Die Vereinigung von Carl Zeiss Ost und West

André Steiner

Zwei Unternehmen im Umbruch [1]

Die Wiedervereinigung Deutschlands und die nachfolgende politische und sozialökonomische Umgestaltung seines Ostteils hatten für die dortigen Unternehmen einschneidende Konsequenzen. Mitunter blieb das aber auch für die sich engagierenden Westfirmen nicht ohne Auswirkungen. Im Folgenden soll einem solchen Veränderungsprozess am Beispiel der Firma Carl Zeiss nachgegangen und dabei die Frage beantwortet werden, welche Konfliktlinien dabei bestanden oder neu entstanden. Dazu wird eingangs kurz auf die Ausgangslage eingegangen, um dann die Interessen und Positionen der verschiedenen Akteure aufzuzeigen und abschließend die Ergebnisse des Prozesses zu analysieren. Der besondere Reiz des Falles Carl Zeiss resultiert daraus, dass er sich einerseits als emblematisch für die deutsche Wiedervereinigung erwies und andererseits etwas Besonderes darstellte, wie bereits die Ausgangssituation verdeutlicht.

Im Prozess der deutschen Teilung hatten sich in Ost- und Westdeutschland auch zwei Carl Zeiss Unternehmen etabliert: Zum einen existierte das Traditionsunternehmen in Jena, wo die historische Wiege der Firma stand und das sich ursprünglich im Eigentum der 1889 gegründeten Carl-Zeiss-Stiftung befand, und zum anderen hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit in die amerikanische Zone evakuierte ehemalige leitende Mitarbeiter aus Jena in Oberkochen (Baden-Württemberg) das Unternehmen neu gegründet und damit verbunden eine eigene Carl-Zeiss-Stiftung in Heidenheim (Baden-Württemberg) etabliert. Beide Carl-Zeiss-Stiftungen - in Ost und West - beriefen sich auf das Erbe des Gründers Ernst Abbe und sein Stiftungsstatut, also auf gemeinsame historische Wurzeln. Jedoch sprachen sie sich in langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen, aber auch auf politischer Ebene seit Jahrzehnten wechselseitig die Existenzberechtigung ab. Angesichts des ab Anfang 1990 abzusehenden Wegfalls der staatlichen Teilung drängte es sich nun geradezu auf, die beiden Stiftungen aber auch die Unternehmen zu vereinigen.

Allerdings warf diese Aufgabe nicht nur unternehmerische Probleme, sondern auch juristische Fragen auf. Dazu gehörte die Verfügung über die Namens‑ und Warenzeichenrechte, die zwischen den beiden Zeiss-Firmen im Londoner Abkommen von 1971 grob entlang der Blockgrenzen abgesteckt worden waren, was nach dem Zusammenbruch des Ostblocks neu geregelt werden musste. Außerdem betraf das die Stiftungsfrage, weil die Existenz zweier Stiftungen gleichen Namens gesetzlich nicht vorgesehen war. Da jedoch die Rechtmäßigkeit der Existenz einer der beiden Stiftungen auch den Anspruch auf die Vermögenswerte der jeweils anderen implizierte, berührte die Stiftungsfrage ebenfalls die Stiftungsunternehmen unmittelbar.

Neben den juristischen Fragen wurde die Zusammenführung der Unternehmen - Carl Zeiss Oberkochen und Carl Zeiss Jena - sowie der beiden Stiftungen wesentlich von deren wirtschaftlicher Situation bestimmt. Zwar stand die Carl-Zeiss-Stiftung im Westen und ihre Stiftungsunternehmen wirtschaftlich insgesamt erfolgreich da, aber bei Zeiss Oberkochen waren auch strukturelle Probleme nicht zu übersehen, die die Ertragskraft beeinträchtigten und die wirtschaftlichen Möglichkeiten begrenzten. Das Kombinat Carl Zeiss Jena galt in der DDR als eine der gewinnbringenderen Wirtschaftseinheiten. Jedoch waren auch hier die Folgen der SED-Wirtschaftspolitik zu spüren: Punktuelle Investitionen zogen nach sich, dass der Kapitalstock insgesamt veraltete. Die Entwicklung von Innovationen erfolgte im Wesentlichen nur in den Bereichen, die von den zentralen Instanzen als Schwerpunkte betrachtet wurden. Das Unternehmen war durch zentral beschlossene Zuordnungen zusätzlicher Produktionen überdimensioniert wie auch infolge der typischen Hortungserscheinungen mit Personal überbesetzt.

Aus dieser Ausgangssituation resultierte mit der sich abzeichnenden staatlichen Wiedervereinigung eine doppelte Aufgabe: Zum einen mussten die Stiftungen und Unternehmen zusammengeführt und zum anderen letztere in unterschiedlichem Maße saniert und umstrukturiert werden, wobei sich die dabei vorhandenen Handlungsspielräume prinzipiell aus den wirtschaftlichen Potenzen der Beteiligten und den juristischen Möglichkeiten ergaben. Daraus folgten die stiftungsrechtliche und die unternehmerische Dimension des Vereinigungsprozesses. Für diesen Vorgang gab es keine historischen Vorbilder und Erfahrungen, auf die man zurückgreifen hätte können. Letztlich verwirklichte sich dieser Prozess im Handeln der beteiligten Akteure, deren Interessen und Positionen hier zunächst zusammengefasst werden sollen.

Das Unternehmen Carl Zeiss Oberkochen und die Carl-Zeiss-Stiftung Heidenheim sahen sich nach dem Fall der Berliner Mauer mit der öffentlichen Erwartung konfrontiert, dass sie an ihren historischen Ursprungsort Jena zurückkehren oder aber zumindest die dortigen Traditionsbetriebe unterstützen würden, unter den neuen Bedingungen lebensfähig zu werden. Daran waren sie aber wirtschaftlich nicht interessiert, denn weder wollten sie sich mittelfristig einen neuen Konkurrenten schaffen noch benötigten sie zusätzliche Kapazitäten. Jedoch konnten sie dieses Ansinnen wegen des Streits um die Namens‑ und Warenzeichenrechte, aber viel mehr noch wegen der Stiftungsfrage nicht ignorieren. Deshalb wurde bereits Anfang 1990 in Oberkochen erwogen, bestimmte Geschäftsfelder des Jenaer Zeiss-Betriebes mit eindeutiger Markenidentität auszuwählen und in ein Unternehmen zu überführen, an dem man sich selbst mehrheitlich beteiligen würde. So sollte - wie damals in Oberkochen eingeschätzt wurde - ein potentiell starker Wettbewerber (man nahm Jena zunächst als möglichen Konkurrenten wahr und ernst!) zum Verbündeten gemacht und andere Konkurrenten von der Zusammenarbeit mit dem Jenaer Unternehmen abgehalten werden. Letzteres wollte der Oberkochener Vorstand bei allen Kooperationen nicht zu stark machen und zugleich aber das Namensproblem lösen. Dieses war einer der zwei für Oberkochen besonders wichtigen Aspekte. Der andere betraf die Gefahr, dass andere Konkurrenten Teile von Carl Zeiss Jena kaufen könnten. Jedoch wurde angesichts der eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Oberkochen die Übernahme in Jena auch als bedrohlich empfunden und man orientierte sich auf eine unternehmerische Minimallösung, mit der gleichwohl die offenen juristischen Fragen aus der Welt geschafft werden sollten. Auch in der Belegschaft in Oberkochen grassierten schon früh Befürchtungen, dass sie im Stiftungsstatut verbriefte Sozialansprüche (Pensionen) verlieren könnte. Zugleich beförderten wechselseitige Missverständnisse über die Absichten der jeweils anderen Seite das Misstrauen, das auf beiden Seiten infolge jahrzehntelanger Auseinandersetzungen bestand. Beides - dieses Misstrauen und die Grenzen der eigenen wirtschaftlichen Kraft - behinderten gerade in Oberkochen das an sich zu erwartende Bestreben, nach Jena zurückzukehren und die dort vorhandenen Potentiale für sich nutzbar zu machen.

Eine einheitliche Stiftung strebten von Anfang an alle Seiten an, aber es war unklar, welcher Weg dorthin beschritten werden solle und wie zugleich die jeweils eigene Rechtsposition gewahrt werden könne. Die Stiftungsverwaltung der Heidenheimer Stiftung bzw. die Landesregierung Baden-Württemberg waren in den Gesprächen und Verhandlungen bezüglich des Stiftungsproblems zwar anfangs durch ihren Anwalt beteiligt, aber das Heft des Handelns lag auf westlicher Seite vor allem bei den Stiftungsunternehmen. Erst nachdem auch die Gefahr des Verlustes von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen in Baden-Württemberg erkannt wurde, schaltet sich die Landesregierung stärker ein, und entsandte einen Vertrauten des Ministerpräsidenten in die Gespräche, der dann einen wesentlichen Beitrag leistete, um das Stiftungsproblem zu lösen. Da die Stiftungsverwaltung in Gestalt des baden-württembergischen Wissenschaftsministers bereits früh mit Hinweis auf die eigene Zuständigkeit darauf verwiesen hatte, dass die bei der Treuhandanstalt seit Anfang 1991 tagenden Zeiss-Arbeitsgruppen die Stiftungsfragen nicht lösen könnten, war sie dann auch nur zögerlich bereit, das im Frühsommer 1991 erzielte Ergebnis in allen Punkten zu akzeptieren und vor allem umzusetzen. In diesem Zusammenhang kämpfte der Stuttgarter Wissenschaftsminister um jeden Fingerbreit baden-württembergischer Interessen und war damit auch letztlich erfolgreich, weil er auf Zeit setzen konnte, wohingegen die Thüringer Seite an einer schnellen Einigung interessiert sein musste.

Auf der ostdeutschen bzw. thüringischen Seite spielten anfangs ebenfalls die Unternehmen, die ehemaligen Stiftungsbetriebe - zunächst noch im Kombinat zusammengefasst - die entscheidende Rolle. Bei Carl Zeiss Jena war man sich des Bedarfs an Sanierung und Umstrukturierung bewusst, wobei das westliche Pendant dafür - auch von der Belegschaft - als "natürlicher" Partner gesehen wurde. Zugleich war die Jenaer Seite daran interessiert, die Unternehmen und ihre Arbeitsplätze sowie die Carl-Zeiss-Stiftung zu Jena und ihre Tätigkeit im Ort und der Region zu erhalten. Da man der Heidenheimer Seite nach den jahrzehntelangen Streitigkeiten nicht vollständig traute, betrachtete man die Rückführung der Jenaer Betriebe in das Eigentum eben der Jenaer Stiftung als die einzige Möglichkeit, diese Interessen durchzusetzen. Dieses Bestreben widersprach aber in den Augen der Heidenheimer Seite dem Ziel, eine einheitliche Stiftung zu schaffen, da wechselseitige Beteiligungen oder Fusionen von Stiftungen juristisch nicht zulässig waren. Die anfängliche Euphorie über die Möglichkeit, nach dem Zusammenbruch der DDR wieder an die Zeiss-Traditionen anknüpfen zu können, wich in der Belegschaft der Jenaer Betriebe und der dortigen Einwohnerschaft mehr und mehr einer mehrschichtigen Empfindungslage: Einerseits erwartete man die Rückkehr der Carl-Zeiss-Stiftung an ihren angestammten Ort und von den westlichen Stiftungsunternehmen Unterstützung, den Übergang in die Marktwirtschaft mit möglichst vielen Arbeitsplätzen zu bewältigen. Andererseits fürchtete man, dass das Unternehmen aus Oberkochen lediglich die potentielle Konkurrenz aus dem Osten "platt" machen wolle. Bei der Belegschaft von Zeiss Jena blieb die Illusion, dass dies mit Hilfe der geretteten und gestärkten Jenaer Stiftung zu verhindern sei, relativ lang erhalten. Die Jenaer Geschäftsführung hatte sich dagegen davon bereits im Frühjahr 1991 verabschiedet und stellte die wirtschaftliche Stabilisierung des Unternehmens und die Arbeitsplatzsicherung in den Mittelpunkt, woraus ein pragmatischer Umgang mit den historisch begründeten und rechtlich formulierten Ansprüchen der Jenaer Stiftung resultierte.

Die letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maiziere hatte in ihrer kurzen Amtszeit viele und drängendere Probleme als die der Carl-Zeiss-Stiftung und der Jenaer Unternehmen zu lösen, weshalb auch auf ostdeutscher Seite die Betriebe zunächst das Geschehen bestimmten. Gleichwohl war für die ostdeutsche Regierung bereits früh klar, dass sie an erster Stelle die Arbeitsplätze in Jena (und Umgebung) sichern wollte. Dafür betrachtete sie potente Partner, als die sich die Heidenheimer Stiftung und ihre Unternehmen präsentierten (die eigenen wirtschaftlichen Schwächen wurden von Oberkochen kaschiert), als unerlässlich und deshalb kam sie der anderen Seite weit entgegen. Als aber im Herbst 1990 das Land Thüringen wieder eingerichtet worden war, begann es selbstbewusst, die Stiftungsorgane neu zu etablieren und eigene Rechtspositionen ausformulieren zu lassen. So entstand ein neuer, im Vergleich zu den Jenaer Unternehmen starker Akteur, der nach juristischen Wegen suchte, seine bzw. die Interessen der Carl-Zeiss-Stiftung Jena zu bestimmen und schließlich auch wahrzunehmen. Diesen Aufgaben kamen Beamte bzw. Berater nach, die aus den westlichen Bundesländern abgeordnet waren und die die ihnen bekannten Juristen aus dem Westen beauftragten, die Thüringer Positionen in den anstehenden Rechtsfragen zu formulieren. In der Folge wurden die Ost-West-Auseinandersetzungen in der Causa Zeiss zwischen verschiedenen West-Juristen ausgetragen. Zwar schätzten die Vertreter Thüringens die Chancen, ihre Rechtsposition durchzusetzen, zunächst positiv ein. Diese Frage wurde aber nie vor Gericht ausgetragen und entschieden, weil sich das Land Thüringen in der Stiftungsfrage auf Grund der eigenen für die Sanierung der Jenaer Unternehmen nicht ausreichenden wirtschaftlichen Mittel und im Interesse der Arbeitsplatzsicherung im April 1991 entschloss, auf diese Auseinandersetzung zu verzichten. Angesichts dessen, dass Carl Zeiss Jena ein Vorzeigeunternehmen der thüringischen und der ostdeutschen Wirtschaft war - ein ganz entscheidender Punkt auch für die Bewertung des Vorgangs durch die Treuhandanstalt -, bot sich dem Land Thüringen aber die Möglichkeit, über die Stiftungsfrage das westdeutsche Schwesterunternehmen in eine Beteiligung zu zwingen.

Die Treuhandanstalt stand scheinbar zwischen den Fronten. Ihre Aufgabe resultierte primär aus den Erfordernissen des Umbaus einer zentralisierten und auf weitgehendem staatlichen Eigentum beruhenden Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft, was durch den neoliberalen Zeitgeist unterstützt und in seiner Rigorosität und den Tempovorgaben verschärft wurde. Auch in der Treuhandanstalt wurden die westlichen Stiftungsunternehmen als "natürliche" Interessenten an den ehemaligen Stiftungsbetrieben in Jena verstanden. Sowohl Reiner Maria Gohlke als auch Detlev K. Rohwedder wollten als Präsidenten der Privatisierungsbehörde die Carl-Zeiss-Stiftung an ihren historisch angestammten Ort zurückzubringen und damit auch die dortigen Unternehmen erhalten. Durch diese frühzeitige Festlegung war die Treuhandanstalt aber hinsichtlich der Übernahmekonditionen "erpressbar", was nur ein Moment der allgemein ohnehin eher schwachen Verhandlungsposition der Treuhandanstalt war, da sie unter dem politischen Druck stand, ihren Unternehmensbestand schnellstmöglich zu verkaufen. Deshalb erschienen die Vertreter der Privatisierungsbehörde - unabhängig von ihrer persönlichen Herkunft - in den ostdeutschen Betrieben oft als Vertreter der potentiellen (westlichen) Käufer.

Die unternehmerische Dimension des Vereinigungsprozesses der Zeiss-Unternehmen umfasste neben der Zusammenführung der beiden Zeiss-Unternehmen in unterschiedlichem Maße auch die Notwendigkeit, auf die zunehmende internationale Verflechtung der Volkswirtschaften und den verstärkten weltweiten Wettbewerb der Unternehmen der entwickelten Industrieländer und mehr und mehr auch der Schwellenländer seit den 1970er Jahren zu reagieren. Dem hatte Zeiss Oberkochen bereits seit den 1970er Jahren Rechnung zu tragen, indem sie sich schneller und mehr an der Marktnachfrage und den potentiellen Kunden weltweit orientieren mussten. Aber das gelang nicht im erforderlichen Maße, wie eine führende Unternehmensberatung der Firma Ende der 1980er Jahre ins Stammbuch schrieb, was dann zur Neuorganisation des Unternehmens führen sollte. Jedoch wurden tiefergreifende Umstrukturierungen wegen der laufenden Gespräche über die Vereinigung mit dem Zeiss-Betrieb in Jena zunächst unterlassen, weil das die eigene Verhandlungsposition gegenüber der Treuhandanstalt schwächen hätte können. Das beschränkte wiederum die Möglichkeiten, die Zeiss Oberkochen für sich in Jena sah und letztlich bereitete dieses Unterlassen tiefergreifender Veränderungen dann mit den Weg in die Krise des Zeiss-Gesamtunternehmens Mitte der 1990er Jahre.

Dagegen hatte sich aber Carl Zeiss in Jena einer viel gravierenden Umwandlung zu stellen: Er musste vom "Volkseigenen Betrieb" zu einem marktorientierten Unternehmen - vorerst noch im Treuhand-Besitz - werden. Dazu gehörten der Abbau des Überbesatzes an Arbeitskräften und die konsequente Ausrichtung auf Marktbedingungen, kurz eine konsequente Sanierung. Letztlich war bei beiden Zeiss-Unternehmen ein Umbau - wenn auch in unterschiedlichem Maße und verschieden gewichtet - erforderlich. Neben der Notwendigkeit, die Unternehmen zu modernisieren, waren aber auch Lösungen zu finden, um die West- und die Ost-Unternehmen zusammenzuführen. Die beschränkte wirtschaftliche Potenz des Oberkochener Unternehmens zog eine Minimallösung nach sich, bei der nur die traditionellen Zeiss-Kernbereiche übernommen wurden. Die daraus erwachsende Gefahr einer Doppelung der Produktportfolios bei Zeiss war dem Oberkochener Vorstand im September 1990 zwar relativ früh bewusst. Bei den konkreten Entscheidungen, was wo zugeordnet werden sollte, verlor man sie aber etwas aus dem Blick, so dass das Zeiss-Unternehmen eine gewisse Zeit mit Doppelungen bei Produkten und Strukturen leben musste. Das Überleben von Carl Zeiss Jena ergab sich aber auch entscheidend daraus, dass es sich um ein Vorzeigeunternehmen der thüringischen und der ostdeutschen Wirtschaft handelte, das schon aus Prestigegründen nicht untergehen durfte.

Stiftungsrechtlich mussten bei der Vereinigung der beiden Carl-Zeiss-Stiftungen die Rechtspositionen beider Seiten gewahrt bleiben und trotzdem ein Weg gefunden werden, über den die Schaffung einer Stiftung möglich war. Formal geschah dies über einen Staatsvertrag zwischen Baden-Württemberg und Thüringen, den beiden Sitzländern der Carl-Zeiss-Stiftung, und dem Beitritt der Jenaer zur Heidenheimer Stiftung - ähnlich wie bei der staatlichen Wiedervereinigung zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Alles in allem kann die Vereinigung der beiden Carl-Zeiss-Stiftungen als ein Erfolg betrachtet werden, denn es gelang, eine einheitliche Stiftung zu schaffen, die die Stiftungszwecke erfolgreich verwirklicht und über die einschlägigen Namens‑ und Warenzeichenrechte verfügt. Seit Anfang des neuen Jahrtausends wurden die Beschäftigten der Carl Zeiss Jena GmbH und der Jenaer Glaswerk GmbH schrittweise ebenfalls der Stiftungsrechte teilhaftig. Insgesamt kostete dieser Prozess allerdings die weit überwiegende Zahl der Arbeitsplätze, die ehemals in Jena beim überdimensionierten Zeiss-Kombinat vorhanden waren. Jedoch fällt die Arbeitsplatzbilanz schon positiver aus, wenn man die zahlreichen Aus‑ und Neugründungen im Umfeld der drei aus dem Zeiss-Konglomerat hervorgegangenen Unternehmen Carl Zeiss Jena GmbH, Jenaer Glaswerk GmbH und Jenoptik GmbH einbezieht. Diese Gesamtlösung war aber nur möglich, weil sich auch Carl Zeiss Oberkochen einem schmerzhaften Umstrukturierungsprozess stellen musste, der ebenso mit Arbeitsplatzabbau verbunden war. Jedoch stellte dies nicht allein eine Konsequenz des Vereinigungsprozesses dar, sondern war vielmehr Folge und Teil des sich weltweit vollziehenden wirtschaftlichen Strukturwandels, dem alle beteiligten Unternehmen, darunter auch die Jenaer, Rechnung tragen mussten.

Bei allen Konflikten und Schwierigkeiten kann man den letztlich erfolgreichen Prozess der Zusammenführung der Carl-Zeiss-Stiftungen und der Stiftungsunternehmen als eine Art "Labor" der Wiedervereinigung betrachten: Auf Grund des vorhergegangenen Erfolgs, der Größe und der damit gegebenen wirtschaftlichen Potenz der Heidenheimer Stiftung und ihrer Unternehmen trat die Jenaer Stiftung ersterer bei. Dabei wurde Zeiss Jena und vor allem seinen Beschäftigten in dem Vereinigungsprozess die weitaus größere Anpassungsleistung abverlangt. Gleichwohl mussten sich auch die Stiftung in Heidenheim und die westlichen Stiftungsunternehmen verändern, woraus neben dem Umbau der Unternehmen und dem damit verbundenen Arbeitsplatzabbau später eine grundlegende Reform des Stiftungsstatuts folgte.


[1] Der vorliegende Text beruht auf: André Steiner, Die Vereinigung der Carl-Zeiss-Stiftungen West und Ost, in: ders./Louis Pahlow, Die Carl-Zeiss-Stiftung in Wiedervereinigung und Globalisierung 1989‑2004, Göttingen 2017, S. 13-368. Dort finden sich die detaillierten Quellenangaben. Gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der in Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik, Heft 1/2021, S. 26-31 erstmalig erschienen ist.