Pentacon und Orwo

Warum zwei DDR-Ikonen in der Marktwirtschaft nicht überleben konnten

Von Dr. Thilo Sarrazin[1]

Zunächst zu meiner Person und Rolle in den Jahren 1989 bis 1991:

Ich bin ein an der Universität Bonn ausgebildeter Volkswirt und befasste mich in meinem Studium auch mit der Betriebswirtschaft von Unternehmen in einer Planwirtschaft. Als 1989 die Mauer fiel, war ich 44 Jahre alt und leitete im Bundesministerium der Finanzen das Referat „Nationale Währungsfragen“. Horst Köhler war mein Staatssekretär, Theo Waigel mein Minister. Von November 1989 bis Januar 1990 entwickelte ich das Konzept einer Währungsunion beider deutscher Staaten, das zur Grundlage eines entsprechenden Angebots der Bundesregierung an die DDR wurde. Ab Anfang Februar leitete ich im Bundesfinanzministerium die Arbeitsgruppe, die mit der Umsetzung des Konzepts betraut war, und begleitete als zuständiger Fachbeamter die Verhandlungen mit der DDR, die zum Vertrag über eine deutsch-deutsche Währungsunion führten. Diese trat zum 1. Juli 1990 in Kraft.

Die Treuhandanstalt

Zur Vorbereitung der marktwirtschaftlichen Reformen, die mit der Einführung der D-Mark in der DDR einhergingen, überführte die DDR im März 1990 ihre Volkseigenen Betriebe in privatrechtliche Rechtsformen, teils als Aktiengesellschaften, teils als GmbHs und fasste sie unter dem Dach der neugegründeten Treuhandanstalt zusammen.

Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 wurde die Treuhandanstalt zu einer unmittelbaren Bundesbeteiligung unter der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen. Diese Aufsicht wurde im Ministerium einer neugegründeten Unterabteilung übertragen, deren Leitung ich übernahm. Dort entwickelten wir die Vorgaben, die die Treuhandanstalt bei der Privatisierung der Unternehmen zu beachten hatte. Wir legten die Zustimmungsgrenzen fest, ab denen für einzelne Privatisierungen die Zustimmung des Finanzministeriums notwendig war. Wir genehmigten den Wirtschaftsplan und die Kreditaufnahme der Treuhandanstalt. Wir begleiteten die Privatisierungsstrategien aus regional-, arbeitsmarkt- und branchenpolitischer Perspektive. Außerdem nahmen wir maßgeblichen Einfluss auf alle treuhandrelevanten Felder der Bundesgesetzgebung vom D-Mark-Bilanzrichtliniengesetz über das Gesetz für offene Vermögensfragen bis hin zur Altlastengesetzgebung und den Rechtsfragen der sozialen Absicherung.

Der Schock der Währungsumstellung

Mir war schon sehr früh klar - bereits im Januar 1990 bei der Arbeit am Konzept der Währungsunion – dass der Bilanzwert des industriellen DDR-Vermögens bei realistischer Betrachtung mit Null anzusetzen war: Zu veraltet waren die Produktionsanlagen, zu wenig konkurrenzfähig war ein großer Teil der dort hergestellten Produkte, und zu groß waren die Umweltaltlasten. Entsprechend hatte ich in meinem Ursprungskonzept der Währungsunion vorgesehen, alle DDR-internen Unternehmensschulden auf null anzusetzen, weil ihnen keine realen Werte gegenüberstanden. Das war leider einer der wenigen Punkte, mit denen ich mich beim endgültigen Konzept der Währungsunion nicht durchsetzen konnte. Aufgrund eines entschiedenen Wunsches der Deutschen Bundesbank wurden alle DDR-internen Schuldverhältnisse am 1.7. 1990 im Verhältnis 1:2 von Mark der DDR auf D-Mark umgestellt. Das bedeutete, dass zahlreiche DDR-Unternehmen neben dem marktwirtschaftlichen Umstellungsschock beim Beginn der Währungsunion eigentlich überschuldet waren.

Dieser Umstellungskurs züchtete zudem in Politik und Gesellschaft illusionäre Vorstellungen über den Wert des unternehmerischen DDR-Vermögens: Aus der DDR-internen Buchhaltung ergab sich ein bilanzieller Wert des unternehmerischen Vermögens von 1,2 Billionen Mark der DDR. Diese Zahl nannte Ministerpräsident Modrow öffentlichkeitswirksam im März 1990, als er kurz vor der Wahl zur DDR-Volkskammer in Moskau Präsident Gorbatschow besuchte. So entstand die durch nichts begründbare Legende, dass das Treuhandvermögen zu Beginn der Währungsunion 600 Mrd. D-Mark wert gewesen sei. Noch im November 1990 sagte der Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Rohwedder, in einem Interview: „Der ganze Salat ist 600 Mrd. wert.“ Er hätte nicht falscher liegen können: Zum 1.1.1995, bei der Auflösung der Treuhandanstalt, betrugen ihre konsolidierten Schulden 256 Mrd. D-Mark. Diese Schulden ergaben sich, obwohl alle Privatisierungserlöse bei der Treuhandanstalt verblieben und der Erfüllung ihrer Aufgaben dienten. Die aufgelaufenen Schulden wurden in den Erblastentilgungsfonds übernommen.

Eine Verschuldung in dieser Größenordnung hatte ich bereits im Februar 1991 in einem internen Vermerk im Bundesfinanzministerium errechnet und der Leitung des Hauses vorgelegt. Es war aber damals politisch opportun – und wurde von mir respektiert – den Eindruck zu erwecken, die Sanierungslasten der Treuhandanstalt könnten aus ihren Privatisierungserlösen getragen werden. Das war natürlich von Anfang an ein ausgemachter Unfug gewesen. Aber die darin liegende Lebenslüge lieferte eben die formale Rechtfertigung für die Treuhandanstalt, in solch einem riesenhaften Umfang Schulden zu machen und dabei scheinbar nicht den Bundeshaushalt zu beanspruchen. So konnte sie ihrer Sanierungs- und Privatisierungsaufgabe ungestört von kleinlichen Haushaltszwängen nachgehen, und das fand ich damals, zuständig für die Aufsicht über die Treuhandanstalt, im Sinne der Sache sehr gut.

Bei der Währungsunion waren, entsprechend meinem ursprünglichen Vorschlag, Löhne, Gehälter und alle laufenden Zahlungen im Verhältnis 1:1 umgestellt worden. Das passte nicht nur zur relativen Größe der beiden vereinigten Volkswirtschaften, es war auch aus Gründen der Kaufkraftsicherung für die DDR-Bevölkerung geboten: Es mag paradox klingen, tatsächlich aber war die Binnenkaufkraft der Mark der DDR über den gesamten Warenkorb gerechnet genauso hoch wie die Binnenkaufkraft der D-Mark. Das lag an den ganz unterschiedlichen Preisstrukturen: Im Westen waren Industriewaren wesentlich günstiger, Energie, Mieten und Gesundheitsleistungen aber wesentlich teurer. In der DDR dagegen kosteten zwar bestimmte Industriewaren teilweise absurd viel, aber die Kosten für Miete, Energie und Grundnahrungsmittel waren minimal, die Gesundheitsleistungen waren unentgeltlich. Deshalb musste eine künftige westliche Preisstruktur, wie sie sich durch die Währungsunion ergab, mit unveränderten Löhnen und Gehältern einhergehen, wenn nicht die gesamte DDR-Bevölkerung einen scharfen Einschnitt im Lebensstandard erfahren sollte.

 

Die Umstellung 1:1 sicherte zwar den Lebensstandard der DDR-Bevölkerung, sie führte aber auch zu ungeheuren Härten für die warenproduzierenden Betriebe, denn die biederen, teilweise technisch veralteten DDR-Produkte mussten plötzlich mit der gesamten westlichen Warenwelt konkurrieren. Das war auch deshalb besonders schwer, weil die Betriebe in der überkommenen Zuteilungswirtschaft praktisch keine kaufmännische Expertise entwickelt hatten. Die Buchhaltung funktionierte zwar gut, und die Ingenieure waren großenteils vorzüglich. Aber es gab keine realistischen Kostenrechnungen, schon gar nicht produktbezogen. Die Betriebe waren kostenblind, und sie kannten ihre Märkte nicht. Außerdem wurde jetzt erst klar, wie sehr der sogenannte Westexport subventioniert worden war:

  • Im heimatlichen Markt waren industrielle DDR-Produkte seit dem 1.7.1990 gegenüber der westlichen Konkurrenz fast chancenlos. Trabant-Autos und Robotron-Fernseher wurden quasi übergangslos von Mangelware zum Ladenhüter.
  • Auf den westlichen Exportmärkten hatte die DDR-Planwirtschaft mit einer stark abgewerteten Mark der DDR gearbeitet: Für eine sog. Valuta-Mark, also einer D-Mark, die im Export erwirtschaftet wurde, wurden den DDR-Betrieben 4,40 Mark der DDR gutgeschrieben. Nur so konnte es z.B. möglich werden, dass günstige Textilien aus der DDR die Versandhauskataloge im Westen füllten. Diese Art von subventioniertem Export brach mit der Währungsunion sofort und beinahe vollständig zusammen.
  • Ein großer Abnehmer für industrielle Produkte aus der DDR waren die sozialistischen Staaten des Rats für gegenwärtige Wirtschaftshilfe (RGW) unter Führung der Sowjetunion gewesen. Dieser war aber für die rohstoffreiche Sowjetunion zunehmend unattraktiver geworden, weil es im Austausch für wertvolle Rohstoffe bei den sozialistischen Bruderstaaten nur tendenziell veraltete Industriegüter gab. 1990 stellte die Sowjetunion im RGW-Handel vollständig auf Devisenzahlungen um. Damit brachen 1990 die Absatzmärkte der DDR im RGW-Wirtschaftsraum weitgehend zusammen. Das galt für Eisenbahnwaggons, Kameras oder Farbfilme gleichermaßen.

Das Schicksal von ORWO

ORWO (Original Wolfen) produzierte in der alten Agfa-Fabrik Wolfen, die aus namensrechtlichen Gründen 1964 umfirmierte. ORWO hielt sehr lange bei seinem Farbumkehrfilm am alten Agfa-Verfahren fest, das aus den Dreißigerjahren stammte. Qualitativ konnte das Produkt jedoch nicht mit der Fortentwicklung am Weltmarkt und bei Agfa-West mithalten. Auch hatte die westliche Agfa-Gevaert bereits 1984 auf den universellen E6-Entwicklungsprozess, der von Kodak für Ektachrome entwickelt wurde, umgestellt. So waren die Filme weltweit kompatibel und konnten leichter entwickelt werden. Diese Umstellung vollzog ORWO erst 1989. Der neue Diafilm auf der Basis des E6-Prozesses erhielt auch im Westen sehr gute Kritiken. Die Schwarzweißfilme von ORWO waren im niedrigempfindlichen Bereich traditionell sehr gut. Im höher empfindlichen Bereich ab 100 ASA fielen sie gegenüber Ilford oder Kodak im Westen zurück.

Als Fotoamateur hatte ich bis in die Achtzigerjahre hinein immer wieder mit ORWO-Filmen gearbeitet und war wegen des neuen Diafilmes sehr zuversichtlich, dass dem Unternehmen die Umstellung gelingen werde. So war ich im November 1990 als Zuständiger für die Aufsicht über die Treuhandanstalt sehr über die Nachricht geschockt, dass ORWO die eigene Produktion von Filmmaterial einstellte und nur noch fremdes Material konfektionierte. Ich erkundigte mich sofort und wurde mit folgendem Sachverhalt konfrontiert: Die kleinste international erhältliche moderne Maschine zum Emulsionsguss (das ist das Aufbringen der lichtempfindlichen Schicht auf das Zelluloid) hatte damals die siebenfache Kapazität des Gesamtabsatzes von ORWO beim Diafilm. Das heißt, der Absatz des Unternehmens war für die moderne Filmherstellung schlichtweg zu klein geworden. Und es gab auch keine Chance, ihn zulasten von Herstellern wie Fuji oder Kodak in eine rentable Größenordnung zu erhöhen.  Eine Zeitlang bezog ORWO von anderen Herstellern Material mit fertiger Emulsion und beschränkte sich auf Konfektionierung und Zuschnitt. Aber das war natürlich keine dauerhafte Lösung. Nach dem Scheitern einer Privatisierung wurde die Filmfabrik Wolfen GmbH 1994 liquidiert.

Hätte es Chancen gegeben? Wohl eher nicht, und selbst wenn, dann hätte das Unternehmen dem weltweiten Untergang der Produktion von Fotofilmen, der sich aus dem Siegeszug des Digitalbildes ergab, auch nicht entgehen können. Agfa-Gevaert stellte 2004 die Filmproduktion ein. Kodak, das weltgrößte Unternehmen für Fotofilme, das mit dem Kodachrome auch den weltbesten Diafilm herstellte, ging 2012 in einer Insolvenz ruhmlos unter. Allein Fuji stellt noch Farbdiafilme her. Heute wird die ehemalige Produktionsstätte von Agfa-Filmen noch als Museum weitergeführt, und eine realistische Alternative zu diesem Schicksal hat es nach 1989 nach meiner Einschätzung nicht gegeben.

Das Ende von Pentacon

Als Fotoamateur waren mir die Produkte der ostdeutschen Kameraindustrie sehr vertraut. Eine Zeitlang besaß ich Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre eine japanische Pentax-Spotmatic mit M42-Schraubgewinde (wie es auch die Pentacon-Kamera Practica hatte). Daran verwendete ich gerne Orestegor-Objektive von Meyer/Görlitz. 1972 stellte ich auf eine automatische Spiegelreflexkamera um. Die gab es aber damals aus DDR-Produktion nicht. Erst 1987 brachte Pentacon die Practica BX20 heraus, immerhin mit elektronischem Verschluss und Zeitautomatik, aber eine Programmautomatik gab es nicht. Vor allem aber gelang der Kameraindustrie der DDR niemals der Einstieg in die Produktion von Zoom-Objektiven, die auf dem internationalen Kamera-Markt aber immer wichtiger wurden.

Bereits in den Sechzigerjahren hatte der größte Teil der westdeutschen Kameraindustrie das Feld geräumt und den Markt den Japanern überlassen. Diese waren bei gleicher Qualität preisgünstiger und in der Summe innovativer. Spiegelreflexkameras von Practica hielten sich aber am westdeutschen Markt. Sie wurden allerdings durchweg 30 Prozent preisgünstiger angeboten als vergleichbare japanische Kameras. Die typische Practica-SLR stand in den Achtzigerjahren bei Foto Brell in Bonn für knapp 300 D-Mark im Schaufenster. Da der Handel auch verdienen musste, dürfte die Kamera ab DDR-Grenze wohl kaum mehr als 200 D-Mark gekostet haben. Für dieses Geld war eine Herstellung in Westdeutschland selbstverständlich nicht möglich.

Als ich Anfang Oktober 1990 die Rechts- und Fachaufsicht über die Treuhandanstalt übernahm, traf mich als so ziemlich erste Nachricht im neuen Amt die Einstellung der Kamera-Produktion bei Pentacon in Dresden wie ein Schock. Ich hakte sofort nach und erfuhr. dass die Herstellung des Spitzenmodells BX- 20 zu D-Mark-Löhnen in Dresden Kosten ab Werk von 1.750 D-Mark verursachte. Es war klar, dass vor diesem Hintergrund die Weiterführung der Produktion, zudem mit einem Produkt, das innovativ nicht zur Weltspitze gehörte, chancenlos war. Die Schließung war schmerzlich und richtig zugleich. Um sie zu vermeiden, hätte der DDR-Kameraproduktion etwas gelingen müssen, was in Westdeutschland 20 Jahre zuvor misslang: Produkte, die an Innovationskraft den Japanern gleichkommen und durch arbeitssparende Automatisierung den europäischen Lohnkostennachteil ausgleichen.

Die Geschichte von ORWO und Pentacon ist typisch für das Schicksal vieler Unternehmen unter der Treuhand-Regie. Schuld daran waren zumeist weder Untreue, noch Unfähigkeit oder böser Wille. Man musste retten und erhalten, was ausbaufähig war und den Rest aufgeben. Das war am besten für den überlebensfähigen Teil der Wirtschaft und langfristig auch am besten für den Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze.

 

[1] Volkswirt, Autor und Politiker, bis 2010 im öffentlichen Dienst, darunter 1989 bis 1990 Leiter des Referates Innerdeutsche Beziehungen, das die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vorbereitete.  Von 1990 bis 1991 arbeitete Sarrazin für die Treuhandanstalt.Ab 2020 Vorstand Deutsche Bundesbank.

 


 [MK1]Biografie Angaben ergänzen