im Jahr 1990 noch so euphorische Stimmung in den „fünf neuen Bundesländern“ hatte sich grundlegend gewandelt. Statt den von Bundeskanzler Helmut Kohl immer wieder prognostizierten „blühenden Landschaften“ war eine schwere wirtschaftliche Krise und eine weit verbreitete Unzufriedenheit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu verzeichnen. Schon im ersten Halbjahr des Jahres 1991 sank die Industrieproduktion um 67 Prozent gegenüber dem Stand von 1989 ab.5 Die Unzufriedenheit mündete im Frühjahr 1991 auch in organisierten Protest. Die IG Metall stellte sich an die Spitze der wiederbelebten Montagsdemonstrationen gegen die Privatisierungspolitik, die etwa in Leipzig zu regelrechten Massenprotesten anwuchsen. Der IG Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler bezeichnete etwa die Treuhand als „Verkaufsagentur und Schlachthaus“ und argumentierte für deren Umwandlung in eine Industrieholding.6 Die Treuhand war dabei die Projektionsfläche, der “Blitzableiter” für die Wut der Enttäuschten dieser tiefgreifenden und einschneidenden Vorgänge, die eigentlich der Bundesregierung galt.

Die Treuhand war als Kreditgeberin andererseits auch der Überlebensgarant für jene ehemaligen volkseigenen Betriebe, denen eine Chance unter den neuen ökonomischen Bedingungen eingeräumt wurde. Im Stahlwerk erwies sich als vorteilhaft, dass neben den hoffnungslos veralteten Produktionsanlagen auch sehr moderne und neuwertige Anlagen auf westdeutschem Niveau existierten. Die Treuhand investierte Kapital, damit das Werk an Wert gewinnt und letztlich verkaufsfähig wird.

Doch im März 1991 brach in Hennigsdorf ein Konflikt um die Gewährung von Krediten aus, bei dem die Belegschaft des Stahlwerks ihre kollektive Stärke erstmals erfolgreich gegen die Treuhand einsetzte und ihre Mobilisierungsfähigkeit bewies. Weil erwartete finanzielle Mittel der Behörde nicht flossen, formierte sich Protest. Mit einem Flugblatt unter dem Titel „Der Kampf um unseren Betrieb hat begonnen“ wandten sich der Vertrauenskörperleiter und der Betriebsratsvorsitzende an die Belegschaft:

Die Treuhand hat uns die Hand an die Gurgel gelegt. Alle Zusagen scheinen sich als Lügen zu entpuppen. Wir haben unseren Betrieb 40 Jahre – trotz Diebstahl unserer Gewinne durch den alten Staat – am Leben erhalten. Wir lassen ihn nicht vom neuen – vertreten durch die ‚Teuhand‘ [sic] Staat zerstören.“7

Weil die Stahlarbeiter:innen nicht bereit waren, sich von der Privatisierungsanstalt niederwürgen zu lassen, sagten sie ihr den Kampf an. Dabei konnten sie mit dem 17. Juni 1953 auf eine besondere historische Ressource zurückgreifen. Denn es war gerade mal 38 Jahre her, da formierten Hennigsdorfer Stahlwerker:innen einen Protestzug und marschierten nach Berlin, um die protestierenden Bauarbeiter in der Stalinallee zu unterstützen - bis der Aufstand von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde. Dieses Bild vom widerständigen Stahlarbeiter hat sich im kollektiven Gedächtnis des Stahlwerks Hennigsdorf gehalten, trotzdem wurde der 17. Juni 1953 von der SED-Führung nicht öffentlich thematisiert.

Warum also nicht auch in den aktuellen Konfliktlagen im Jahr 1991 daran anknüpfen? Als man eines Morgens im März 1991 in der Treuhandanstalt während der täglichen Presseschau in der Zeitung Tribüne las, dass die Hennigsdorfer einen Marsch zur Treuhand ankündigten, machte sich umgehend nervöse Geschäftigkeit unter den Angestellten der Behörde breit. Die drohende Protestaktion und die zu erwartende negative Presse führten unter anderem dazu, dass der Betriebsrat persönlich zu einem klärenden Gespräch in die Treuhandzentrale eingeladen wurde. Dort klärte sich relativ rasch auf, dass die Kredite überhaupt nicht verweigert wurden, sondern das Verfahren in den teils ineffizienten und chaotischen Verwaltungsstrukturen irgendwo feststeckte und schon löste sich die verhärtete Situation zugunsten einer Win-Win-Situation auf. Im Gegenzug zur verbindlichen Kreditzusage eines führenden Treuhandmitarbeiters bliesen IG Metall und Betriebsrat den Marsch auf die Treuhand ab. Für die Stahlwerker:innen, den Betriebsrat und die IG Metall bedeute dieser Zusammenhang mehr als nur eine beschleunigte Kreditzusage, sondern vor allem auch die Wirkmächtigkeit ihrer kollektiven Organisierung. Diesbezüglich war man gut aufgestellt, was angesichts der weiteren Entwicklungen sich als äußerst hilfreich erweisen sollte.

Dieser Betrieb ist besetzt“

Die Treuhandanstalt stufte den Betrieb 1991 aufgrund seiner modernen Teile als überlebensfähig ein und versuchte das Werk an den Mann zu bringen, was sich als schwierig erwies, denn die kriselnde westdeutsche Stahlwirtschaft zeigte kein Interesse an weiteren Kapazitäten, sodass die Treuhand auch im Ausland nach potentiellen Käufern suchte und Kaufabsichten beim italienischen Stahlkonzern Riva weckte.8 Angesichts der nun drohenden Konkurrenzsituation reichte ein Konsortium aus deutschen Stahlunternehmen ebenfalls Angebote ein.9 Diese Vorgänge blieben jedoch abgekoppelt von den Interessen der Belegschaftsvertretung und der IG Metall. Ihnen gegenüber verhielt sich die Treuhand ganz selbstverständlich intransparent, denn eine Mitbestimmung des Betriebsrates war überhaupt nicht vorgesehen. Doch der Betriebsrat und die örtliche IG Metall akzeptierten diese Politik nicht, machten den Verkauf öffentlich und forderten öffentlich ihre Mitsprache bei der Entscheidungsfindung. Damit politisierten sie den Privatisierungsprozess und schufen eine kritische Öffentlichkeit. In Teilen konnte sie sogar ihren Anspruch auf Mitsprache durchsetzen - das deutsche Konsortium erschien dem Betriebsrat als besser, weil es eine höhere soziale Absicherung versprach als der italienische Konkurrent. Doch letztlich entschied die Treuhand für Riva und damit gegen die von der Belegschaftsvertretung formulierten Interessen.

Als Reaktion auf diese Entscheidung fuhren Stahlwerker:innen direkt zur Treuhand und wollten die dortigen Entscheider zur Rede stellen. Weil sie damit erfolglos blieben, besetzten Teile der Belegschaft unter Führung von Betriebsrat und IG Metall den Betrieb, um auf diese Weise weitere Verhandlungen zu erzwingen. Das riesige Stahlwerksgelände wandelte sich im Handumdrehen von einem Ort der Produktion zu einem Ort des Protestes: Die Produktion wurde eingestellt, zu Wachposten ernannte Stahlwerker:innen blockierten die Tore, am eisernen Haupttor hingen Transparente mit kämpferischen Botschaften. Man ging gleichzeitig konfrontativ, konstruktiv und kompromissbereit vor: Als Alternative zur Treuhandentscheidung präsentierten sie Handlungsvorschläge, die die zeitlich begrenzte Weiterführung des Restbetriebs als Beschäftigungsgesellschaft beinhalteten. Auch wenn es um den eigenen Standort ging, die Protestierenden sahen sich immer auch in einem größeren Zusammenhang: So hofften sie Anfangs sogar, dass sich andere Betriebe der Besetzung anschließen würden, was sich allerdings als illusorisch erwies, weil die Situation in den einzelnen Betrieben einfach zu unterschiedlich war.

Die flammende Rhetorik des Betriebsratsvorsitzenden Peter Schulz, der zum Gesicht in den durchaus interessierten und meist wohlwollenden Medien avancierte, ordnete bei einer Kundgebung vor dem Werkstor Hennigsdorf als richtungsweisenden Kampf ein:

In Hennigsdorf, denkt immer daran, werden die Weichen gestellt. Gerade darum stellt sich die Bundesregierung hier hin und blockiert alles, weil sie so ein positives Beispiel nicht gebrauchen kann. Wenn sie alles plattmachen will, braucht sie Schafe dazu. Hier geht es schon lange nicht mehr um Hennigsdorf. Hier geht es darum, wie es im Osten weitergeht.“10

Die Besetzung eines Betriebes aus Protest war kein Novum. In den 1980er Jahren griffen in der Bundesrepublik Belegschaften vermehrt zu diesem Kampfmittel, um gegen die im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise drohenden Massenentlassungen und Betriebsstilllegungen zu protestieren. Zu den zwischen 1991 und 1993 insgesamt 550 gezählten Streiks und sozialen Kämpfen in Ostdeutschland gehörten auch etliche Betriebsbesetzungen.

Die Besetzung führte zu einer breiten Solidaritätswelle, da die Bedeutung des Stahlwerks für die Kommune und die Region für viele auf der Hand lag. Hennigsdorf wurde aber auch zur Projektionsfläche für einzelne linksradikale Gruppen, die in der Hennigsdorfer Belegschaft ein revolutionäres Subjekt zu erkennen glaubten. Doch die aufgeregte Klassenkampfrhetorik trotzkistischer Kleingruppen verfing bei der Belegschaft nicht und die Deutungshoheit der Auseinandersetzung blieb bei den führenden Protestakteuren, sprich bei der IG Metall und dem Betriebsrat selbst.

Doch es blieb nicht bei der Besetzung, man mobilisierte darüber hinaus zu Kundgebungen und Demonstrationen vor den Institutionen in Potsdam und Berlin, in denen politische Entscheidungen getroffen wurden. Der Protest richtete sich vor allem gegen die Treuhandanstalt, aber auch gegen die Landes- und die Bundesregierung. Dabei ging es den Demonstrierenden darum, öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu erzielen und ihre Interessen in den Prozess der Privatisierung einzubringen. Beispielhaft ist eine Demonstration von 2.000 Stahlwerker:innen zum Landtag in Potsdam, die unter anderem den Ministerpräsidenten Manfred Stolpe an seine zuvor getätigten Versprechungen zur Unterstützung erinnern sollte. Die brandenburgische Landesregierung wurde von der Belegschaftsvertretung und IG Metall als Partnerin angesehen, die ihrerseits natürlich auch Interesse am Standorterhalt hatte. Im Aushandlungsprozess mit der Treuhand bildete sich so eine Interessenkoalition aus Gewerkschaft, Belegschaftsvertretung und Landesregierung heraus, innerhalb derer die Landesregierung eine vermittelnde Position einnahm.

Letzter Höhepunkt dieser Ereigniskette war eine Demonstration vor der Treuhandzentrale in Berlin am 3. Dezember 1991. Etwa 1.200 Beschäftigte kamen mit Bussen und Pkw unter der Begleitung eines Polizeiaufgebots nach Berlin. Zu dieser Kolonne gehörten auch Kipper, die drei Stahlblöcke á 5 Tonnen geladen hatten. Diese sollten als Zeichen des Protestes direkt vor der Treuhandzentrale abgekippt werden, was die Polizei allerdings verhinderte.11 IG Metall und Betriebsrat konnten letztlich den Verkauf an Riva nicht verhindern, aber einige ihrer Kernforderungen nach mehr sozialer Absicherung und besseren Rahmenbedingungen für die Belegschaft durchsetzen. Dazu gehörte vor allem, dass die nicht zu Riva wechselnden Arbeitnehmer:innen auf Zeit im Restunternehmen weiterbeschäftigt wurden.12

Begrenzte Erfolge

Die erfolgreichen Proteste wurden im öffentlichen Diskursraum als Zeichen dafür wahrgenommen, dass sich die Belegschaft und damit letztlich die Ostdeutschen gegen die Treuhandpolitik wehren können. Diese Signalwirkung wurde Hennigsdorf zum Vorbild für weitere Auseinandersetzungen in und um Treuhandbetriebe, deren historische Aufarbeitung bisher nur in Teilen stattgefunden hat. In der Auseinandersetzung mit der Treuhand erstritten sich die IG Metall und der Betriebsrat mehr Handlungsspielraum, organisierten und kanalisierten die Proteste in Form eines politischen Streiks und behaupteten eine so starke Gegenmachtposition, die letztlich die Bedingungen und Folgen der Privatisierung für die Belegschaft verbesserte. Das Handeln der Treuhand war beeinflussbar und deren selbstverständliche Top-Down-Strategie konnte in diesem Fall durchaus unterlaufen werden. Die Transformation auf Betriebsebene konnte so nicht „von oben“ ohne Berücksichtigung der Interessen „von unten“ durchgesetzt werden. Die Einflussnahme blieb jedoch begrenzt und beschränkte sich auf Kurskorrekturen, die allerdings für die Situation der individuell Betroffenen Gewicht hatten.

In diesen Auseinandersetzungen zeigte sich nicht nur der Wert gewerkschaftlicher Organisation und wie glaubwürdig deren Drohpotential im Konfliktfall sein kann. Mit einem Bezug zur Gegenwart lässt sich abschließend festhalten, wie wichtig gewerkschaftliche Organisierung, solidarisches Denken und Handeln und der Wert der Mitbestimmung für die demokratische Gesellschaft in der Vergangenheit und der Gegenwart ist. Die gefühlte Handlungsohnmacht von abhängig Beschäftigten erhöht die Anfälligkeit für autoritäres Denken. Gerade in ostdeutschen Regionen mit geringer Tarifbindung und einer niedrigen gewerkschaftlichen Organisierung stehen Gewerkschaften in Konkurrenz zu den rechten Bewegungen.13

 

2 Dr. Jakob Warnecke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Leipzig / Forschungsstelle Transformationsgeschichte.

3 Vgl. dazu die Studie: Jakob Warnecke: Wandel gewerkschaftlicher Praxis im ostdeutschen Betrieb. Ostdeutsche Transformationsprozesse in den Jahren 1989–1994am Beispiel des Stahlwerks Hennigsdorf, Düsseldorf 2024 online unter: www.boeckler.de/fpdf/HBS-008836/p_study_hbs_489.pdf

4 Vgl. Bernd Gehrke: Demokratiebewegung und Betriebe in der „Wende“ 1989. Plädoyer für einen längst fälligen Perspektivwechsel, in: Bernd Gehrke/Renate /Hürtgen (Hg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution; Diskussion, Analysen, Dokumente; [Protokoll einer Tagung von Betriebsaktivist, -innen; Analysen zum Widerstand in DDR-Betrieben und zur „Betriebswende“; Dokumente von Belegschaftsinitiativen und Bürgerbewegungen], Berlin: Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung 2001, S. 229-230.

5 Vgl. Vladimiro Giacché: Anschluss. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas Hamburg 2014, S. 102.

6 taz vom 15.03.1991: Treuhand soll auf Arbeitsplätze achten.

7 Bundesarchiv Berlin: Aufruf zur außerordentlichen Belegschaftsversammlung am 11.3.1991 (B412/83430), Bl.389.

8 Vgl. Die Welt vom 27.11.1991: Die Stahlwerker erinnern an ihre Väter.

9 Vgl. Knoll: Zwischen Aufbruch und Abbruch, S. 149.

10 Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv: Abendjournal vom 29.11.1991. Stahlarbeiterproteste gegen Treuhandanstalt

(Deutscher Fernsehfunk / Fernsehen der DDR 048722).

11Vgl. Tagesspiegel vom 04.12.1991: Proteste der Stahlarbeiter vor der Treuhandanstalt.

12Vgl. Verhandlungsergebnis zur Fortführung der Hennigsdorfer Stahl. GmbH im Zusammenhang mit dem Asset-Verkauf des Stahlbereiches vom 4.12.1991, in: IG Metall Verwaltungsstelle Hennigsdorf, Hennigsdorfer Stahl, Ordner 1.

13 Kiess, Johannes / Schmidt, Andre / Bose,Sophie (2022): Konfliktwahrnehmungsmuster derabhängig Beschäftigten in Deutschland. In:Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Heller, Ayline /Brähler, Elmar (Hg.): Autoritäre Dynamiken inunsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen –alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie2022, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 271–301.