Die Treuhand als Prügelknabe, Blitzableiter und Sündenbock für einen Vorgang, der schmerzlich, aber grundsätzlich unvermeidlich war

 

Zur Vorgeschichte der Treuhandanstalt[1]

Von Richard Schröder[2]

Vorbemerkung: Meine persönliche Geschichte mit dem Treuhandthema

Dem Treuhandchef Karsten Detlev Rohwedder bin ich als Fraktionsvorsitzender der SPD in der Volkskammer persönlich begegnet und habe ihn gelegentlich auch um Rat gefragt. Seine Ermordung hat mich auch deshalb besonders berührt, weil ich 1990 brieflich mit dem Tode bedroht worden bin („Deine Hinrichtung ist beschlossen, Meckel folgt sogleich“) mit etwa der Begründung, wie sie sich im Bekennerbrief der RAF zur Ermordung Rohwedders fand.

Zu Rohwedders zehntem Todestag 2001 habe ich dem Bundesfinanzminister eine Gedenkveranstaltung für Rohwedder, das einzige Todesopfer des Einigungsprozesses, vorgeschlagen, auch seiner Familie wegen. Er hat nicht geantwortet. Der Sprecher der Treuhand, Wolf Schöde, hatte eine Konferenz über die Arbeit der Treuhand vorbereitet. Das Finanzministerium hat sie ihm verboten. Der Hintergrund war der, dass keine Bundesregierung, weder die von Kohl noch die von Schröder, mit der Treuhand in Verbindung gebracht werden wollte. Man sah es gern, wenn die Treuhand für die Schmerzen der Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft verantwortlich gemacht wird und nicht die Bundesregierung. Es war für die Bundesregierungen entlastend, dass die Treuhand als Prügelknabe, Blitzableiter und Sündenbock für einen Vorgang diente, der schmerzlich, aber grundsätzlich unvermeidlich war für alle ehemals sozialistischen Länder: der Ausstieg aus der Planwirtschaft und die Öffnung zum Weltmarkt.

Ich habe mich dann an Bundespräsident Rau gewendet. Der war mit Rohwedder und seiner Familie persönlich vertraut und hat eine Gedenkveranstaltung im Schloss Bellevue veranlasst, aber nur für geladene Gäste unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Zum zwanzigsten Jahrestag war Wolfgang Schäuble der Finanzminister. Ich habe auch ihn an dieses Datum erinnert. Er war sofort für eine öffentliche Gedenkveranstaltung und ließ sich auch für ein erstes Symposion zur Arbeit der Treuehand gewinnen. Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué hat das Symposion organisiert.

Bei diesem Symposion erfuhr ich, dass die Erforschung der Treuhand blockiert ist, weil wegen der üblichen Sperrfrist für Behördenakten von 30 Jahren kaum Unterlagen zur Verfügung stehen. Alle bisherigen Veröffentlichungen zur Treuhand beruhten also nicht auf Aktenkenntnis. Herr Paqué und ich haben uns darauf an den Bundesfinanzminister gewandt mit der Bitte, diese Sperrfrist zu verkürzen. Herr Paqué hat zudem Wissenschaftler gewonnen, die bereit waren, sich an einem Projekt zur Erforschung der Arbeit der Treuhand zu beteiligen. Bundesminister Schäuble hat erreicht, dass die zuständigen Institutionen einer solchen Verkürzung zugestimmt haben. Ab 2016 begann die Übernahme von Treuhandakten in das Bundesarchiv. Sie wurden damit für jedermann zugänglich. Zudem hat das Bundesfinanzministerium einen erheblichen Betrag für 10 Forschungsaufträge zur Verfügung gestellt. Dieses Projekt unter Leitung von Prof. Dr. Dierk Hoffmann ist beim Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) angesiedelt. Es wurde von einem internationalen wissenschaftlichen Beirat begleitet, dessen Vorsitz ich innehatte. Die Mitglieder sind ausschließlich von Herrn Paqué und dem IfZ nominiert worden, ohne Mitwirkung des Bundesfinanzministeriums. Dies Jahr erscheinen die ersten vier Bücher aus diesem Projekt.

I. Die Aufgabe der Treuhand

Die Aufgabe der Treuhand war die Überführung einer Volkswirtschaft von der zentralen Planwirtschaft in die soziale Marktwirtschaft des bundesdeutschen Typs. Dafür gab es keine Vorbilder. Es gab massenhaft Bücher zum Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, über deren Nutzen ich schweige, aber es gab keine Bücher für den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus, weil es den nach marxistischer Lehre gar nicht geben konnte. Es gab in der Bundesrepublik Beispiele für die Privatisierung von Staatsbetrieben wie VW und VEBA, später der Bahn und der Post. Diese Privatisierungen wurden aber bei konstanten rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen vollzogen. Beim Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft dagegen änderten sich auch diese Rahmenbedingungen so fundamental – als wenn sich während einer Reise auch die Landkarte ändern würde.

Diesen Prozess von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft mussten nach dem Ende des RGW und der Sowjetunion ab 1990 insgesamt 21 Staaten durchstehen. Sie sind verschiedene Wege gegangen mit verschiedenen Ergebnissen. Überall war dieser Prozess mit großen Schmerzen, dem Zusammenbruch von Industriebetrieben und hoher Arbeitslosigkeit verbunden, oft zudem mit Superinflation und Verarmung, was den Ostdeutschen erspart geblieben sind. Denn unter diesen 21 Staaten war die DDR deshalb ein Sonderfall, weil sich hier die Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft mit dem Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung so intensiv verband, dass viele bis heute beides in einen Topf werfen: Mit der Vereinigung kam die Arbeitslosigkeit, also ist angeblich der Westen schuld. In den anderen ehemals sozialistischen Ländern kam aber nach 1990 auch die große Arbeitslosigkeit, ohne Vereinigung mit einem kapitalistischen Staat und das hieß auch: Ohne die sozialen Abfederungen, die den schmerzlichen Prozess in Ostdeutschland etwas gemildert haben.

In Ostdeutschland wurde der Übergang zur Marktwirtschaft als Privatisierung vollzogen: Die Betriebe wurden verkauft. Deshalb stellt sich die Frage: wie bemisst sich eigentlich der Wert eines Unternehmens?

II. Exkurs über den ökonomischen Wert

Ich hatte zu DDR-Zeiten einen Wartburg. Anfang 1989 hätte ich ihn, er war wohl 6 Jahre alt, noch für ein Jahresgehalt verkaufen können. 1991 habe ich ihn nicht einmal mehr verschenken können. Meine Tochter hat abgewinkt. Zwölf Liter auf hundert Kilometer seien ihr zu teuer. Er wurde verschrottet. Zurück blieb ein veritables Ersatzteillager, eben noch ein großer Schatz, jetzt nur noch Staubfänger. Wenn ich mich daran erinnere, was ich mit diesem Wartburg im Guten wie im Schlechten alles erlebt habe, was ich anstellen musste, um ihn am Laufen zu halten, beschleicht mich noch heute Wehmut. Der Wartburg hatte für mich einen erheblichen Gemütswert, aber nach 1990 plötzlich keinen Verkaufswert mehr. Seitdem suche ich vergeblich den Westdeutschen, der sich am verlorenen Verkaufswert meines Wartburg bereichert hat. Aber auch der Gebrauchswert ließ wegen seiner Reparaturanfälligkeit zu wünschen übrig. Also kaufte ich einen Golf, auf den ich nicht zehn Jahre warten musste, der nicht zwei Jahresgehälter kostete und noch dazu weniger verbrauchte. Und indem wir uns alle so verhielten, haben wir, die Ostdeutschen, das WartburgWerk und das Trabant-Werk in den Ruin getrieben. Denn ohne Käufer sinkt der Wert einer Autofabrik auf den Schrottpreis plus Immobilie. So einfach und so hart ist das.

Der Wert eines Unternehmens richtet sich, genau besehen, nämlich nicht danach, wieviel Geld hineingesteckt wurde. Unter konstanten Rahmenbedingungen mag das in etwa gelten, obwohl es bekanntlich auch Fehlinvestitionen gibt. Aber genau genommen, richtet sich der Wert eines Unternehmens allein nach der Gewinnerwartung. Die ist von vielen Faktoren abhängig, aber immer davon, dass sich genügend Käufer für die angebotenen Produkte oder Dienstleistungen finden. Wenn sich die Rahmenbedingungen fundamental ändern, kann ein Unternehmen von heute auf morgen zusammenbrechen, weil die Kunden abspringen.

III. Die Planwirtschaft und ihre Schwächen

Die Idee einer Planwirtschaft war einmal als rationale Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft gedacht. Sie sollte das, wie man überzeugt war, krisenanfällige und verschwenderische Konkurrenzprinzip beseitigen. Aber die Idee einer langfristigen Wirtschaftsplanung ist aus prinzipiellen Gründen weltweit gescheitert. Prognosen werden umso unsicherer, je weiter sie in die Zukunft reichen und je weiter sie ins Detail gehen. So ist denn auch kein einziger Fünfjahresplan der DDR[3] erfüllt worden. Dass die Zukunft nicht planbar ist, ergibt sich schon daraus, dass in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen die Entwicklung massiv beeinflussen, aber nicht antizipierbar sind.[4] Niemand weiß heute, was morgen erfunden und entdeckt wird. Zudem gibt es Missernten, Naturkatastrophen, revolutionäre Umbrüche und Kriege, die niemand vorausgesehen hat. Andererseits lassen sich die erforderlichen Daten für die Berechnung aller Bedürfnisse einer Bevölkerung, gar die Veränderung von Moden, gar nicht erfassen und sinnvoll verarbeiten.[5] Und Planwirtschaft ist innovationsfeindlich. Der Wettbewerb ist ein entscheidender Motor für Neuentwicklungen. Den hat die Planwirtschaft getilgt. So sind denn auch nahezu alle wesentlichen wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen des 20. Jahrhunderts im „kapitalistischen“ und nicht im „sozialistischen Weltlager“ erfolgt. Man vergleiche die Verteilung der Nobelpreise.

Zudem lässt sich zwar Entscheidungsbefugnis nahezu unbegrenzt konzentrieren, nicht aber Kompetenz,[6] so dass, wenn schließlich einer alles entscheidet, er mit Sicherheit meistens falsch entscheidet.

Die zentrale Planwirtschaft ist eine Wirtschaft mit extrem langen Rückkopplungswegen. Erst im nächsten Plan kann man umsteuern. Marktwirtschaft dagegen ist die Wirtschaftsordnung der kürzesten Rückkopplung, nämlich der Selbstregulierung über den Preis, der aus Angebot und Nachfrage entsteht, und zwar nicht durch eine Behörde, sondern durch die Masse der Marktteilnehmer.

Viele Westdeutsche stellen sich die DDR-Betriebe vor wie westdeutsche, bloß mit Ostgeld. Sie haben keine Ahnung von der zentralen Planwirtschaft und auch in Ostdeutschland deren Detailkenntnis massiv zurück. Man pflegt sich die früheren Verhältnisse ungefähr wie die gegenwärtigen vorzustellen. Dann kann man sich nur schwer vorstellen, was es bedeutete, dass in der Planwirtschaft der Markt als Regulativ abgeschafft war und was das für Folgen hatte. Nebenbei: überall, wo der Markt offiziell abgeschafft wird, entsteht ein Schwarzmarkt, der jedenfalls ungerechter ist als der Markt.

Die Unternehmen hatten den Plan zu erfüllen, der Gesetzeskraft hatte. Die Planerfüllung wurde bemessen nach bis über 200 Plankennziffern und nicht nach dem Gewinn. Ihren Gewinn konnten die Betriebe gar nicht kennen. Denn für folgende Aufgaben waren die Betriebe nicht mehr zuständig:

  1. Für die Rentabilität, also die Bilanz nach Einnahmen und Ausgaben in Geld
  2. Für Einkauf und Verkauf
  3. Für Löhne und Preise
  4. Für ihre Produktpalette
  5. Für das Marketing
  6. Für Investitionen und Kredite

All diese Aufgaben waren den Betrieben entzogen und in die Wirtschaftsbürokratie der Fachministerien bzw. der Bezirksverwaltungen verlegt. Den Verkauf der Produkte übernahmen der Großhandel und die staatlichen Außenhandelsunternehmen.

In einer Marktwirtschaft trifft dagegen jedes Unternehmen seine Entscheidungen und steht für die Folgen ein durch wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg. Dieser Zusammenhang von Entscheidungsbefugnis und Haftung wurde in der Planwirtschaft aufgelöst. Funktionäre entschieden, aber hafteten nicht für wirtschaftlichen Misserfolg. Der konnte im großen Meer des Staatshaushalts unsichtbar gemacht werden. Die Bemessung des wirtschaftlichen Erfolgs nach Plankennzahlen statt nach Geld eröffnete geradezu unbegrenzt Zahlenspiele und Scheinerfolgsmeldungen.

Gegen die Treuhand ist oft der Vorwurf erhoben worden, Betriebe seien trotz voller Auftragsbücher geschlossen worden. Das ist tatsächlich geschehen. Denn nach der Währungsunion haben manche Betriebe ihre Produkte zu Mondpreisen unter den Fertigungskosten angeboten. Die Differenz musste die Treuhand als Eigentümer bezahlen. Sie haben einfach so weiter gemacht, wie sie es aus der Planwirtschaft gewohnt waren: Die Stückzahl musste stimmen und die Lohnkosten reinkommen, für alles andere waren andere zuständig.

Zur Währungsunion am 1.7.1990 sollten alle Betriebe eine DM-Eröffnungsbilanz vorlegen. Es stellte sich heraus: die meisten konnten das gar nicht, weil in der Planwirtschaft andere Daten, wie die genannte Plankennziffern, erfasst wurden, als für eine kaufmännische Bilanz nötig waren. Erst nach zwei Jahren lagen alle Bilanzen vollständig vor. Die Treuehand, die größte Industrie-Holding der Welt, wusste also zunächst über ihre Betriebe gar nicht Bescheid. Sie musste alle einzeln besuchen und evaluieren lassen.

In der Marktwirtschaft sorgen flexible Preise dafür, dass sich im Preis Angebot und Nachfrage abbilden. Knappe Güter werden teurer, das reizt zur Erhöhung des Angebots, was zu sinkenden Preisen führt. Dieser Mechanismus wurde in der Planwirtschaft außer Kraft gesetzt. Die Folge davon war, dass sich in den Geschäften Ladenhüter häuften, weil Räumungsverkäufe mit Preissenkung verboten waren, begehrte Güter aber immer knapp waren, weil es keinen Mechanismus für die schnelle Erhöhung des Angebots gab. Man kann die DDR-Wirtschaft deshalb als Mangelwirtschaft beschreiben, deren Ausdruck das Schlangestehen war. Für knappe Güter entstand ein informeller und illegaler Tauschmarkt, der sich zwischen Freundschaftsdienst und Korruption bewegte. Bückware nannte man die knappen Güter, die nicht im Regal standen, sondern verpackt für die Freunde unter dem Landtisch schweigend hervorgeholt wurden.

IV. Drei Schutzschirme für die DDR-Wirtschaft, die mit dem Mauerfall zerbrachen

Trotz dieser Schwächen funktionierte die DDR-Wirtschaft bis zum Mauerfall passabel - oberflächlich betrachtet. Jeder hatte einen Arbeitsplatz. Die Einkommen waren auskömmlich. Es gab für DDR-Produkte kaum Absatzprobleme, weder im Inland noch im Ausland. Und die Mangelwirtschaft war man ja gewohnt. Man kompensierte sie durch Horten, Tauschen, „Organisieren“.

Die DDR-Wirtschaft funktionierte passabel, aber nur unter folgenden drei Bedingungen:

1. Die DDR-Wirtschaft war von der Weltwirtschaft isoliert durch eine Grenze, die auf Seiten der DDR nur für den Handel der Staatshandelsbetriebe durchlässig war. Und die Ostmark war nicht konvertibel. Sie privat in Westmark umzutauschen, wurde hart bestraft. Dadurch wurden die Ostwaren vor den attraktiveren Westwaren geschützt. Zugleich war das eine Absatzgarantie für die Ostwaren mangels Alternative. Aber Westwaren waren in der DDR weitaus beliebter als die Ostwaren und auch bekannt, durch Westpakete, durch die Fernsehreklame und durch die „Intershops“. Da die DDR-Regierung einen unstillbaren Hunger nach Devisen, sprich Westgeld hatte, richtete sie staatliche Geschäfte ein, in denen Westwaren für Westgeld gekauft werden konnten, zunächst nur für westdeutsche Besucher, später auch für Ostdeutsche, für diese zuletzt nur mit den „Forum-Schecks“. In der Bundesrepublik dagegen kam niemand auf die Idee, Geschäfte einzurichten, in denen man nur für Ostgeld Ostwaren kaufen durfte.

2. Auch der Handel zwischen den sozialistischen Ländern (RGW, Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) wurde über eine nicht konvertible Währung abgewickelt, den Transferrubel. Das bewirkte auch für den Export der sozialistischen Länder unter einander eine Absatzgarantie und den Schutz vor der Weltmarktkonkurrenz. Die DDR konnte z.B. ihre PKWs Marke Wartburg und Trabant nach Ungarn liefern, obwohl man dort lieber japanische Autos gekauft hätte, die gab es aber nicht für Transferrubel.

3. Die DDR exportierte auch in den Westen, das sogenannte NSW, das nichtsozialistische Währungsgebiet. Im unteren Preissegment von Versandhäusern wurden Kühlschränke ostdeutscher Produktion und manches andere anonym verkauft. Sie waren solide, aber nicht die modernsten. Da in der DDR immer Devisenknappheit herrschte, wurde dabei nicht 1:1 gerechnet, sondern genommen, was geboten wurde. Das war je nach Produkt sehr verschieden. Es war ein Tauschhandel. Der sogenannte Richtungskoeffizient besagte, wie viele Ostmark zum Erwerb einer Westmark durchschnittlich eingesetzt werden mussten. 1989 lag er bei 4,4:1. Durch diesen Kurs konnte die DDR beim Westexport ihre niedrigere Arbeitsproduktivität und ihre höheren Produktionskosten kompensieren. Diese drei Faktoren schützten die DDR-Waren wie eine Käseglocke vor der Konkurrenz der attraktiveren Waren des Weltmarktes.

Diese Käseglocke zerbrach durch drei Ereignisse, die die DDR-Wirtschaft in eine schwere Krise stürzten, aber mit der Treuhand überhaupt nichts zu tun hatten, weil sie sich vor Beginn ihrer Privatisierungstätigkeit (September 1990) ereigneten.

1. Durch die unvorbereitete Maueröffnung prallten zwei Warenwelten ungebremst aufeinander. Die Grenze fiel nicht nur für Personen, sondern auch für Geld und Waren. Die anderen ehemals sozialistischen Länder konnten ihre Waren eine Zeit lang durch Zölle schützen und ihre Exportchancen durch die Abwertung ihrer Landeswährung verbessern. Aber niemand wollte nach dem Mauerfall Zollkontrollen an der innerdeutschen Grenze errichten. Deshalb kam die Transformation ungebremst als Schock.
Die Bundesregierung gewährte jedem Besucher aus der DDR 100 DM Begrüßungsgeld. Doch damit ließen sich nicht alle Wünsche erfüllen. Die Ostmark wurde schlagartig konvertierbar. Es entstand ein Umtauschkurs nach Angebot und Nachfrage. Das Überangebot an Ostmark führte zunächst zu einem Kurssturz bis zu 1:12. Das Grundgesetz kannte nur eine deutsche Staatsbürgerschaft. Deshalb genossen alle DDR-Bürger in der Bundesrepublik uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit und konnten sofort eine Arbeit aufnehmen. Eine Sprachbarriere gab es nicht. Das Durchschnittseinkommen lag, 1:1 gerechnet, in der DDR bei 30% des westdeutschen, bei Facharbeitern bei 48%. Das erklärt, warum nach der Maueröffnung die Ausreisewelle nach Westen nicht etwa abnahm, sondern anschwoll. Am 12. Februar 1990 riefen Demonstranten in Leipzig: „Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“. Das war eine Drohung und schlug in Bonn wie eine Bombe ein. Die Bundesregierung bot der Regierung Modrow am 13. Februar 1990 die Währungsunion an, um die Ostdeutschen zum Bleiben zu motivieren. Nach Lehrbuch hätte eine Währungsunion eine mindestens fünfjährige Anpassungsphase mit tiefgreifenden Reformen in der DDR durchlaufen sollen. Doch die ungeplante Öffnung der Grenze für Personen, Geld und Waren hatte alle Konzepte einer zeitlich gestreckten Annäherung zunichte gemacht. Die Währungsunion kam als Sturzgeburt, nämlich unter ökonomischen Gesichtspunkten zu früh, und als Steißgeburt, nämlich verkehrt herum: vor, nicht nach der Wirtschaftsreform oder Transformation. Die Folge der Währungsunion für den Westexport: aus dem „Richtungskoeffizienten“ 1:4,5 wurde bei den Löhnen 1:1, also eine Vervierfachung der Lohnkosten. DDR-Waren wurden im Westen unverkäuflich teuer. Die niedrige ostdeutsche Arbeitsproduktivität gegenüber der westdeutschen (30 %) führte sogar dazu, dass nun in der DDR Westwaren oft billiger waren als Ostwaren, zumal mit der Währungsunion auch die erheblichen staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel und Waren des „täglichen Bedarfs“ (50 Mrd. Ostmark jährlich) wegfielen. Ostwaren wurden Ladenhüter. Sie hatten oft ein Qualitätsproblem, nun außerdem ein Preisproblem und ein Designproblem. Viele Jahre musste man in der DDR auf einen PKW Marke Trabant warten. Jetzt konnte er sofort gekauft werden, nun sogar mit VW-Motor. Trotzdem fand er keine Käufer mehr. Durch Kaufverweigerung ging das Trabantwerk unter und durch nichts sonst. Vielen Ostdeutschen ist wahrscheinlich bis heute nicht klar, dass ihr sehnlichster Wunsch: die D-Mark sofort und 1:1, sehr viele Arbeitsplätze kosten musste. Und Ostwaren produzieren, aber Westwaren konsumieren, das konnte auf Dauer nicht funktionieren. Mit der Treuhand hat das alles überhaupt nichts zu tun.

Und der dritte Schlag, der die DDR-Wirtschaft schwer traf, war der Beschluss der sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) vom Februar 1990 in Sophia, den Transferrubel vom 1.1.1991 an abzuschaffen, also den Handel zwischen den Ländern des Ostblocks auf Devisen umzustellen. Dies geschah noch zu Zeiten der Regierung Modrow. Die Sowjetunion wollte für ihre Rohstoffe Devisen sehen und keine Transferrubel. Andere Länder wollten die Beschränkungen auf den Warenaustausch im RGW-Bereich loswerden. Große DDR-Betriebe mit mehreren Tausend Arbeitskräften verloren damit schlagartig ihren Absatzmarkt, der ihnen vorher durch RGW-Absprachen politisch garantiert war.

Die Bundesregierung hat 1991 noch mit Gorbatschow einen Handelsvertrag über 21 Mrd. DM abgeschlossen, der die Exporte der Ostwirtschaft in die Sowjetunion auf absichern und Abnahmegarantien schaffen sollte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Krise der russischen Staatsfinanzen war das Abkommen jedoch nur noch Makulatur, auch dies ein Schlag gegen die Ostwirtschaft, der mit der Treuhand nichts zu tun hatte.

Schürers Gutachten zur DDR-Wirtschaft vom 30.10.1989

Bis zur Maueröffnung funktionierte die DDR-Wirtschaft passabel – oberflächlich betrachtet. Als mit der Maueröffnung die Abschirmung vor der Weltmarktkonkurrenz schlagartig wegfiel, wurde schnell die Schwäche der DDR-Wirtschaft offenbar. Den führenden Wirtschaftsfunktionären der DDR sowie der zuständigen Stasi-Abteilung [7] war der hochkritische Zustand der DDR-Wirtschaft und der Staatsfinanzen allerdings schon lange bekannt. Aber Honecker war nicht bereit gewesen, diese Probleme zur Kenntnis zu nehmen.[8] Nachdem Honecker am 18. Oktober 1989 im Politbüro der SED zum Rücktritt genötigt worden war, beauftragte sein Nachfolger Egon Krenz die wichtigsten Wirtschaftsfunktionäre der SED unter Leitung des Chefs der Plankommission, Gerhard Schürer, eine ungeschminkte Darstellung der finanziellen und ökonomischen Situation der DDR vorzulegen. Dieses sogenannte Schürer-Gutachten[9] ist auf den 30.Oktober 1989 datiert, also noch vor dem Mauerfall verfasst worden. Es wurde nur dem Politbüro und nicht einmal dem Zentralkomitee bekannt gemacht. Bei der ersten Sitzung des ZK nach Honeckers Rücktritt – es war der Tag, an dem eine verunglückte erste Pressekonferenz die Maueröffnung auslöste – wurde Egon Krenz gefragt, ob es stimme, dass die DDR verschuldet sei. Krenz antwortete dem ZK , dazu könne er nichts sagen, da müssten zuvor die gesetzlichen Bestimmungen über Geheimhaltungspflichten geändert werden. Das Gutachten war weder dem Runden Tisch noch bei den Koalitionsverhandlungen nach den freien Volkskammerwahlen zugänglich. Nur dem Kabinett Modrow, dem auch Lothar de Maizière angehörte, war es vertraulich übermittelt worden. In Bonn wurde es erst Ende April 1990 bekannt.[10] Wäre es im Herbst 1989 öffentlich geworden, hätten die damaligen lebhaften Diskussionen einen anderen Verlauf genommen. Bis zum Bekanntwerden dieses Gutachtens machte man sich in Ost und West Illusionen über das Potenzial der DDR-Wirtschaft , weil man es nicht besser wusste. Am Runden Tisch wurden Pläne geschmiedet, das „Volkseigentum“ der DDR durch Anteilscheine im Wert von 40.000 Mark pro Person an die DDR-Bevölkerung zu verteilen.[11] Im Westen hing man bis in den Mai 1990 der Illusion an, die Modernisierung der DDR-Wirtschaft könne durch die Privatisierungserlöse finanziert[12] und in fünf Jahren bewältigt werden.

Das Gutachten geht zuerst auf den Zustand der Staatsfinanzen ein (1), sodann auf den der DDR-Wirtschaft (2) und macht schließlich Reformvorschläge, ohne die die Zahlungsunfähigkeit der DDR eintreten würde (3). Die wesentlichen Aussagen waren:

Ad 1). Der Staatshaushalt der DDR war zwiefach verschuldet.       

(a) Für Honeckers gewaltiges Neubauprogramm hatte der Staat zunehmend Kredite in Ostmark aufgenommen. „Geldumlauf und die Kreditaufnahme des Staates, darunter wesentlich aus den Spareinlagen der Bevölkerung, warenschneller gestiegen als die volkswirtschaftliche Leistung“ (S. 7). Diese Binnenverschuldung war aber nicht das Hauptproblem.

(b) Das Hauptproblem war die enorm gewachsene Verschuldung der DDR in Westmark (genannt Valutamark, VM). Sie sei von 2 Mrd. DM 1970 auf 49 Mrd. DM 1989 angestiegen (S. 5).[13] Die Höhe dieser Schulden war jedoch nicht der entscheidende Punkt, sondern: Da die Ostmark nicht konvertibel war, konnten diese Schulden nicht, wie sonst üblich, mit der Landeswährung beglichen werden, sondern nur durch zusätzliche Exporte in den Westen. Es gäbe aber keine zusätzlichen exportfähigen DDR-Produkte, so das Gutachten (S. 9). 1989 übersteige der Westimport den Westexport um 14 Mrd. DM (S. 7).

Die Verschuldung in DM hätte eine Höhe erreicht, bei der der Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) nicht, wie allgemein üblich, maximal 25 % der Exporterlöse verbrauchte, sondern 150 %. Es wurden also Schulden mit neuen Schulden bedient (S. 8): Nur weil das nicht allgemein bekannt war, galt die DDR noch als zahlungsfähig und kreditwürdig.[14] „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25-30% erfordern und die DDR unregierbar machen“ (S. 13). Deshalb bräuchte die DDR von der Bundesrepublik einen weiteren Kredit in Höhe von zwei bis drei Milliarden DM (S. 13). Als Gegenleistung sollte laut Gutachten angeboten werden, dass das gegenwärtige Grenzregime bis zum Jahr 2000 überflüssig werde (S. 14).[15]

Ad 2. Zum Zustand der DDR-Wirtschaft:

(a) „In bestimmten Bereichen der Volkswirtschaft sind die Ausrüstungen stark verschlissen, woraus sich ein überhöhter und ökonomisch ineffizienter Instandsetzungs- und Reparaturbedarf ergibt“ (S. 5)

(b) Der Stasioffizier Kleine verwies darauf, dass die 49 Brikettfabriken der DDR durchschnittlich 75 Jahre alt seien. Er bezifferte den Investitionsbedarf zur Modernisierung der Industrie auf 500 Mrd. Mark. Das entspreche dem zweifachen jährlichen Nationaleinkommen und sei auch in fünf Jahren nicht zu leisten.[16]

(c) Weil die Investitionsmittel fehlten, konnte „eine Reihe wissenschaftlich-technischer Ergebnisse nicht in die Produktion überführt werden“ (S. 5).

(d) Honecker hatte die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ proklamiert und dem Konsum Vorrang vor der Stärkung der Wirtschaftskraft eingeräumt. Das Gutachten moniert, „dass die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruhte, sondern zu einer wachsenden Verschuldung im NSW führte“ (S. 5).

Ad 3. Als Wirtschaftsreform schlug Schürer vor: „Es ist eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik verbunden mit einer Wirtschaftsreform erforderlich“ (S. 9), nämlich:

(a) verstärkte Investitionen in die Bereiche, die durch Exportsteigerung zusätzliche Devisen einbringen (S.10).

(b) „Das Missverhältnis zwischen produktiven und unproduktiven Kräften“ ist zu beseitigen, deshalb: „drastischer Abbau von Verwaltungs- und Bürokräften sowie hauptamtlich Tätigen in gesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen“ (S. 10).

(c) „bedeutende Einschränkung von Arbeitsplätzen durch Investitionen in Erhaltung, Modernisierung und Rationalisierung“ (S. 10).

(d) „grundlegende Veränderung in der Subventions- und Preispolitik“ (S. 10).

(e) Bei Gütern des Bedarfs der Bevölkerung ist „den ökonomischen Wirkungen von Angebot und Nachfrage und entsprechender Preisbildung […] größerer Spielraum zu geben“ (S. 11).

(f) „Klein- und Mittelbetriebe aus den Kombinaten ausgliedern“ (S. 11).

(g) Die gesetzlichen Bestimmungen für Handwerk und Gewerbe sind „großzügiger“ zu gestalten (S. 11).

(h) „Die Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung, wirtschaftlichen Erfolg und Misserfolg ist wesentlich zu erhöhen“ (S. 12).

(i) „Der Wahrheitsgehalt der Statistik und Information ist auf allen Gebieten zu gewährleisten“ (S. 12).

„Als erster Schritt ist eine bedeutende Senkung des Planungs- und des Verwaltungsaufwandes auf allen Ebenen notwendig.“ Die „Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe (ist) wesentlich zu erhöhen“[17] (S. 11).

Das Gutachten spricht sich zwar für die Beibehaltung der Planwirtschaft aus.[18] Die Reformvorschläge weisen aber durchweg in Richtung Marktwirtschaft: die Planungsintensität reduzieren, freie Preisbildung nach Angebot und Nachfrage, stärkere Eigenverantwortung der Betriebe, Rolle des Geldes als Leistungsmaßstab erhöhen.

Zehn Tage nach diesem Gutachten wurde die Mauer geöffnet. Nach einem Monat traten ZK und Politbüro der SED zurück. Am 7.12.1989 trat erstmals der Runde Tisch zusammen, um die freie Volkskammerwahl vorzubereiten und den Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Doch damit waren die Probleme der DDR-Wirtschaft nicht gelöst. Sie wurden der Treuhand sozusagen vor die Tür gekippt.

VI. Hans Modrows Wirtschaftsreformen

Am 13. November 1989 wurde Hans Modrow (SED) zum Ministerpräsidenten gewählt und hatte dieses Amt inne bis zur Wahl Lothar de Maizières durch die frei gewählte Volkskammer am 12. April 1990. Mit vier Entscheidungen wollte er der Wirtschaft der DDR auf die Beine helfen, dies aber mit nur spärlichem Erfolg.

  1. Honecker hatte 1972 die privaten und halbstaatlichen mittelständischen Betriebe in einer Großaktion enteignet, insgesamt 11.400 Unternehmen. Das waren natürlich exklusiv Ostdeutsche. Unter Modrow wurde beschlossen, dass diese Betriebe ihren ehemaligen Eigentümern oder deren Erben zurückgegeben werden können.[19] Modrow war es also, der mit der Privatisierung von volkseigenen Unternehmen begonnen hat. Gleichzeitig wollte er so die Forderung Schürers nach Ausgliederung von Klein- und Mittelbetrieben aus den Kombinaten nachkommen. Der gewünschte Erfolg ist nicht eingetreten. Es wurden lediglich ca. 3.500 Anträge auf Rückerstattung gestellt und von denen waren im Juni 1997 nur 2.700 am Markt, aber nur 500 von ihnen hatten eine gesicherte Perspektive.
  2. Modrow war bewusst, dass der DDR-Wirtschaft zweierlei fehlte: weltmarktfähige Produkte und Kapital für die Erneuerung des Maschinenparks. Beides konnte nur aus der Bundesrepublik kommen, denn die Sowjetunion hatte erklärt, sie könne der DDR aus ihren wirtschaftlichen Problemen nicht heraushelfen. Überall erscholl der Ruf nach westdeutschen Investoren. Überall wurden Gewerbegebiete errichtet, oft zu groß. Modrow und seine Wirtschaftsministerin Christa Luft wollten aber – vom Privatisierungskonzept der Honecker-Enteignungen abgesehen – das sogenannte. Volkseigentums nicht angreifen. Deshalb wurden Joint ventures, Gemeinschaftsbetriebe mit westlichen Unternehmen, nur bis zu einer Westbeteiligung von 49 Prozent zugelassen. Da die westlichen Investoren dann immer überstimmt werden konnten, sind, so viel mir bekannt, keine gekommen.
  3. Am 2. Februar erklärte Modrow gegenüber Kanzler Kohl in Davos, es sei „möglich, die DM zur alleinigen Währung der DDR zu machen.“[20] Am 6. Februar bot Kanzler Kohl öffentlich Gespräche über die Einführung der DM in der DDR an. Am 12. Februar riefen Demonstranten auf einer Montagsdemonstration: „Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“ Bei Modrows Besuch in Bonn am 13. Februar 1990 wurde eine gemeinsame Kommission zur Vorbereitung der Währungsunion beschlossen. Für den Weg zur deutschen Einheit war das ein Meilenstein. Aus Modrows Sicht war es wohl ein Akt der Resignation, vielleicht auch der Kapitulation vor den wachsenden währungspolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die D-Mark war de facto seit dem Mauerfall in der DDR zur Zweitwährung, wenn nicht gar zur Leitwährung geworden. Fachkräfte gingen massenhaft in den Westen. Bis in die unterste Ebene verlor die Regierung ihre Durchsetzungskraft, klagte Modrow gegenüber Helmut Kohl in Davos.
  4. Aus dem Einigungsgedächtnis fast völlig verschwunden ist die Erinnerung an die Modrow-Treuhand. Unter Modrow wurde sie gegründet und agierte offiziell vom 1. März 1990 bis zur Währungsunion am 1.7.1990, de facto aber über die Sommerpause bis in den September 1990. Sie sollte das Volkseigentum erhalten, durfte also nicht privatisieren. Sie sollte die Volkseigenen Betriebe und Kombinate aber in marktwirtschaftlich taugliche Rechtsformen überführen, also in Aktiengesellschaften oder GmbHs – in Treuhandbesitz. In die Unternehmensführung durfte sie nicht eingreifen. Besetzt war sie übrigens mager und ausschließlich von ostdeutschen Wirtschaftsfunktionären, nicht selten von Betriebsdirektoren, die im Herbst 1989 von ihren Belegschaftsversammlungen in „revolutionär-demokratischen“ Verfahren (m.a.W. ohne Rechtsgrundlage im damaligen Rechtssystem) abgewählt worden waren. Soweit mir bekannt, hat diese Modrow-Treuhand keinen einzigen ihrer Betriebe für den Weltmarkt fit gemacht. Die einzige Leistung, die man dieser Treuhand bescheinigen kann, ist die flächendeckende Verteilung von 20 Mrd. DM an Liquiditätskrediten, die den Unternehmen die Lohnzahlung für den Juli in DM ermöglichte, obwohl die meisten noch gar keine Einnahmen in DM machen konnten. Nebenbei, wenn die Bundesrepublik es auf den Ruin der DDR-Wirtschaft abgesehen hätte, hätte sie bloß diese Liquiditätskredite verweigern müssen.

Im Übrigen war das eine Phase des „Wilden Ostens“, in der, wenn sie länger angehalten hätte, wohl wie in anderen ehemals sozialistischen Ländern, clevere, aber manchmal auch finstere Typen sich das „Volkseigentum“ unter den Nagel gerissen hätten. Das geflügelte Wort war damals: „Seilschaften“, gemeint war: der Stasi und der SED.

Es gibt kaum Zeugnisse über die Modrow-Treuhand. Aber der damalige Chef der Erfurter Niederlassung, Ulrich Zöfeld, hat einen Bericht zu Papier gebracht. Er war, wie damals noch alle „Treuhänder“, DDR-Bürger. Er wurde dreimal wöchentlich nach Berlin zu achtstündigen Vorlesungen westdeutscher Lehrkräfte über Marktwirtschaft geschickt und schreibt dazu: das war „wie der Beginn des Erlernens einer Fremdsprache.“ Er berichtet auch von seinen trüben Erfahrungen mit den damaligen Betrieben. Ihre Berichte enthielten nichts über die Chancen ihrer Produkte auf dem Markt, keine Vorschläge, wie man auf die veränderten Marktbedingungen reagieren will und nichts über die zukünftige Finanzierung. [21]

Es war wohl so: Die Betriebsleiter erwarteten von der Modrow-Treuhand Hinweise für den Eintritt in die Weltwirtschaft und die Treuhandmitarbeiter von den Betriebsleitern. In Wahrheit hatten beide nicht die notwendigen Marktkenntnisse, die Betriebe verfügten über keine Vertriebsstrukturen, es gab keine Kostentransparenz, die Fertigungskosten waren unbekannt und die hohe Fertigungstiefe, also zu geringe Spezialisierung, minderte die Produktivität. Aber in welchem Umfang sie all das betraf, wussten Die Betriebsleiter nicht.

Da Modrows Reformbemühungen fast wirkungslos blieben – ein halbes Jahr war vertan – und mit der Währungsunion der Umbau der Wirtschaft dringender wurde, beschloss die frei gewählte Volkskammer am 17. Juni 1990 ein neues Treuhandgesetz, das die Grundlage für die Arbeit der Treuhand in den nächsten vier Jahren wurde. Der Chef der Treuhand, ab 20. August 1990 Detlev Karsten Rohwedder,[22] ein sehr erfahrener westdeutscher Sanierer, wurde schließlich von der Regierung de Maizière berufen. Obwohl das Treuhandgesetz der Volkskammer bereits am 1. Juli in Kraft getreten war, kam die Arbeit der Volkskammer-Treuhand erst nach der Sommerpause in Schwung. Und da es erst nach der deutsch-deutschen Vereinigung zu Betriebsschließungen kam, entstand der Eindruck, die Treuhandanstalt sei eine Erfindung des Westens gewesen und dem Osten aufoktroyiert worden, wohl gar, um die ostdeutsche Wirtschaft als Konkurrenz der westdeutschen auszuschalten. „Die Treuhand hat die DDR-Wirtschaft vor allem zum Vorteil westdeutscher Unternehmen abgewickelt.“ Diesem Satz stimmten im Jahre 2019 bei einer Umfrage 71% der Ostdeutschen und 44% der Westdeutschen zu.[23]

VII. Ein Pseudoskandal: Margarethenhütte Großdubrau

Besonders medienwirksam hat die sächsische Staatsministerin Petra Köpping 2018 eine solche Geschichte in die Welt gesetzt.[24] Sie erzählt: Die Margarethenhütte in Großdubrau habe sehr erfolgreich Hochspannungsisolatoren aus Porzellan produziert und zu 80 Prozent exportiert, auch in den Westen. Sie verfügte über moderne Maschinen aus der Schweiz. „Plötzlich hieß es aber über Nacht, der Betrieb müsse geschlossen werden. Es wurde behauptet, alles sei völlig veraltet und marode. Doch das ist nicht alles: Die damaligen Ingenieure erzählten mir, wie nachts die wichtigsten Betriebsunterlagen und Porzellan-Rezepturen sowie die letzten Mitarbeiterlöhne samt Tresor weggeschleppt wurden. Ich kann nur wie die ganze Belegschaft vermuten: Das geschah zugunsten der Konkurrenz.“ Viele große Zeitungen haben diese Geschichte ungeprüft übernommen. Als ich das las, war ich entsetzt. Wenn das stimmt, ist das ein Skandal erster Ordnung und gehört vor Gericht. Also gab ich bei Google „Großdubrau“ ein und bekam als erstes (!) einen neunseitigen Bericht der Bundesregierung von 1992 zu Großdubrau.[25] Bündnis 90/Grüne hatte nämlich diesbezüglich eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Ihr zufolge hatte die Schließung der Margarethenhütte überhaupt nichts zu tun mit Verkauf, Privatisierung, westdeutscher Konkurrenz oder Treuhand.

Die Margarethenhütte gehörte zum „VEB Keramische Werke Hermsdorf“, aus dem 1990 die „Keramischen Werke Hermsdorf – Tridelta AG“ wurde, mit insgesamt 19 Standorten, davon drei für Elektrokeramik. Bis zur Währungsunion war das ein sehr erfolgreiches DDR-Unternehmen. Aber seit der Währungsunion kam es zu massiven Einbrüchen des Absatzes. Im Dezember 1990 „wurde einvernehmlich mit den Arbeitnehmern im Aufsichtsrat und dem Betriebsrat der ‚Margarethenhütte‘ der Stilllegungsbeschluss gefasst“, der dann im Mai 1991 - und zwar nicht über Nacht - vollzogen wurde, so die Bundesregierung. Das Motiv war eine Konzentration der Standorte. Die Maschinen und die Rezepte sind nicht in den Westen abtransportiert worden, sondern nach Sonneberg in Thüringen, einem weiteren Standort der Tridelta AG. Dort laufen sie wohl bis heute. Aber auch die Tridelta AG ist nicht an einen Westdeutschen gekauft worden, sondern an Lothar Späths Jenaer Gründung Jenoptik gegangen.[26]

Ich habe das damals in der Zeitung „Die Welt“ veröffentlicht. Norbert Pötzl hat daraufhin Petra Köpping gefragt, was sie denn zu Schröders Enthüllungen sage. Sie hat geantwortet: Schröder hat ökonomisch recht und ich habe psychologisch recht. Für solche Weisheit bin ich wohl zu jung.

VIII. Die wirtschaftliche Entwicklung nach der Privatisierung. Ein Vergleich

Hier möchte ich kurz die Bilanz der Treuhand vorstellen. Denn in Sachen Treuhand herrscht in Deutschland eine Leichtgläubigkeit im Schlechten, die angebliche Skandale nachplappert, ohne sie auch nur mithilfe von Google zu überprüfen.

Die Privatisierung durch die Treuhand hat die Phase des „wilden Ostens“ verkürzt und verhindert, dass sich in Ostdeutschland Oligarchen des „Volkseigentums“ bemächtigt haben.

Die Währungsunion hat den Ostdeutschen auch die Superinflation erspart, durch die andere ehemals sozialistische Länder ihre Staatsschulden getilgt, aber auch die Sparguthaben vernichtet und eine Phase der Altersarmut in Kauf genommen haben.

Der statistische Vergleich ergibt, dass die ostdeutsche Wirtschaft in allen relevanten Parametern besser dasteht als die anderen ehemaligen sozialistischen Länder, außer bei „Forschung und Entwicklung“.

 

 

 

 

 

 

 


[1] Erstveröffentlichung des Vortrages vor dem Treuhand-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags am 8.11.22.

[2] Der Theologe Richard Schröder war 1990 bis zum 21.8.90 Fraktionsvorsitzender der ostdeutschen SDP/SPD in der erstmals demokratisch gewählten Volkskammer.

[3] Steiner, A., Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.

[4] Karl Popper, Das Elend des Historizismus. Vierte Auflage Tübingen 1974. Seite XI.

[5] „Wir als Staatliche Plankommission, von der man erwartete, dass wir die Versorgung durch detaillierte Planung gewährleisten, mussten die bittere Erfahrung machen, dass die ungeheure Vielfalt der Bedürfnisse einer Volkswirtschaft und der Bevölkerung zentral nicht plan- und beherrschbar ist.“ So Schürer in: ders, Planung und Lenkung (Anm. 12).

[6] Popper. Das Elend des Historizismus, S. 71.

[7]Andreas Malycha, Ein vertrauliches Gespräch von Gerhard Schürer, Chefplaner der DDR, mit der Stasi über die Wirtschaftspolitik der SED im April 1978, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, hrsg. von H. Altrichter, H. Möller, H.-P. Schwarz, A. Wirsching, Heft 2/2011, S. 283-305.Vgl. auch Uwe Bastian, Auf zum letzten Gefecht. Dokumentation über Vorbereitungen des MfS auf den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, Arbeitspapiere des Forschungsverbunds SED-Staat Nr. 9/1994, Berlin 1994.

[8] Hans-Hermann Hertle, Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtshaft. Das Scheitern der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ am Beispiel der Schürer/Mittag-Kontroverse im Politbüro 1988, in: Deutschland Archiv 25. Jg. (1992), S. 127-145.

[9] URL https://www.chronik-der-mauer.de/material/178898/sed-politbuerovorlage-analyse-der-oekonomischen-lage-der-ddr-mit-schlussfolgerungen-30-oktober-1989. Aus diesem Text wird im folgenden mit bloßer Seitenangabe zitiert.

[10] Johannes Ludewig, Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionören. Osburg-Verlag Hamburg 2015, S. 267.

[11] Wolfgang Seibel, Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/90, APuZ 11/2010. URL: https://www.bpb.de/apuz/32891/die-gescheiterte-wirtschaftsreform-in-der-ddr-1989-1990.

[12] Katja Fuder, Schnelle Privatisierung für schnelle Erlöse. Wie die Transformation der DDRT-Wirtschaft finanziert werden sollte, in: D. Hoffmann, Transformation (s. Anm. 5) S. 70-83.

[13] Apologeten der DDR erklären, Schürers Angaben seien zum Zweck der Dramatisierung übertrieben. Die DDR sei nicht zahlungsunfähig gewesen. Schürer selbst hat eingeräumt, dass die tatsächliche Verschuldung der DDR in Devisen niedriger war, aber nicht weil er übertrieben habe, sondern weil er die Devisenguthaben von Schalcks Koko-Imperium nicht einbeziehen, ja nicht einmal kennen durfte, denn es galt finanztechnisch als „Ausland“. Schürer hat als bereinigte Schuldenhöhe 14 Mrd. Dollar genannt (Gerhard Schürer, Planung und Lenkung der Volkswirtschaft in der DDR – Ein Zeitzeugenbericht aus dem Zentrum der DDR-Wirtschaftslenkung, in: E. Kuhrt u.a. (Hrsg.), Die Endzeit der DDR-Wirtschaft – Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik (Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren, hrsg. E. Kuhrt u.a. im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Bd. 4), Opladen 1999, S. 74. -Vgl. noch: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Juli 1990, S. 14 ff., wo im Nachhinein zum 31. Mai 1990 eine Devisenverschuldung der DDR auf 27,4 Mrd. DM berechnet wurde, sowie: Armin Volze, Ein großer Bluff? Die Westverschuldung der DDR, in Deutschlandarchiv 5/1996, S. 201-213. - Für die Zahlungsunfähigkeit ist nicht die Höhe der Schulden entscheidend, sondern ob der Schuldendienst pünktlich geleistet wird.

[14] Geheime Kommandosache b5-1111/89 vom 28.September 1989 von Schürer, Beil, Schalck, König, Polze. URL: http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Geheime_Kommandosache_Schalck_u.a._vom_28.09.1989

[15] Dieser Absatz ist nicht in die Version des Gutachtens übernommen worden, die dem Protokoll angehängt wurde. Zehn Tage später fiel die Mauer und die anvisierte Gegenleistung für den Kredit war dahin.

[16] Vgl. das Referat von Generalleutnant Alfred Kleine auf der Linienberatung der HA XVIII am 27.10.1989, in: Uwe Bastian, Auf zum letzten Gefecht. Dokumentation über Vorbereitungen des MfS auf den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, Arbeitspapiere des Forschungsverbunds SED-Staat Nr. 9/1994, Berlin 1994.

 

 

[18] Nämlich für die „Entwicklung einer an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft bei optimaler Ausgestaltung des demokratischen Zentralismus, wo jede Frage dort entschieden wird, wo die dafür nötige, größere Kompetenz vorhanden ist“ (S. 11).

[19] Frank Ebbinghaus, Ausnutzung und Verdrängung. Steuerungsprobleme der SED-Mittelstandspolitik 1955-1972, Berlin 2003 (Zeitgeschichtliche Forschungen 22). Diesem Buch sind die allermeisten Zahlenangaben entnommen. Vgl. auch noch: André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. München 2004.

[20] Manfred Görtemaker, Beginn der deutschen Einigung, URL: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43757/die-deutsche-einigung?p=all

[21] Der Bericht von Ulrich Zöfeld findet sich in einem unveröffentlichten Sammelband zur Treuhand-Niederlassung Erfurt, den mir deren Leiter Volker Großmann freundlicherweise zur Einsicht geliehen hat.

[22] Am 16. Juli wurde der Bundesbahnmanager Reiner Maria Gohlke zum Chef der Treuhand berufen, der aber nach etwa einem Monat zurücktrat.

[23] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/30-jahre-mauerfall/

[24] Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Ch.Links Verlag, Berlin 2018, S. 24 ff.). Vgl. dazu noch Norbert Pötzl, Der Treuhandkomplex. Legenden. Fakten. Emotionen, kursbuch.edition, Hamburg 2019 S. 148 ff.

[25] Bundestagsdrucksache 12/1996 vom 24.1.1992.

[26] Vgl. Der Spiegel 18.05.1992. Zu jenem Zeitpunkt hatte Tridelta die Folgen der Währungsunion noch immer nicht verkraftet und produzierte ein monatliches Defizit von fünf bis zehn Millionen DM, die die Treuhand als Eigentümer zu bezahlen hatte. Dadurch hat sie Tridelta vor dem Konkurs und vor der Konkurrenz geschützt.