Der Kampf um den Erhalt des Chemiedreiecks[1]

Von Rainer Karlsch (Berlin)[2]

Erblast

In kaum einer anderen Branche spiegelte sich die Krise der DDR-Wirtschaft Ende der 1980er-Jahre deutlicher wider als in der chemischen Industrie. Zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit des Landes waren die Raffinerien in Schwedt, Leuna und Zeitz auf eine nahezu heizölfreie Fahrweise umgestellt worden, um mehr sogenannte helle Produkte – d. h. Benzin und Diesel – für den Export gegen Devisen zur Verfügung zu haben. Dieser Plan funktionierte, beeinträchtigte aber die Wirtschaftlichkeit der Mineralölproduktion. Noch weitaus dramatischere Folgen hatte die Verschuldungskrise für die Standorte der Großchemie im heutigen Sachsen-Anhalt. Für ihre Modernisierung fehlten bei sinkenden Investitionsraten die Mittel. Längst verschlissene Anlagen der Kohlechemie wurden mit Ausnahmegenehmigungen weiterbetrieben. Mit dem „Heizölprogramm“ kam es zu einem rückwärtsgewandten Strukturwandel, d. h. einem teilweisen Ersatz von Erdöl und -gas durch Braunkohle. Die Folgen für die Beschäftigten in der chemischen Industrie, die Bewohner der Region und für die Umwelt waren dramatisch. Beim Pro-Kopf-Ausstoß von Schadstoffen verschiedener Art, vor allem Kohlendioxid, Schwefeldioxid, Stickoxiden und Ruß, lag die DDR in Europa mit an der Spitze. Dies führte zu einer wachsenden Ablehnung der Politik der SED-Führung durch große Teile der Bevölkerung und zum Entstehen von Protest- und Umweltgruppen. Neben den Forderungen nach einer Demokratisierung der Gesellschaft gehörte das Verlangen nach einer grundlegenden Verbesserung des Umweltschutzes zu den zentralen Themen in den Monaten der friedlichen Revolution 1989/90.

Nach dem Fall der Mauer richteten sich die Hoffnungen der Belegschaften auf die Gründung von Joint Ventures und, als sich die baldige deutsche Einheit abzeichnete, auf die Übernahme ihrer Betriebe durch die westdeutschen Branchenführer. Diese nutzten ihre langjährigen Geschäftskontakte zu den DDR-Kombinaten und verschafften sich bis zum Sommer 1990 einen Überblick, welche Standorte für Übernahmen infrage kamen.

Probleme nach 1990

Der Vorwurf, die Treuhand hätte in einem „gigantischen Umfang Kapitalvernichtung betrieben“ (Christa Luft, Wirtschaftsministerin in der Regierung Modrow), lässt sich mit Blick auf die chemische Industrie nicht halten. Wenn man so will, dann fand die Kapitalvernichtung bereits in der DDR-Zeit statt. Dabei stellte der veraltete Kapitalstock der meisten Betriebe noch nicht einmal das größte Privatisierungshemmnis dar. Auch die viel kritisierten zu hohen Lohnstückkosten erwiesen sich nicht als entscheidende Bremse. Die in der ökonomischen Diskussion damals geforderte Lohnzurückhaltung (etwa von Hans-Werner Sinn), um die Privatisierungschancen zu verbessern, hätte in den meisten Betrieben der chemischen Industrie wenig bewirkt und die ohnehin einsetzende Abwanderung von Fachkräften nur noch verstärkt.

Die größten Probleme resultierten aus den nach der Einführung der D-Mark ab Juli 1990 im In- und Ausland wegbrechenden Märkten. Selbst der Versuch, nach einer Übergangsphase auf den Exportmärkten wieder Fuß zu fassen, war für die ostdeutschen Chemieunternehmen schwer, da sie nur über wenige qualitativ hochwertige und weltmarktfähige Produkte verfügten. Als Privatisierungshindernisse kamen in den Betrieben der Basischemie, in denen die wichtigsten Grundchemikalien als Ausgangsstoffe für eine Vielzahl von industriellen Folgeprodukten hergestellt wurden, noch die viel zu hohen Energiekosten und überdimensionierte Infrastrukturen hinzu.

Die Treuhand wurde sich der ganzen Tragweite dieser Problemlagen mitsamt ihrem sozialpolitischen Zündstoff erst nach einigen Monaten bewusst. Die Behörde war in ihrer Gründungsphase aus personellen und organisatorischen Gründen noch gar nicht dazu in der Lage, die ihr zu gedachten Funktionen voll auszuüben. Sie spielte daher bei den ersten Privatisierungen nur eine Nebenrolle. Die wichtigsten Akteure waren 1990 die Unternehmensvorstände in West und Ost und im Fall der größten Verkäufe das Bundeskanzleramt. Daher kann, zugespitzt formuliert, für das erste Jahr der Einheit vom letzten großen Triumph der „Deutschland AG“ gesprochen werden. Auch wenn sich im Bereich der chemischen Industrie bzw. Mineralölindustrie aus den genannten Gründen die Übernahmen in Grenzen hielten, können die Verkäufe des Synthesewerks Schwarzheide an die BASF, des Waschmittelwerks Genthin an Henkel und der Raffiniere Schwedt an VEBA/DEA dafür als Beispiele gelten.

Frühe Verkäufe

Bei den frühen Verkäufen sprachen sich die neu gebildeten Betriebsräte trotz des absehbaren Personalabbaus für westdeutsche Konzerne als neue Eigner aus. Sie sahen darin keine „feindlichen Übernahmen“, sondern die beste Chance zum Erhalt ihrer Werke und möglichst vieler Arbeitsplätze. Deutlich reservierter standen die Belegschaften ausländischen Investoren gegenüber, wie im Fall der Übernahme des Deutschen Hydrierwerks Rodleben (DHW) durch die indonesische Salim-Gruppe.

Bei den Positionskämpfen um den neuen Markt spielten die Interessen der ostdeutschen Produzenten nur eine untergeordnete Rolle.

Im wilden ersten Jahr der deutschen Einheit versuchten verschiedene Interessengruppen über persönliche Netzwerke, Pressekampagnen und das Durchstechen von Informationen Einfluss auf die Arbeit der Treuhand zu nehmen. Das zeigte sich unter anderem bei der Neuling-Minol- und der PCK-Affäre. Die Treuhand, zumindest ihre Mineralölgruppe, glich einem Schlangennest, mit unklaren Loyalitäten und kaum durchschaubaren Intrigen. Die Intransparenz vieler Vorgänge – bis zum Frühsommer 1991 gab es keine Revisionsabteilung und auch die Rechtsabteilung blieb bei vielen Verhandlungen außen vor –,­ die häufigen Wechsel in Schlüsselpositionen und vor allem der immense Zeitdruck führten zu suboptimalen Entscheidungen und langwierigen juristischen Auseinandersetzungen.

In der kurzen Amtszeit von Detlev Karsten Rohwedder bis zu dessen Ermordung am 1. April 1991 wurde trotz seiner Ankündigung, der Sanierung einen größeren Stellenwert einzuräumen, nicht ein einziger nennenswerter Sanierungskredit vergeben. Trotzdem hält sich bis heute hartnäckig die Legende, Rohwedder hätte erst sanieren und dann verkaufen wollen, wohingegen erst seine Nachfolgerin Birgit Breuel einseitig auf schnellstmögliches Verkaufen gesetzt habe.[3] Wie auch die Beispiele aus dem Bereich der chemischen Industrie zeigen, war es der Treuhand bis zum Frühjahr 1991 nicht möglich, sich um die Sanierung von Betrieben zu kümmern. Sie agierte in dieser Zeit nur als Verkaufsagentur.

Hauptkriterien bei den frühen Verkäufen waren verbale Arbeitsplatz- und Investitionszusagen. Der Kaufpreis war in allen hier behandelten Fällen nachrangig. Da die Erwerber den Kaufpreis mit einer Reihe von Positionen, darunter Altschulden, Altlasten, Modernisierungsinvestitionen und Sozialplankosten, verrechnen konnten, erzielte die Treuhand selbst bei der Veräußerung der modernsten Werke – Synthesewerk Schwarzheide, Düngemittelwerk Rostock, PCK Schwedt und Chemiewerk Nünchritz – keine Überschüsse, sondern zahlte noch einige Hundert Millionen DM drauf.

Ökonomen fiel es nicht schwer, eine Erklärung für die magere Bilanz der Treuhand zu geben. Bei einem Überangebot von zum Verkauf anstehenden Unternehmen mussten die Preise in den Keller fallen. Es handelte sich um einen klassischen „Käufermarkt“. Insofern konnte die Treuhand nur selten den Bilanzwert der Unternehmen zugrunde legen, sondern musste den Ertragswert bemühen. Dieser lag bei fast allen Unternehmen –­ Ausnahmen waren Betriebe der pharmazeutischen Industrie und der Spezialchemie – im negativen Bereich. Um größere Chemiebetriebe veräußern zu können, musste die Treuhand daher neue Betreiber, das Wort „Investor“ ist hier unangebracht, kaufen.

Eines der größten Privatisierungshindernisse im Bereich der chemischen Industrie stellten die Altlasten dar. Ohne eine nahezu komplette Übernahme dieser Kosten durch die Treuhand wäre im Bereich der chemischen Industrie kaum eine Privatisierung zustande gekommen. Die ursprünglich nur als Ausnahme gedachte Regelung im Vertrag zwischen der Treuhand und der BASF AG über die Synthesewerk Schwarzheide GmbH vom Oktober 1990 erlangte Modellcharakter. In die Privatisierungsverträge wurde seitdem eine Altlastenklausel aufgenommen, die lediglich eine zehnprozentige Kostenbeteiligung des Käufers, und auch dies nur bis zu einem Maximalmalbetrag im niedrigen Millionenbereich, vorsah. Strittig blieb noch längere Zeit, nach welchem Schlüssel sich die Treuhand und die Länder die Kosten für die Altlastensanierung teilen sollten. Eine Lösung dafür wurde nach zähen Verhandlungen im Dezember 1992 im Rahmen eines Bund-Länder-Verwaltungsabkommen „Altlastenfinanzierung (VA I)“ gefunden.

Positive Ökobilanz

Zu den wichtigsten Ergebnissen des Transformationsprozesses im Chemiedreieck gehören die erhebliche Verringerung des Schadstoffausstoßes, insbesondere von Kohlendioxid,die Reinigung des Grundwassers sowie die Sanierung großer Abfallhalden. Die Kosten dafür schlugen sich mit vielen Milliarden DM in der Schlussbilanz der Treuhand und auch in den Haushalten der ostdeutschen Bundesländer nieder. Auf der Habenseite stehen die Renaturierung einstiger Braunkohle- und Chemielandschaften und ein Zugewinn an Lebensqualität für die Bewohner der besagten Regionen. Auch die deutliche Senkung des gesamtdeutschen Kohlendioxidausstoßes seit 1990 ist zu einem großen Teil der Stilllegung veralteter Anlagen und dem Umbau der Chemiestandorte in Ostdeutschland zu verdanken.

Kanzlerversprechen für die Großchemie

Bereits Ende 1990 trübte sich die Chemiekonjunktur ein. Die Branchenführer revidierten ihre Prognosen und Gewinnerwartungen. Es zeichnete sich ab, dass die westdeutschen Chemiekonzerne kaum gewillt waren, Investitionen in Ostdeutschland vorwiegend aus „nationalem Verantwortungsgefühl“ zu tätigen. Dies wurde von den Vorständen zwar gern postuliert, doch zu einem außergewöhnlichen Engagement kam es nicht.[4] Als einer der Ersten sah der Vorsitzende der IG CPK, Hermann Rappe, voraus, dass sich die westdeutschen Chemiekonzerne nicht im erhofften Umfang im Osten engagieren würden. Die Strategie der Gewerkschaft bestand daher darin, sich als wichtigste Interessenvertreterin der ostdeutschen Chemiearbeitnehmer zu etablieren und Druck auf die Politik auszuüben.[5] Kein großer Standort sollte aufgegeben werden.

Die Frage, ob Betriebe vor ihrer Privatisierung erst saniert und dann verkauft werden sollten, war hoch umstritten. Im Treuhandgesetz war die Priorität nicht eindeutig geregelt.[6] Nicht wenige Ökonomen und Politiker lehnten eine Sanierung durch die Treuhand grundsätzlich ab, da sie die Behörde angesichts Tausender Sanierungsfälle dazu gar nicht in der Lage sahen und die Stützung veralteter Strukturen befürchteten. Angesichts dieser Diskussionen wuchsen in den Betrieben der Großchemie die Unsicherheit und Enttäuschung. Die Euphorie nach der Einführung der D-Mark war verflogen und die Wahlversprechen vom neuen Wirtschaftswunder kollidierten mit den tristen Realitäten. Dabei stand der größte Abbau von Arbeitsplätzen erst noch bevor. Die Bundesregierung und die Treuhand waren gezwungen, den bisher eingeschlagenen Kurs zu überdenken.

Das Wiederaufleben der Leipziger Montagsdemonstrationen und eine Großdemonstration vor der LEUNA-WERKE AG im März 1991, die sich gegen die geplanten Betriebsschließungen richtete, setzten die Treuhand unter Zugzwang. Die Bundesregierung beschloss ein Paket von Gesetzen und Maßnahmen zum „Aufschwung Ost“. Die Privatisierung wurde als ordnungspolitisches Hauptziel bestätigt, doch sollte die Treuhand ihre unternehmerische Verantwortung für die nicht sofort verkäuflichen Betriebe künftig stärker wahrnehmen.[7] Eine Tendenz zur Politisierung ihrer Arbeit war unverkennbar.

Die Treuhand begann mit der Erarbeitung eines Unternehmenskonzepts für die Großchemie und berief kompetent besetzte Chemieteams für die einzelnen Standorte. Diese wurden von westdeutschen Managern dominiert, verzichteten aber nicht auf den Sachverstand ostdeutscher Führungskräfte. Ihre Entscheidungsvorlagen beruhten auf Studien zur betriebswirtschaftlichen Situation an den jeweiligen Standorten und internationalen Vergleichen. Für die Raffinerien und die Großchemie bereiteten die Expertenteams standortübergreifende Lösungen vor. Mit dem Erhalt eines größeren Chemieanteils wurde allerdings nur in Leuna und Schkopau gerechnet. Mehr als eine grobe Skizze zum Umbau der Standorte der Großchemie in Sachsen-Anhalt lag dem Bundeskanzleramt Anfang Mai 1991 nicht vor. Dennoch gab der Bundeskanzler auch aufgrund seiner biografischen Prägungen vor den Belegschaften in Schkopau und Bitterfeld am 10. Mai 1991 de facto eine Bestandsgarantie für die Unternehmen des Chemiedreiecks ab.

Das Kanzlerversprechen ließ sich nur mit einer Hinwendung zur Industriepolitik realisieren. Anschauungsunterricht dafür bot das Vorgehen der Treuhand im Bereich der Mineralölwirtschaft. Als Blaupause diente eine von den Beratungsgesellschaften McKinsey und Arthur D. Little im Herbst 1991 vorgelegte Studie. Eckstein des Konzepts war die Modernisierung oder der Neubau der Leuna-Raffinerie. Davon hing ab, ob es auf längere Sicht neben Schwedt an der Oder noch einen zweiten großen Raffineriestandort in Ostdeutschland geben würde oder nicht. Den entscheidenden Hebel stellte die Verknüpfung des Raffinerieneubaus mit dem Verkauf der Tankstellenkette Minol dar. Damit sollte nicht nur der Raffineriestandort gesichert, sondern der Grundstein für den Erhalt der Leuna-Chemie gelegt werden. Im Fall von Leuna setzte sich Treuhanddirektor KlausSchucht mit seinem Ansatz gegen die gesamte westdeutsche Mineralölwirtschaft durch.[8] Wie auch das Beispiel des Leuna-Minol-Vertrags zeigte, war keine der zentralen Entscheidungen der Treuhand alternativlos, auch wenn dies in den Vorlagen für den Vorstand und Verwaltungsrat oft so dargestellt wurde.

Ob sich der Standort Leuna ohne die neue Raffinerie ähnlich erfolgreich entwickelt hätte, bleibt eine hypothetische Frage. Der Erhalt und die Neuansiedlung von Chemieunternehmen wären aber ohne das „Leuchtturmprojekt“ wohl noch deutlich schwieriger verlaufen. Für den Standort Leuna erwies sich das Engagement des französischen ELF-Konzerns als Rettungsanker.[9] Vom Raffinerieneubau ging das erhoffte Signal für die Privatisierung der Leuna-Chemie aus.

In den 1990er-Jahren konnten alle deutschen Raffinerien zusammen rund 100 Millionen Tonnen Rohöl verarbeiten. Mehr als ein Fünftel davon entfiel allein auf die beiden Raffinerien in Ostdeutschland.[10]Also rundum eine Erfolgsgeschichte staatlicher Industriepolitik? Im Fall von Leuna führte die Privatisierungsstrategie der Treuhand mit Billigung der EU-Kommission und hohen Beihilfen zur Schaffung eines wettbewerbsfähigen Industriekomplexes. Andernfalls wären wohl tatsächlich dort nur die von Unternehmensberater Roland Berger prognostizierten Schafweiden übrig geblieben. Kleinere Raffineriestandorte in Zeitz und Lützkendorf hatten das Nachsehen. Die dortigen Betriebe wurden mit harten wirtschaftlichen und sozialen Folgen geschlossen, die bis heute spürbar sind.

Das mit Abstand teuerste Projekt der Treuhand bzw. BvS war der Verkauf des Olefinverbunds an Dow Chemical im Jahr 1995. In diesem Fall wollte Schucht in einem noch weit größeren Stil Industriepolitik betreiben als zuvor beim Leuna-Minol-Vertrag. Ihm schwebte in Fortsetzung der Entspannungspolitik eine symbolträchtige russisch-amerikanisch-deutsche Kooperation vor. Russisches Gas sollte in Crackern im Chemiedreieck zu Grundstoffen nicht nur für die deutsche, sondern die europäische Chemieindustrie verarbeitet werden. Die Treuhand unterschätzte allerdings die immensen Kosten des Projekts und wohl auch die langfristigen wirtschaftsstrategischen Implikationen. Von den Fachleuten der Branche wurde das Kooperationsprojekt kritisch gesehen und letztendlich von Dow Chemical ausgebremst. Dow übernahm den Standort Schkopau und modernisierte ihn grundlegend, ließ aber russische Firmen außen vor.

Bitterfeld-Wolfen

Anders als Leuna und Buna galten die Stammbetriebe des Chemiekombinats Bitterfeld und des Fotochemischen Kombinats Wolfen nach den ersten Bestandsaufnahmen durch den Leitungsausschuss als hoffnungslose Fälle. Ohne das Kanzlerversprechen wären beide Betriebe rasch in die Abwicklung geschickt worden. Mit Rücksicht auf die besonders kritische Lage im Landkreis Bitterfeld-Wolfen und das Insistieren der IG CPK wurde der Abwicklungsbeschluss für die Filmfabrik Wolfen wiederholt vertagt. Der von 1991 bis Mitte 1994 anhaltende Rhythmus von insgesamt fünf Abwicklungsankündigungen und immer neuen Unternehmenskonzepten weckte immer wieder Hoffnungen, die sich dann stets als Seifenblasen erwiesen. Für die Beschäftigten der Filmfabrik war dieser „Untergang auf Raten“ (Stefan Wolle)[11] eine bittere Erfahrung. Wenn daher vom „Treuhand-Trauma“ (Yana Milev) gesprochen wird, ist dies nicht aus der Luft gegriffen, sondern beruht auf den Erfahrungen Hunderttausender Menschen. Allerdings sollte dabei nicht unerwähnt bleiben, dass die Treuhand gar nicht dazu in der Lage war, über Jahrzehnte verschleppte Strukturkrisen zu lösen. Von einem „Plattmachen“ im Sinne einer Marktbereinigung kann in diesem Fall nicht gesprochen werden.[12] Die Hauptursachen für das Ende der Filmproduktion in Wolfen sind in den Jahrzehnten davor zu suchen. Der Filmfabrik war es nicht gelungen, ihren seit den 1930er-Jahren beschrittenen technologischen Pfad zu verlassen. Bestenfalls lag Anfang der 1990er-Jahre noch der Erhalt eines kleinen Kernbereichs in Bereich des Möglichen. Doch selbst dafür fand sich trotz der Zusage staatlicher Hilfen kein Betreiber aus der Fotofilmbranche, sodass die Filmproduktion in Wolfen 1997 endgültig eingestellt werden musste. Die Marke ORWO blieb erhalten. Sie ging im Jahr 2002 an die ORWO Net GmbH, einen digitalen Fotodienstleister mit Sitz auf dem Gelände der Filmfabrik Wolfen, über.[13]

Chemieparkkonzept

Mit einer Reihe von Ausgründungen und MBO-Projekten begann der schwierige Aufbau eines neuen Mittelstands. Die Treuhand bzw. BvS gewährte dafür Anschubfinanzierungen. Mit dem Chemieparkkonzept wurde schließlich eine innovative Lösung für den langwierigen, bis Anfang der 2000er-Jahre andauernden Umbau der Standorte Bitterfeld und Wolfen gefunden. Einzelne besonders wichtige Geschäftsfelder in Bitterfeld wurden von der Treuhand/BvS saniert und teilweise noch bis 1997 in Eigenregie betrieben. Rückschläge blieben nicht aus. So musste der Chemiepark im Jahr 2000 nach einer zuvor missglückten Privatisierung zum zweiten Mal ausgeschrieben werden.

Die Etablierung der Chemieparks dauerte rund ein Jahrzehnt. Die BvS stattete die Chemieparkbetreiber mit Grundkapital aus, betrieb in Eigenregie Entsorgungsgesellschaften und förderte Neuansiedlungen. Das in der Öffentlichkeit bis heute dominierende Bild von Turboprivatisierungen durch die Treuhand, die 1994 ihren Abschluss fanden, ist angesichts dieser Tatsachen korrekturbedürftig.[14] Zwar hatte die Politik bewusst sehr kurze Übergangsfristen für die ostdeutsche Wirtschaft gesetzt, doch ließen sich diese Vorgaben in der chemischen Industrie und auch in anderen Branchen nicht durchhalten.

Das zuerst in Bitterfeld initiierte Chemieparkmodell wurde, jeweils angepasst an die konkreten Verhältnisse, von allen Standorten der einstigen ostdeutschen Großchemie übernommen. Auch westdeutsche Chemieunternehmen griffen das Modell Ende der 1990er-Jahre auf. In der zeitgeschichtlichen Forschung ist mit Verweis auf nachholende Entwicklungen im Westen in den frühen 2000er-Jahren von einer Übertragung des Reformdiskurses vom Osten auf den Westen, einer Kotransformation, die Rede.[15] Auch wenn dafür auf der Mikroebene die innovative Einrichtung von Chemieparks, die nach einem Low-Profit-Modell funktionieren, als ein Beispiel bemüht werden kann, so lassen sich in der Geschichte der Treuhand schwerlich weitere Belege für die These von der Kotransformation finden.

Die Privatisierung bzw. Stilllegung der von den Stammwerken der Kombinate abgetrennten Betriebe stand weniger im Fokus der Öffentlichkeit, obwohl es sich auch in diesen Fällen um Standorte mit zum Teil mehreren Tausend Beschäftigten handelte. Am einfachsten gestaltete sich der Verkauf der Betriebe der sogenannten Spezialchemie, die über günstige Rohstoffvorkommen verfügten. Ihre Produkte waren konkurrenzfähig. Die Hersteller von Soda, Kieselsäure, Flusssäure und Silizium fanden alle rasch neue Eigentümer und entwickelten sich nach einer Phase der Modernisierung zu führenden europäischen Herstellern. Der größte Aufschwung gelang dem Chemiewerk Nünchritz unter dem Dach der Wacker Chemie AG. Das Werk in Nünchritz ist inzwischen der wichtigste Chemiebetrieb in Sachsen. Dies war nicht auf die Privatisierungspolitik der Treuhand zurückzuführen, die auf einen falschen Käufer ohne ausreichende Branchenkenntnisse gesetzt hatte, sondern war dem Weiterverkauf des Werkes und den Umbrüchen in der Branche 1997 geschuldet.

Gescheiterte Projekte

Für zwei Großbetriebe, Elektrokohle Lichtenberg und Fettchemie Chemnitz, die vormals ebenfalls dem Chemiekombinat Bitterfeld zugeordnet waren, konnte die Treuhand keine Lösungen finden. Beide Betriebe hatten seit Ende des 19. Jahrhunderts in innerstädtischen Bereichen produziert. Ihre umweltbelastenden Produktionen konnten inmitten von Wohngebieten nicht länger fortgesetzt werden. Während die Treuhand in Chemnitz von vornherein mit der Stilllegung der Produktion rechnete, versuchte sie in Berlin halbherzig und im ständigen Streit mit dem Senat noch bis 1997 vergeblich, wenigstens einige Industriearbeitsplätze in der Elektrodenkohleproduktion zu erhalten. Das größte Kapital, über das beide Betriebe verfügten, waren ihre Grundstücke. Diese wurden aufwendig saniert und für den Umbau der Areale zu großen Dienstleistungszentren genutzt. Die Treuhand hat diesen Prozess trotz vieler Spannungen zwischen den verschiedenen Akteuren eingeleitet.

Bilanz

Angesichts der trostlosen Ausgangslage sind die Ergebnisse der Privatisierung der Betriebe des ehemaligen Chemiekombinats Bitterfeld beachtlich. Die Betriebe in Bernburg, Staßfurt, Nünchritz, Bad Köstritz und Stadtilm fanden neue Eigentümer, wurden modernisiert und gehören heute zu den wichtigsten Arbeitgebern in der jeweiligen Region.

Mit dem Abstand von rund zehn Jahren schätzten ehemalige Mitarbeiter der BvS und Manager aus der chemischen Industrie den Umbau der ostdeutschen Chemiestandorte als gelungen ein.[16] Sie wiesen den Vorwurf zurück, es seien lediglich altindustrielle Strukturen erhalten worden und betonten stattdessen den Aufbau neuer, effizienter Chemiekomplexe.[17]Die IG CPK und speziell ihr Vorsitzender Rappe hielten sich zugute, mit ihrem auf einen Interessenausgleich zwischen der Gewerkschaft und der Treuhand gerichteten Agieren maßgeblich zum Erhalt von Arbeitsplätzen beigetragen zu haben. Auch von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern wurde die „neokorporatistische Austauschlogik“ der IG CPK positiv bewertet.[18]

Kritiker hielten dem entgegen, dass trotz eines enormen Einsatzes staatlicher Mittel zu wenige Arbeitsplätze erhalten wurden. Sie vertraten die These, dass mit diesen Mitteln in weniger kapitalintensiven Industrien ein Mehrfaches an Arbeitsplätzen hätte geschaffen werden können.[19] Journalisten bemühten gar das Bild vom „Supergau deutsche Einheit“ (Uwe Müller). Solche kontrafaktischen Argumentationen verkennen, dass es in den 1990er-Jahren nur wenige Neuansiedlungen von zukunftsträchtigen Industrien in Sachsen-Anhalt gab. Das Land war kein bevorzugter Investitionsstandort. Ein Wandel deutete sich erst in den 2000er-Jahren mit dem Bau von Fabriken zur Produktion von Solarzellen im Landkreis Bitterfeld-Wolfen an. Als die Förderung dieser neuen Industrie zurückgefahren wurde, gingen die meisten deutschen Hersteller in die Insolvenz und chinesische Firmen begannen den Markt zu dominieren.

Es sprach sowohl aus der Sicht der Treuhand als auch der Landesregierung viel dafür, auf den Erhalt „industrieller Kerne“ in der chemischen Industrie zu setzen. Eine Affinität zur Chemieproduktion war in Teilen der Bevölkerung noch immer vorhanden, auch standen ausreichend Flächen zur Verfügung und die EU-Kommission hatte eine wohlwollende Prüfung von Beihilfen signalisiert.

Im Ergebnis des schwierigen, ein Jahrzehnt dauernden Transformationsprozesses sind in Sachsen-Anhalt Produktionsstätten entstanden, die in die globalen Strukturen international agierender Konzerne eingebunden sind. Dafür stehen vor allem die TotalEnergies-Raffinerie in Leuna und der Chemiepark Leuna, Dow Chemical in Schkopau und Solvay in Bernburg. Treuhand und BvS, die Europäische Union und die Landesregierung von Sachsen-Anhalt haben diesen Umbau mit sehr viel Geld gefördert. Ohne einen aktiven Staat wäre die chemische Industrie noch weiter geschrumpft als ohnehin geschehen. Den von Wirtschaftswissenschaftlern vertretenen Ansatz, den Umbauprozess allein dem Markt zu überlassen, hätten weder Bundes- noch Landespolitik lange durchgehalten, dafür wären die sozialen Folgen eines schnellen und vollständigen Zusammenbruchs des wichtigsten Industriezweigs in Sachsen-Anhalt zu groß gewesen.

Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die staatlichen Mittel effizient eingesetzt wurden. Der ehemalige Geschäftsführer des Olefinverbunds, Bernhard Brümmer, äußerte daran Zweifel: „Die Tatsache, dass im Chemiedreieck seit der Wende fast 50 Mrd. DM investiert wurden und damit gerade 5 bis 7 Mrd. DM Umsatz ohne nennenswerte Überschüsse erzielt werden, verdeutlicht die Defizite. Als zugegeben nicht ganz unproblematischer Vergleich sei auf die Marktkapitalisierung der BASF verwiesen. Sie liegt bei ca. 50 Mrd. DM und das Unternehmen erwirtschaftet mehr als 50 Mrd. DM Umsatz, beschäftigt weltweit insgesamt ca. 100.000 Mitarbeiter.“[20]

Nach dem Kraftakt der Transformation in den 1990er-Jahren blieben die Wachstumschancen des mitteldeutschen Chemiedreiecks begrenzt. Dazu Christoph Mühlhaus: „Mit Einführung des Emissionshandels und einer neuen Chemikalienpolitik gab es in Europa und insbesondere mit ‚Rot/Grün‘ in Deutschland Weichenstellungen der Umweltpolitik, die Investitionen nicht gerade begünstigten. Leider verlor Europa mit dem Emissionshandel, den Unwägbarkeiten des Steuerrechts und insbesondere durch die Unberechenbarkeit der politischen Willensbildung in diesem Jahrtausend seinen Platz als Zukunftsstandort von Basischemie.“[21]

Diese neuen Problemlagen können allerdings nicht der Politik der Treuhand angelastet werden.

Etwas anders verhält es sich mit den Defiziten in den Unternehmensbereichen Forschung und Entwicklung. Es gehörte seit den Anfängen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu den Charakteristika des mitteldeutschen Chemiedreiecks, dass dort reine Produktionsbetriebe angesiedelt wurden. Die Konzernzentralen und die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen befanden sich andernorts. In der DDR-Zeit wurde die Industrieforschung in allen Chemiekombinaten auf- und ausgebaut. Allerdings waren die Industrieforscher überwiegend mit Nachentwicklungen beschäftigt oder mit Produkt- und Verfahrensentwicklungen zur Ablösung von Importen. Entsprechend gering blieb die Zahl an Prozess- und Produktinnovationen.

Eine Konsequenz der Auflösung der Kombinatsstrukturen bestand darin, dass die Industrieforschung auf der Strecke blieb. Die neuen Eigentümer einzelner Geschäftsfelder in den Chemieparks von Leuna, Bitterfeld und Zeitz hatten für die Forschungsabteilungen keine Verwendung. Nur in Schkopau blieben Teile der Forschung erhalten. Das Problem des Niedergangs der Industrieforschung wurde von der Treuhand kaum beachtet und erst nach einer Intervention des Bundeskanzleramts im Frühjahr 1993 zur Chefsache erklärt.[22] Die daraufhin mit der Hilfe von Unternehmensberatern unternommenen Versuche zur Etablierung von Forschungs-GmbHs kamen jedoch über Ansätze nicht hinaus.[23] Im Ergebnis der Transformationsjahre gingen im Chemiedreieck rund 90 Prozent aller Arbeitsplätze in Forschung und Entwicklung verloren. Ohne Konzernzentralen und nur mit wenigen Stellen in Forschung und Entwicklung wird das Chemiedreieck zwar ein wichtiger europäischer Produktionsstandort bleiben, aber noch auf lange Sicht nicht mit der Wertschöpfung in den Zentren der europäischen Chemieindustrie konkurrieren können.

Eine durchwachsene Bilanz lässt sich auch für die untersuchten Industriezweige außerhalb der Standorte der Großchemie ziehen. Die sich im Westen über zwei Jahrzehnte hinziehende Strukturkrise in der Düngemittelbranche wiederholte sich im Osten im Zeitraffer. Übrig blieben zwei international wettbewerbsfähige Standorte. Das Düngemittelwerk in Rostock kann als werthaltiges Erbe der DDR-Industriepolitik gesehen werden. Es wurde ohne Zuschüsse der Treuhand von Norsk Hydro zu einem starken Standort im Konzernverbund entwickelt. Der Erhalt der Düngemittelproduktion in Piesteritz war hingegen nur mit sehr hohen staatlichen Zuschüssen möglich. Die Treuhand/BvS betrieb in diesem Fall aktive Strukturpolitik und deckelte die Verluste der Restrukturierung, indem sie noch bis 1998 über eine Tochterfirma Eigentümerfunktionen wahrnahm.

Kosmetik, Pharma, Haushaltschemie

In der Kosmetikindustrie blieben von den 1990 vorhandenen Arbeitsplätzen nur etwa 15 Prozent übrig. Nicht die Produktivität, die bei den wichtigsten ostdeutschen Herstellern Berlin-Kosmetik, Florena Waldheim, Patina Halle ­nur wenig unter dem westdeutschen Niveau lag, und auch nicht zu hohe Lohnstückkosten waren ausschlaggebend für diese Entwicklung. Die größten Probleme der ostdeutschen Kosmetikproduzenten bestanden darin, dass sie nicht über international bekannte Marken verfügten und sich auf ihren regionalen Märkten einem Verdrängungswettbewerb ausgesetzt sahen. Als dann der osteuropäische Markt, auf dem sie zuvor den größten Teil ihrer Exporte realisiert hatten, nahezu komplett zusammenbrach, war dies nicht zu kompensieren. Selbst die Retrowelle in Ostdeutschland, d. h. die Rückbesinnung der Verbraucher auf ostdeutsche Produkte, änderte daran nur wenig. Die Kosmetikindustrie im Osten schrumpfte auf einen sehr kleinen, dafür aber gesunden Kern.

Zu ähnlichen Resultaten führte die Privatisierung im Bereich der Haushaltschemie. Gravierende Fehlleistungen sind den Treuhandniederlassungen, allerdings mit der gewichtigen Ausnahme der kriminell agierenden Niederlassung in Halle, bei den Privatisierungen in dieser Branche nicht anzulasten. Entscheidungen zugunsten anderer Eigentümer hätten nur wenig an der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Unternehmen geändert. Die Markteintrittsbarrieren für mittelständische Unternehmen waren außergewöhnlich hoch. Ein längerfristiger Erfolg war nur wenigen ostdeutschen Produzenten von Haushaltschemikalien beschieden und dies zumeist auch nur in Marktnischen. In den 2010er-Jahren verschwanden die bekanntesten ostdeutschen Marken komplett. Die große Ausnahme stellte die Erfolgsgeschichte der Fit GmbH, Zittau, dar.

Im Bereich der Pharmaindustrie hatte für die Treuhand die Privatisierung der „Großen Drei“, Jenapharm, Arzneimittelwerk Dresden und Berlin-Chemie,­ Priorität. Diese Unternehmen wurden von Investmentbanken international ausgeschrieben und nach sauberen Bieterverfahren verkauft, die auch den Nachprüfungen durch die EU-Kommission und den Treuhand-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags standhielten. Für die Entscheidungsfindung wurden nicht nur die höchsten Kaufangebote zugrunde gelegt, sondern die Zukunftsträchtigkeit der jeweiligen Unternehmenskonzepte bewertet. In keinem anderen Bereich der Chemieindustrie wurden ähnlich hohe Erlöse erzielt wie im Pharmabereich. Ein historischer Langzeitvergleich zeigt den Bedeutungszuwachs der pharmazeutischen Industrie im Osten. Während die Pharmaindustrie auf dem Gebiet der späteren DDR im Jahr 1936 nur rund 5 Prozent der gesamtdeutschen Pharmaproduktion erzeugte, waren es 2022 15 Prozent.[24] Allerdings wird dieses Ergebnis wesentlich durch die Einbeziehung Berlins mit den großen Produzenten Bayer AG – Division Pharmaceuticalsund Berlin-Chemie AG beeinflusst.

In der Gegenwart findet ein neuerlicher Transformationsprozess statt, der in seinen Dimensionen nur mit den frühen 1990er-Jahren zu vergleichen ist. Von zentraler Bedeutung für die gesamte deutsche Wirtschaft ist das im Dezember 2015 in Paris von 197 Staaten ausgehandelte globale Klimaschutzabkommen.[25]Die deutsche Politik und Wirtschaft bekennen sich zum Pariser Klimaschutzabkommen und zur Strategie der „Dekarbonisierung“. Dies macht auch den neuerlichen Umbau der größten Chemie- und Raffineriestandorte in Ostdeutschland erforderlich.

Verschärft wurden die Probleme durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022. Über viele Jahrzehnte gewachsene Lieferbeziehungen russischer Energiekonzerne zu den Raffinerien in Schwedt und Leuna sowie zu den großen Gasverbrauchern, darunter die Düngemittelwerke in Piesteritz und Rostock, brachen vollständig weg, was zum Herunterfahren von Kapazitäten und zum teuren, teils staatlich subventionierten Abschluss von Lieferverträgen mit neuen Lieferanten führte. Wie schon in den 1990er-Jahren gilt es, das Verhältnis von privaten und staatlichen Investitionen neu auszutarieren. Davon wird maßgeblich abhängen, ob die Transformation der Wirtschaft zu einer weitgehend schadstofffreien Produktionsweise gelingt. Die Erfahrungen aus den 1990er-Jahren bieten dafür keine Blaupause, können aber bei den neu zu führenden Diskussionen um die Rolle des Staates und von Unternehmen in Umbruchszeiten zur Versachlichung der Debatten von Nutzen sein.

 

Anmerkungen


[1] Dieser Beitrag beruht auf meinem Buch „Das Chemiedreieck bleibt!“. Die Privatisierung der ostdeutschen Chemie- und Mineralölindustrie in den 1990er Jahren, Berlin 2024.

[2]Dr. Rainer Karlsch, Historiker, an verschiedenen Instituten, u.a. dem IfZ tätig.

[3]Vgl. Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals, S. 199 f.; Luft: Die Treuhand – größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten, S. 19.

[4] Vgl. Marx: Wegbereiter, S. 487.

[5]Fichter: Vereinigung und Modernisierung der Gewerkschaften, S. 292.

[6] Vgl. Pötzl: Der Treuhandkomplex, S. 117.

[7] Vgl. Grundsätze zur Zusammenarbeit von Bund, neuen Ländern und Treuhandanstalt für den Aufschwung Ost, in: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994, Bd. 2, S. 386.

[8]Vgl. Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung, S. 151.

[9]Vgl. Treuhand, Zwischenbilanz des Bereiches U6: Perspektiven des ostdeutschen Mineralölmarktes, März 1994, in: Treuhandanstalt (Hg.): Dokumentation 1990–1994, Bd. 4, Berlin 1994, S. 339–341.

[10] Vgl. Direktorat Chemie: Entwurf einer Presseerklärung zu Fragen der Raffineriekapazitäten in den Neuen Bundesländern, 8.2.1994, in: BArch Berlin, B 412/3603,Bl. 214.

[11]In anderem historischen Zusammenhang.

[12]Vgl. zuletzt Milev: Das Treuhand Trauma.

[13] Vgl. Karlsch: 50 Jahre ORWO.

[14] Vgl. Kowalczuk: Die Übernahme, S. 123.

[15] Vgl. Ther: Das „neue Europa“ seit 1989, S. 112 ff.; ders.: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent.

 

[16] Vgl. Deutsch: Die Privatisierung derBuna Sow Leuna Olefinverbund GmbH, S. 255–261.

[17] Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (Hg.): „Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen“, S. 144.

[18] Vgl. Czada: Der Vereinigungsprozess, S. 75 f.

[19] Vgl. Heismann: Überholen ohne einzuholen, S. 23.

[20] Brümmer: Das Kanzlerversprechen, S. 149.

[21]Mühlhaus: Die Dow Olefinverbund GmbH, S. 91.

[22]Vgl. Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr an Staatskanzlei, Wilken, 24.2.1994, LASA, Abteilung Magdeburg, Staatskanzlei, L1/683, Bl. 86.

[23]Vgl. Sandro Amann: Strategie für die Chemieforschung, 19.10.1993, ebd.

[24] Vgl.Chemie und Pharma in Ostdeutschland, 2022, in: https://www.nordostchemie.de/zahlen-daten-fakten (letzter Zugriff 20.12.2023).

[25] Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Abkommen von Paris, Berlin 2023.