Die polnische Transformation und die polnische Sicht auf die ostdeutsche

Krzysztof Okoński[1]

Hyperinflation, Ausverkauf, Reprivatisierung, Indexlohn oder Armenspeisung: manche von diesen Begriffen wirken heute wie aus der Zeit gefallen, obwohl sie während des Übergangs von der Plan- in die Marktwirtschaft in aller Munde waren. Beim Versuch jedoch, die Bedeutung von Feldbetthandel oder Sonntagsbörse zu entziffern, hilft kein Fremdwörterlexikon. In beiden Fällen gemeint sind nämlich Redemittel, die polnische Erfahrungen der wirtschaftlichen Transformation 1989/1990 beschreiben. Vor dem Hintergrund einer für Polen und für die DDR gemeinsamen Geschichte der kommunistischen Herrschaft stellt sich die Frage, ob ein Vergleich der ostdeutschen und der polnischen „Wendezeit“ (die übrigens keine war) überhaupt möglich und begründet ist. Ein weiterer Vorbehalt gilt dem polnischen Blick auf die Transformation in Ostdeutschland, wenn auch aus einem anderen Grund: das Interesse der Forschung (Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Deutschlandstudien und Germanistik), aber auch der Publizistik am wirtschaftlichen Umbau in den neuen Bundesländern war in Polen genau das Gegenteil einer für viele polnische Bürger typischen gleichgültigen Haltung dem Einheitsprozess gegenüber. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich einerseits mit emotionalen Motiven erklären (die Wahrnehmung der DDR-Bürger als „Deutsche zweiter Klasse“ oder Ostdeutschland als eine Region, die sich nicht – wie Polen – aus eigener Kraft aus dem Sumpf ziehen musste), andererseits kann man hier auch pragmatische Gründe anführen: während makroökonomische Analysen der Lage in Ostdeutschland auch gewissermaßen für die Beschäftigung mit den Fragen der Transformation in Polen aufschlussreich sein konnten (Ostgebiete als Problemregionen, Folgen einer spontanen, polnischen und einer aus dem Westen kopierten Wirtschaftsordnung, Unternehmungsgründungen in Polen und in Ostdeutschland, Entwicklung der Zivilgesellschaft usw.), war die Bevölkerung in Polen (nicht zuletzt als Kostenträger des Umbaus – es gab weder Solidaritätsteuer noch Subventionen aus dem Westen) mit Herausforderungen, Problemen, aber auch Chancen des eigenen, wie man damals sagte, wilden Kapitalismus beschäftigt. Das noch von der letzten kommunistischen Regierung abgeschaffte Lebensmittelkartensystem bedeutete ab dem 1. August 1989 eine Kommerzialisierung des Fleisch- und Lebensmittelhandels, hinzu kamen die Hyperinflation im Herbst 1989 (im Dezember 640% jährlich), die fortschreitende Insolvenz mehrerer Betriebe und nicht zuletzt eine völlig neue Erfahrung der Massenarbeitslosigkeit (im Dezember 1990 6,5 %, 1993 – 16.4 %, 2003 – 20%, 2024 – 5,1 %). „800 Tage. Kontrollierter Schock“ – so lautet der Titel eines Buches von Leszek Balcerowicz, des polnischen Finanzministers und stellvertretenden Premierministers, der vom ersten nichtkommunistischen Regierungschef Tadeusz Mazowiecki mit einer historischen Mission beauftragt wurde, Grundlagen einer neuen Wirtschaftsordnung zu schaffen und die Krise zu bewältigen. Balcerowicz erinnert sich daran, wie Mazowiecki „nach seinem eigenen Ludwig Erhard suchte. Es ging ihm um einen Mann, der wie Erhard in Nachkriegsdeutschland, eine radikale Wirtschaftsreform durchführen würde“. Der nach seinem Namen benannte Sanierungsplan versetzte Polen in eine andere Dimension. Aus dem provisorischen Kleinhandel auf den auf den Straßen aufgestellten Feldbetten entwickelte sich allmählich (wenn nicht unbedingt direkt) ein neuer, unternehmerischer Geist. Der Bedarf an westlichen Konsumgütern war riesig und wurde oft durch den Privatimport u.a. aus West-Berlin (Zigaretten, Videorecorder, Getränke, Süßigkeiten und Drogeriesortiment) kompensiert. Eine billigere Alternative z.B. für die westliche Markenkleidung stellte bereits in den späten 1980er Jahren der Privatimport aus der Türkei dar. Das Schild „Westliche Kleidung“ wirkte übrigens etwas irreführend, denn es bezeichnete das Angebot von Secondhand-Shops mit Klamotten, die u.a. aus Deutschland eingeführt wurden. Die Gründung solcher Geschäfte war darüber hinaus ein Indikator dafür, inwiefern die jeweilige Region von drastischen Folgen der Schocktherapie wie die Massenarbeitslosigkeit und die Insolvenz der Betriebe, die man noch vor kurzem für konkurrenzfähig hielt, betroffen war. Es wundert daher nicht, dass die Fernsehadaption Dürrenmatts Stücks „Der Besuch der alten Dame“ (2000) in der polnischen Provinz der 90er Jahre angesiedelt war. Die aus den neuen Bundesländern bekannte Frustration und Unzufriedenheit nahm in Polen die Gestalt einer radikalen Auseinandersetzung mit dem Erbe der friedlichen Revolution an: Im Herbst 1990 trat in der Stichwahl gegen den späteren Präsidenten Lech Wałęsa ein mysteriöser Unternehmer polnischer Herkunft aus Peru an. Der Spruch „Balcerowicz muss weg!“ wurde bald zu einer festen Redewendung und der Finanzminister genoss in der Bevölkerung einen ähnlichen Ruf wie die Treuhand in Ostdeutschland – für viele galt er aber gleichzeitig als ein Pionier der Marktwirtschaft in Polen. Jacek Kuroń, eine Legende der polnischen Opposition und seit September 1989 Minister für Arbeit und Soziales sagte in einem Interview: „Wir haben eine Mäusegattung gezüchtet, die an die Existenz der Katzen nicht glaubt“ und machte damit auf die im Kommunismus verbreitete naive Logik vieler Polen (aber wohl auch vieler DDR-Bürger) aufmerksam, für die der Kapitalismus ausschließlich aus Schokoladenseiten bestand. Als ein deutsches Pendant dieser Äußerung lässt sich gewissermaßen die These von Hans-Joachim Maaz anführen, der über die „erlernte Hilfslosigkeit der Ostdeutschen“ sprach. Prof. Dr. Leszek Balcerowicz begegnete ich 2019 in Halle (Saale) bei einer vom Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien organisierten Tagung „Polen 1989: Aushandlungen, (Re-)Konstruktionen, Deutungen“, wo er den Eröffnungsvortrag „Changes after Socialism in a Comparative Perspective“ hielt. Wie Balcerowicz in einem Gespräch mit mir zugab, war er überrascht, dass die Fragen danach fast ausschließlich von polnischen Teilnehmern gestellt wurden. Dieser Umstand lässt sich mit einer genauso logischen wie auch für Polen und Deutsche im Osten nicht immer nachvollziehbaren These erklären: Treuhand und Balcerowicz symbolisieren die Schocktherapie und die sich daraus ergebende Unzufriedenheit, aber auch die Hoffnung auf einen tiefgreifenden Wandel und auf die Anpassung an den westlichen Lebensstandard – jedoch beide jeweils in ihrem Land. Seit der friedlichen Revolution sind mittlerweile 36 Jahren vergangen – eine Wiederherstellung der DDR oder der VR Polen wird zwar nicht angestrebt, die Ostalgie-Welle ist vorbei und die Zeitzeugen sind älter geworden, dennoch wächst mit neuen Generationen eine neue Abneigung gegen die Implementierung von westlichen Normen, Strukturen und Lebensentwürfen in der polnischen und in der ostdeutschen Wirklichkeit. Eine Rückbesinnung auf die eigene Identität, die auch die Traumata der Transformation umfasst und eine Abwehrreaktion ist, macht sich nicht nur in Ostdeutschland bemerkbar. Ähnliche Tendenzen breiten sich ebenfalls in Polen aus und verhalfen mittlerweile manchen politischen Kräften zum Erfolg – sogar bei der Regierungsbildung. Hinzu kommt neulich eine antideutsche Prägung: die Erinnerung an die Arbeitsmigration nach Deutschland und die Begeisterung für westliche Waren in den ersten Monaten des Umbruchs werden verdrängt und das postkommunistische Narrativ wird nun durch ein neues, diesmal rechtspopulistisches ersetzt: die einst polnische Industrie und Wirtschaft mit ihrem ganzen Potenzial sei ausverkauft worden. Früher hieß es – an westliches Kapital, jetzt – an Deutschland. In Rostock und Magdeburg war ich Zeuge von Kundgebungen, auf denen Deutschland zum Opfer des jüdisch-amerikanischen Kapitals stilisiert und seine Zukunft Russland anvertraut wurde. Ein Déjà-vu aus Polen (ohne den russischen Zusatz): Wann gab es eigentlich diese souveräne, bessere Vergangenheit? Hinter dem Eisernen Vorhang, als die Westpakete in Polen und in der DDR einen Vorgeschmack des Lebens „drüben“ gaben? Oder nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als man nach 40 Jahren von Made in GDR oder Made in Poland– nicht als Wähler oder Arbeitnehmer, sondern als Kunde – der einheimischen Produktion den Rücken gekehrt hat?


[1] Germanist und Professor am Lehrstuhl für Kulturwissenschaftliche Komparatistik, Kazimierz-Wielki-Universität Bydgoszcz/Polen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt u.a. die Darstellung der polnischen Transformation in der Literatur und im Film.