Von der erzwungenen Berufsarbeit zur erzwungenen Arbeitslosigkeit?
Erwerbsleben von Frauen – in zwei Systemen
Von Christopher Neumaier[1]
„Das Recht auf Arbeit wird verbürgt.“ (Art. 15, DDR-Verfassung 1949)
„Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Einheit.“ (Art. 24, DDR-Verfassung 1968)
Arbeit war ein zentraler Bestandteil des politischen Systems der DDR. Im Folgenden wird skizziert, wie sich die Erwerbsquote von Frauen in der DDR entwickelte und im Anschluss an die Wiedervereinigung veränderte. Dabei soll untersucht werden, inwiefern in der sozialistischen Demokratie aufgrund der politischen Rahmenbedingungen eine Berufsarbeit „erzwungen“ wurde und infolge der Transformation von einer „erzwungenen“ Arbeitslosigkeit abgelöst wurde.
SED-Politiker betonten in den gesteuerten Debatten der 1950er Jahre, dass Berufsarbeit und Gleichberechtigung zusammenhängen würden. Damit einhergehend forderte die SED die Bürgerinnen und Bürger auf, berufstätig zu sein – das galt auch für Frauen. Wenngleich sich zunächst gerade Mütter und Ehemänner gegen diese politische Forderung sperrten, gehörte Berufsarbeit zum Lebensentwurf insbesondere jüngerer und unverheirateter Frauen. Um die Erwerbsquote aller Frauen zu steigern, verfolgte die SED-Führung eine gezielte Frauenarbeitspolitik, die um 1957/58 von einer quantitativen Steigerung auf eine Weiterqualifizierung von Frauen umschwenkte.[2]
Die Entwicklung der Frauenarbeitspolitik und die politische Forderung nach einer Berufsarbeit von Frauen resultierten nicht nur aus der sozialistischen Ideologie, die Beruf und Emanzipation zusammendachte. Es war darüber hinaus auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Denn infolge der anhaltenden Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte (bis zum Mauerbau 1961) sollten un- und angelernte Arbeiterinnen sich im Rahmen einer Facharbeiterinnenausbildung höher qualifizieren, um diese Lücke zu schließen und um in die entsprechenden Positionen in der industriellen Produktion eingegliedert werden zu können.[3] Das Zusammenspiel von politischer Forderung und wirtschaftlicher Notwendigkeit drückte sich in einer entscheidenden Veränderung zwischen der DDR-Verfassung von 1949 und der von 1968 aus: In Letzterer war das „Recht auf Arbeit“ durch eine „Pflicht zur Arbeit“ ergänzt worden. Das Strafrecht spiegelte diese Entwicklung ebenfalls, da „arbeitsscheues“ Verhalten als „asozial“ eingestuft wurde und zugleich mit Arbeitserziehung oder Freiheitsentzug zwischen zwei und fünf Jahren geahndet werden konnte.[4]
Es gab darüber hinaus noch materielle Gründe, warum sich ostdeutsche Frauen entschieden, berufstätig zu sein. Denn ostdeutsche Familien waren in der Regel auf das Arbeitseinkommen von zwei Personen angewiesen, um sich Einrichtungsgegenstände für die gemeinsame Wohnung oder das gemeinsame Haus bzw. – nach langer Wartezeit – ein Auto kaufen zu können.[5] Überdies mussten ostdeutsche Frauen im Falle einer Scheidung für ihren Unterhalt selbst aufkommen. Das ging nur mit einem eigenen Einkommen – als Werktätige waren Frauen für ihr finanzielles Auskommen selbst verantwortlich. Bei einer steigenden Scheidungsquote zwischen den 1950er und 1980er Jahren wurde dieses Argument für eine wachsende Gruppe geschiedener Frauen immer relevanter.[6]
Die Kombination von politischen und wirtschaftspolitischen Interessen sowie den ökonomischen Zwängen von Familien und Frauen führte dazu, dass sich in der DDR das Modell der „Zwei-Ernährer-Hausfrau-Familie“ bzw. das „Doppelverdiener-Modell“ zur Norm entwickelte, wohingegen in Westdeutschland bis in die 1960er Jahre das „Ernährer-Hausfrau“-Modell dominierte und anschließend vom „Ernährer-Zuverdienerin-Modell“ abgelöst wurde.[7] Auch in Zahlen schlug sich diese Entwicklung nieder: War die Erwerbsquote von Frauen im erwerbsfähigen Alter um 1955 noch bei 56 Prozent gelegen, stieg sie zunächst 1970 auf 70 Prozent an und erreichte schließlich Ende der 1980er Jahre mehr als 80 Prozent. Sofern Studentinnen und Lehrlinge auch unter der Rubrik „Erwerbstätige“ eingeordnet wurden, lag die Quote sogar bei über 90 Prozent. Damit war die Mehrzahl der ostdeutschen Frauen berufstätig und die DDR hatte „eine der höchsten Frauenerwerbsquoten der Welt“.[8] Demgegenüber veränderte sich die Erwerbsquote westdeutscher Frauen im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65 Jahre) zwischen 1950 und 1980 kaum; sie lag knapp unter oder bei 50 Prozent. Erst im Laufe der 1980er Jahre erhöhte sich die Frauenerwerbsquote in Westdeutschland etwas und 1991 erreichte sie 55 Prozent.[9]
Während in den westlichen Bundesländern bis Mitte der 1990er Jahre die Erwerbsquote dieses Niveau hielt und in den darauffolgenden Jahren bis 2012 auf 68 Prozent anstieg, war die Quote ostdeutscher Frauen in den 1990er Jahren deutlich rückläufig. Sie ging von 67 Prozent im Jahr 1991 auf 58 Prozent im Jahr 1995 zurück. Erst in den 2000er Jahren erholte sich die Frauenerwerbsquote und erreichte 2012 69 Prozent.[10] Für die 2010er Jahre deuten die Zahlen damit auf eine Angleichung der Erwerbsquote ost- und westdeutscher Frauen hin. Für die Zeit davor lagen signifikante Unterschiede vor. Zudem fällt der Rückgang der Frauenerwerbsquote in den östlichen Bundesländern im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Transformation auf.
Dieser Trend resultierte nicht aus einer veränderten Einstellung zur Berufsarbeit oder der Adaption des westlichen Ernährer-Zuverdienerin-Modells. Denn auch die Erwerbsquote ostdeutscher Männer ging zwischen 1991 und 1995 von 79 Prozent auf 71 Prozent zurück. Bis 2012 erholte sie sich nur unwesentlich und stieg auf 74 Prozent an.[11] Der Rückgang der Erwerbsquoten in den östlichen Bundesländern resultierte im Wesentlichen aus den durch die Wiedervereinigung ausgelösten Werks- und Betriebsschließungen sowie Geschäftsaufgaben. Die Folge war ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Transformation führte auch dazu, dass – im Zuge der Umstellung von der Plan- auf die Marktwirtschaft und den damit einhergehenden wirtschaftlichen und persönlichen Unwägbarkeiten – jüngere Frauen mit einer Eheschließung abwarteten (oder zum Arbeiten in den Westen zogen) oder Ehepaare die Geburt eines Kindes aufschoben. Statistisch äußerte sich das in einem deutlichen Abfall der Heiratsquote und der Geburtenziffer. Beide Trends kehrten sich in den 2000er Jahren wieder um, sodass sich östliche und westliche Bundesländer im Hinblick auf Geburten und Eheschließungen anglichen. Zudem tendierten Paare in beiden Teilen Deutschlands zum Zweiverdiener-Modell, wenngleich Mütter nach der Geburt ihres ersten Kindes nicht in Vollzeit, sondern in Teilzeit arbeiten.[12]
Die Berufsarbeit gehört damit in der Bundesrepublik mittlerweile zum typisch weiblichen Lebensentwurf. In den 1950er Jahren war dies noch nicht der Fall gewesen. In der DDR war sie demgegenüber politisch gewollt und ökonomisch notwendig. Inwiefern sie „erzwungen“ war, ließe sich lediglich aus der Befragung Einzelner erschließen. Zu fragen wäre auch, wann sich ostdeutsche Frauen vielleicht nicht einer Berufsarbeit an sich, aber zumindest einer Vollanstellung entziehen konnten. Nach 1990 hatten sie demgegenüber diese Wahlmöglichkeiten nicht. Hier resultierte der Rückgang der Frauenerwerbstätigkeit aus dem Anstieg der Arbeitslosenquote. Berufsarbeit blieb gleichwohl Teil des Lebensentwurfs und entwickelte sich – meist aus ökonomischen Gründen zu einem Merkmal –auch- westdeutscher Familien. Zu fragen wäre, inwiefern diese Entwicklung mit der jeweils gewählten Ausbildung korrespondierte.
Literaturverzeichnis
Kaminsky, Anna, Frauen in der DDR, Berlin 2016.
Neumaier, Christopher, Hausfrau, Mutter, Erwerbtätige? Frauen im geteilten Deutschland, Berlin 2022.
Obertreis, Gesine, Familienpolitik in der DDR 1945–1980, Opladen 1986.
[1] Dr. Christopher Neumaier, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung
[2] Vgl. Obertreis, Familienpolitik, 140–198; Budde, Frauen, 55–68.
[3] Kaminsky, Frauen, 77.
[4] Vgl. Obertreis, Familienpolitik, 119.; Kaminsky, Frauen, 94f.
[5] Vgl. Gysi/Meyer, Leitbild, 152f.
[6] Vgl. Obertreis, Familienpolitik, 118f.
[7] Vgl. Wirsching, Erwerbsbiographien, 86.; Kuller, Familienpolitik, 64f.; Peuckert, Familienformen, 154.
[8] Vgl. Trappe, Emanzipation, 52, 113 [Zitat].; Nickel, Mitgestalterinnen, 237.
[9] Vgl. Peuckert, Familienformen, 362.
[10] Vgl. Ebenda, 362.
[11] Vgl. Ebenda, 362.
[12] Vgl. Ebenda, 157, 361–363.; Neumaier, Familie, 337–339.; Neumaier, Hausfrau, 102f., 160.