Doppelte Überwölbung
Der beiläufige EU-Beitritt Ostdeutschlands[1]
Von Manfred Schneider[2] und Christian Booß
Mit der Deutschen Einheit mussten sich die Ostdeutschen nicht nur an bundesrepublikanische Verhältnisse gewöhnen. Über Nacht wurden sie auch zu EU-Bürgern. Für die DDR-Bürger, die gerade 40 Jahre DDR gefeiert hatten, ging mit der Einigung mehr verloren, als ein politisches und ein Wirtschaftssystem. Alle gesellschaftlichen Werte und Symbole brachen weg, auch für Systemgegner, -Kritiker und einfache Systemdulder. Ihre Überlebensstrategien, die im Osten irgendwie funktioniert hatten, griffen auf einmal nicht mehr oder änderten ihre Bedeutung. Aber 40 Jahre Sozialisation in einer Gesellschaft, die sich zudem noch weitestgehend abgeschottet hatte, fallen nicht ab wie ein Mantel. Man weiß es aus Lebenserfahrung und der Transformationsforschung, Gesetze und Institutionen lassen sich schnell ändern, Mentalitäten nicht.
Die Europäische Union hatte 1987 die Einheitliche Europäische Akte beschlossen, die mit jedem Ratsbeschluss und jeder Vertragserweiterung konkretisiert wurde, etwa durch den Maastricht-Vertrag vom 1. November 1993 oder den Vertrag von Amsterdam vom 1. Mai 1999. Die EU bekam damit eine Art neuer Regierung, den Europäischen Rat.
Die DDR ist mit dem Beitritt zur Bundesrepublik automatisch Mitglied dieser Europäischen Union (EU) geworden, sozusagen im Untergang als Mitglied der EU auferstanden. Damit waren die Rechte der EU für ganz Deutschland bindend geworden: Aber wie auch in den Mittelosteuropäischen Nachbarstaaten taten sich mit dem gleichzeitig einhergehenden Verlust von Souveränität sich viele der Neumitglieder schwer. Das Verfahren für EU-Förderungen orientiert sich beispielsweise am französischen Verwaltungsverfahren, was in Ostdeutschland unbekannt war.
Kaum, dass die neue Freiheit in Ländern wie Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, etc., ein eigenständiger Staat zu sein, erreicht war, musste diese neue Freiheit wieder den Bindungen an Brüssel geopfert werden: Binnenmarkt, das Nebeneinander von nationaler und europäischer Währung (Euro), Beihilferecht, Wettbewerb! Die Entwicklung, das Dafür-und-Dagegen, nächtelange Sitzungsmarathons, intransparente Entscheidungen, vieles undurchsichtig, unklar. Was blieb, war ein diffuses Unbehagen, das erst leise, dann immer lauter zur klingenden Geburtsmelodie der Orbáns oder Kaczyńskis, aber auch der »Alternative für Deutschland« wurde.
War der Beitritt der DDR für sich schon ein Ereignis von historischen Ausmaßen, entwickelte sich auch im Westen mit der Osterweiterung ein neuer Herd von Beunruhigung und Neuem, nie Dagewesenem, diesmal für Ost und West. Und wie man inzwischen weiß, sorgte die Erweiterung, ohne zugleich die bestehende EU mit ihrer Arbeitsweise und ihrem Abstimmungsmodus zu reformieren, für neue Verunsicherung.
Die nicht durchgeführte innere Reform der EU führte mit nächtelangen Sitzungen des Rats in Brüssel, zu unverständlichen Entscheidungen, zu fundamentalen Vertrauenseinbrüchen durch den Brexit, zu den, wenn überhaupt, Euro-Sherpas, die die Pfade durch den Dschungel sich überlagernder Kompromisse fanden. Ab nun galt die Losung: Das Gute machen wir national zu Hause und das Schlechte kommt aus Brüssel, und wenn das Gute doch nicht klappte, war klar: »Brüssel will das nicht«.
Die DDR-Bürger, aber nicht nur sie, sammelten im Prozess der Deutschen Einheit, der Wende, millionenfach Erfahrungen, die die Menschen noch heute prägen, die zu Wendegeschichten wurden und damit zu einer Art Kitt des Veränderungsprozesses verschmolzen – im Guten wie im Bösen. Dabei sammelte Ostdeutschland Milliarden an Fördermitteln ein. Es war zum Fördergebiet Ziel 1 und damit zu einem privilegierten Fördergebiet bestimmt worden. Für Wirtschaft, Bildung und Infrastruktur flossen Milliarden. Kaum eine wichtige Straße oder Brücke, ein Universitätsgebäude oder eine Qualifizierungsmaßnahme wurde in den 1990er Jahren in Ostdeutschland, z.T. bis heute, finanziert, ohne dass Brüssel einen namhaften Beitrag leistete. In Brandenburg werden zum Beispiel aus dem Europäischen Sozialfonds Projekte der „Integrationsbegleitung für Langzeitarbeitslose und Familienbedarfsgemeinschaften gefördert. Ein weiterer Schwerpunkt der Europäischen Sozialfonds-Förderung (ESF) in Brandenburg liegt auf der beruflichen Weiterbildung der Beschäftigten. Das bundesweit einzigartige Förderprogramm „Gründen in Brandenburg“ richtet sich an Existenzgründungsinteressierte und spricht insbesondere Arbeitslose an. In Sachsen wertete beispielsweise die Stadt Meißen Stadtteile mit Mitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) auf, in dem eine Schule, ein Stadion, barrierefreie Übergänge, Plätze, u.a. umgestaltet wurden.
Ostdeutschland, aber auch die EU-Kandidatenstaaten wurden auch Abenteuerspielplatz westlicher Berater. Von heute auf morgen explodierte der Personalbedarf in Ostdeutschland und in Anrainerstaaten, bis hin zu Russland. Experten mit Westexpertise, Sprachkenntnissen in Polnisch, Russisch, etc. waren gefragt, die den richtigen Weg weisen sollten. Es boomte die Beraterbranche. Westdeutsche Behörden durchkämmten ihre Amtsstuben nach in den Osten versetzbaren Beamten, selbstverständlich mit „Buschzulage“. Anwaltskanzleien, Steuerberater, Juristen, Bildungsexperten, Betriebswirte, Organisations-, Haushalts- und Förderexperten zog es gen Osten. Restitutionsansprüche mussten geklärt werden. Es kam zu unzähligen Prozessen, die über Jahre dauerten und für böses Blut sorgten.
Die EU legte große Programme für die osteuropäischen Staaten auf, einschließlich Russland (wie etwa PHARE und TACIS)[3], und vergab über Ausschreibungen die einzelnen Projekte an europäische Konsortien. Jeder sollte im Europäischen Proporz etwas von der Umsetzung der Programme haben. So saß ein Berater, gerade für ein ostdeutsches Arbeitsamt neu qualifiziert, gemeinsam mit einem irischen und französischen Kollegen, polnischen oder russischen Mitarbeitern gegenüber, denen sie erklärten, wie das in Europa mit der Arbeitsmarktpolitik so läuft.
Heute leben wir in einer ähnlich bewegten Zeit, nur mit größeren Umbrüchen: Europa muss zwei Kriege verkraften, muss wettbewerbsfähiger auf dem Weltmarkt werden, muss die Klima- und Energiekrise zu beherrschen lernen und dies im globalen Maßstab. Hinzu kommt, dass Populisten und Nationalisten weltweit mit ihren vermeintlich einfachen und rückwärtsgewandten Lösungen an Attraktivität gewinnen, was noch vor ein paar Jahren undenkbar war.
Die EU steht vor der nicht aufschiebbaren Aufgabe einer inneren Reform, um die Steigerung ihrer Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsgeschwindigkeiten in Angriff zu nehmen. So notwendig es wäre, neue Mitglieder aufzunehmen, wird die EU ohne diese Reformen nicht weiter agieren können. Und der Europarat steht als Wächter der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit vor dem Dilemma, dass diese nicht nur zunehmend missachtet werden, sondern auch seine Rolle, wenn nicht häufig sogar seine Existenz infrage gestellt wird.
Wir haben heute Herausforderungen wie den Klimawandel und den daraus entstehenden neuen gesellschaftlichen Konflikten zu bestehen. Das gleiche gilt für das Thema Migration, das grundlegender Strategien bedarf, angesiedelt zwischen humanitärer Hilfe, globaler Entwicklungszusammenarbeit und Arbeitskräftegewinnung. Wir werden uns diesen Problemen auf ähnliche Weise stellen müssen, die dem gerade durchlebten Transitionsprozess, auch wenn sie diesmal nur global bezwungen werden können.
[1] Auszugsweiser und geringfügig überarbeiteter Beitrag mit Genehmigung des Autors aus dem Sammelband: Manfred Schneider (Hg.) Geschichten, die die Wende schrieb. Biografien, Erzählungen, Interviews. Bonn 2024
[2] Manfred Schneider war seit den 1990er Jahren mit der Berliner Gesellschaft BBJ als Berater, Begleiter und Durchführender von EU-Programmen tätig.
[3] Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies, Technical Aid to the Commonwealth of Independent States