Die DDR war (nicht) pleite. Wie ein Missverständnis entstehen kann

von Matthias Judt

Es löst wechselseitige Empörung aus. Die einen erklären, die DDR sei 1989/90 pleite gewesen. Sie verweisen für ihr Argument auf zum Teil schrottreife Industrieanlagen oder heruntergekommene Wohnhäuser und nicht zuletzt auf die Schulden, die sich bei der Treuhand schließlich bis 1994 angesammelt hatten. Die anderen weisen den Pleitevorwurf vehement zurück und belegen das mit in der DDR ebenfalls vorhandenen modernen Industrieanlagen und neuen Wohnvierteln.

Beide Positionen sind klar erkennbar unvereinbar. Und sie stimmen beide, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Am 30. Juni 1990, 23:59 Uhr, bewegte sich die Welt der DDR-Wirtschaft halbwegs noch in geordneten Bahnen. Die volkseigenen Betriebe (VEB) und Kombinate existierten noch - wenn auch nur noch für eine Minute. Sie repräsentierten einen enormen Wert, allerdings ausgedrückt in Mark der DDR, was aber noch nicht einmal alle Vermögenswerte umfasste: Grund und Boden waren nämlich, dem von Karl Marx entwickelten Modell der Festlegung von Werten folgend, faktisch mit Null in die Bilanz gestellt.

Die „Treuhandanstalt“, per Beschluss der letzten, nicht frei gewählten Volkskammer am 1. März 1990 gegründet, erhielt die Aufgabe, etwa 8.500 volkseigene Unternehmen mit vier Millionen Beschäftigten und ca. 60 Prozent der Fläche der DDR zu verwalten, umzubauen, zu privatisieren oder abzuwickeln.1

Der erste Chef des Verwaltungsrates der kurz „Treuhand“ genannten Institution und ihr späterer Präsident, Detlev Rohwedder, hatte im Februar 1990 den Wert der DDR-Wirtschaft auf etwa 600 Mrd. D-Mark beziffert und sich dabei auf Angaben des letzten von der SED gestellten Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, bezogen. Der hatte für das Betriebsvermögen der DDR-Wirtschaft einen Wert von 750 Mrd. DDR-Mark angegeben, wozu noch der bis dahin nicht korrekt ausgewiesene Immobilienwert von über einer Billion DDR-Mark hinzuzurechnen sei.2 Rohwedder wiederum hatte zu diesen Angaben einen fiktiven Umrechnungskurs von 3 zu 1 zwischen der DDR- und der D-Mark zugrundegelegt. Immerhin: Die DDR konnte also gar nicht pleite sein.

Am 1. Juli 1990, 0:01 Uhr, bewegte sich die Welt der DDR-Wirtschaft plötzlich scheinbar im Chaos. Die ehemaligen Direktoren der VEB, die jetzt als Geschäftsführer der noch im Entstehen befindlichen Kapitalgesellschaften Eröffnungsbilanzen in D-Mark zu erstellen hatten, sahen sich in den allermeisten Fällen außerstande, diese ausgeglichen auszufertigen. Die gerade aus den VEB entstehenden Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) und Aktiengesellschaften (AG) mussten nämlich als so überschuldet angesehen werden, dass sie sofort ihre Insolvenz gerichtlich hätten anmelden müssen. Andernfalls würden sich ihre Geschäftsführer strafbar machen. Auf die gesamte DDR bezogen, war es also absolut berechtigt, ihr nunmehr zu attestieren, pleite zu sein.

Was war in den zwei Minuten von 23:59 Uhr am 30. Juni 1990 bis 0:01 Uhr am 1. Juli 1990 geschehen? Hatten sich gerade noch vorhandene Werte in Luft aufgelöst? Hatte es einen gigantischen mitternächtlichen Raubzug - das Verbrechen des Jahrhunderts - gegeben? Nein: Grundstücke und Gebäude, jetzt sogar mit ihrem Wert von immenser Bedeutung für die Unternehmen, waren noch da. Maschinen und Anlagen standen an den Orten, wo sie auch zwei Minuten früher gestanden hatten. Ihr Wert war aber, wie sich bei der konkreten Bilanzerstellung schnell herausstellen würde, erheblich gesunken.

Die erst 1992 endgültig festgelegte Eröffnungsbilanz der Treuhand gab als Gesamtwert der Maschinen, Anlagen und Immobilien in der gesamten ostdeutschen Wirtschaft nicht mehr 1,75 Billionen D-Mark, sondern „nur noch“ für den von der Treuhand schließlich verwalteten Teil einen Gesamtwert von 311,2 Mrd. D-Mark an.3 Auch bei den Unternehmen, die nicht von der Treuhandanstalt verwaltet wurden, musste der „Wertverlust“ ähnlich sein. Zu diesen Unternehmen gehörten z.B. kommunale Verkehrsbetriebe oder die wieder als Stadtwerke organisierten Energieversorger, Wasserwerke, Straßenreinigungs- und Abfallentsorgungsbetriebe. Anders als in der Bundesrepublik befanden sich solche Unternehmen nicht im Besitz der Kommunen oder Gemeindeverbünde, sondern waren Eigentum des Staates DDR.

Beides, der buchhalterische Wertzuwachs bei den Grundstücken und der nunmehr zu erkennende erhebliche Wertverlust bei den Maschinen und Anlagen, musste theoretisch nicht einmal ein Problem darstellen. Denn ab sofort galten in der DDR eine neue Währung und ganz andere Werte und Methoden bei der Berechnung von Abschreibungen, was logischerweise zu den unterschiedlichen Angaben führen musste. Eine Maschine konnte gerade noch einen bestimmten Wert in DDR-Mark repräsentiert haben, weil sie mit einem ganz anderen Wert überhaupt in die Bilanz eingestellt und seit ihrer ersten Inbetriebnahme mit ganz anderen Abschreibungsbeträgen und -zeiträumen betrachtet worden war, als das geschehen wäre, hätte sie in der Bundesrepublik gestanden. Sie konnte nun jedoch „plötzlich“ komplett abgeschrieben sein und faktisch auch keinen Wert mehr haben, weil nunmehr die in der Bundesrepublik geltenden gesetzlichen und buchhalterischen Regeln auch für die DDR eingeführt worden waren.

Das war ein logischer Schritt bei der Inkraftsetzung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die am 18. Mai 1990 von den Finanzministern beider Länder, Theo Waigel und Walter Romberg, in einem Staatsvertrag geregelt worden war und am 1. Juli 1990 in Kraft trat. Beide Minister würden ab dem 1. Juli 1990 dann verantwortlich sein für die Regelung bezüglich der Altschulden der Unternehmen in der bald ehemaligen DDR.

Der von beiden unterzeichnete Vertrag stellte einen Zwischenschritt auf dem Weg zur erneuten Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands dar, wobei er - weil selbst unumkehrbar - diese staatliche Einheit ebenfalls unumkehrbar machte. Der Einigungsprozess sollte nicht an sicherlich gewichtigen Problemen in der Umsetzung scheitern. Und doch waren sie - insbesondere für die DDR in den letzten Monaten ihrer Existenz und die neuen Bundesländer - in ihren Folgen dramatisch.

Warum war das so - und warum war es dennoch richtig, sie weniger als Problem und mehr als eine Aufgabe anzusehen?

Neben den unterschiedlichen Bewertungen von Maschinen und Anlagen spielte ein weiterer Umstand eine große Rolle. In der DDR wurden zu jeder Zeit Werte von Maschinen und Anlagen grundsätzlich linear abgeschrieben, das heißt mit einem über die Jahre konstanten Anteil, z.B. in 10-Prozent-Schritten über einen Zeitraum von zehn Jahren. In der Bundesrepublik wurden in Reaktion auf konjunkturelle Schwankungen immer wieder für mehr oder minder große Teile der Wirtschaft andere, „schnellere“ Abschreibungsmöglichkeiten geschaffen. Die Abschreibung konnte dabei auch 10 Jahre dauern, aber anfänglich mit sehr hohen Anteilen erfolgen, um einen schnellen Rücklauf des eingesetzten Kapitals für die Unternehmen zu ermöglichen. Das kannte man in der DDR nicht, war im zentralistischen Wirtschaftssystem auch nicht erforderlich.

Die im Sommer 1990 drohende, gar in vielen Unternehmen eigentlich fällige Insolvenz hätte ihren Auslöser aber nicht in den unterschiedlichen Abschreibungssystemen gefunden. Wäre der 1. Juli 1990 eine „Stunde Null“ der ostdeutschen Wirtschaft auf ihrem Weg in die Bundesrepublik gewesen, und hätten ihre Bilanzbuchhalter die Abschlussbilanz in DDR-Mark und die Eröffnungsbilanz in D-Mark strikt voneinander getrennt halten können, hätte es auch kein Problem bei der Aufstellung der letztgenannten Bilanz gegeben oder gar die massenhafte Insolvenz vieler Unternehmen auslösen müssen.

Die beiden Bilanzen waren jedoch über eine Position untrennbar miteinander verbunden - dem Ausweis der von den volkseigenen Betrieben zu bedienenden Kredite in den D-Mark-Eröffnungsbilanzen der neu entstehenden Kapitalgesellschaften. Deren Volumina aus den DDR-Mark-Abschlussbilanzen wurden grundsätzlich im Verhältnis zwei Mark der DDR gegen eine D-Mark für die D-Mark-Eröffnungsbilanzen der Unternehmen und in der Folge auch für die Treuhand insgesamt umgestellt.4

Aus dem unterschiedlichen Ausweis bei den Veränderungen in der Bewertung von Immobilien, Anlagen, Maschinen und anderen Gegenständen, auf der einen Seite, und der Darstellung ihrer Finanzierung, auf der anderen, musste sich nun eine scheinbar unüberbrückbare Diskrepanz ergeben. Sie fand aber ihre Ursache nur vordergründig in der Umstellung auf D-Mark selbst. Tatsächlich lag das Problem in der Vergangenheit in der Art und Weise, wie die DDR-Wirtschaft zu Zeiten der SED-Herrschaft finanziert worden war.

„Profit“ sollten die DDR-Betriebe in den Jahren seit 1945 bis 1989 nicht machen. Aber „Gewinne“ sollten und mussten sie schon erwirtschaften, denn aus ihnen speisten sich ihre eigenen Haushalte und die der Kommunen, Bezirke und des gesamten Staates, an den der größte Teil der Gewinne abzuführen war.

Die volkseigenen Betriebe deckten zwar einen Teil ihrer Investitionen selbst, doch das war im Wirtschaftssystem der DDR durch zwei wesentliche Bestimmungen sehr stark begrenzt. Die VEB hatten zum einen ihren Beschäftigten zum Beispiel über den „Kultur- und Sozialfonds“ eine ganze Reihe von sozialen Wohltaten zukommen zu lassen: Sehr preiswertes Essen in den Kantinen, der Unterhalt von Kulturhäusern vor Ort, von Betriebskindergärten, eigenen Ferienobjekten in den schönsten Gegenden der DDR, nicht selten Betriebswohnungen bis hin zur finanziellen Absicherung von „Betriebssportgemeinschaften“ (einschließlich solchen, in denen Profisport (wie etwa im Fußball der DDR-Oberliga) betrieben wurde. Das waren Finanzierungsaufgaben, die in der Bundesrepublik allein oder weitestgehend von der öffentlichen Hand - also nicht den Unternehmen - direkt zu finanzieren waren.

Was den VEB nach dem Auffüllen der verschiedenen, innerhalb der Unternehmen zu verwendenden Fonds noch als Gewinn übrig geblieben war, musste zum anderen dann jedoch fast vollständig an den Staatshaushalt der DDR abgeführt werden. Das war zunächst die „produktgebundene Abgabe“ (PA) zu leisten, die man als eine Art Umsatzsteuer verstehen kann. Erst danach war der betriebliche Gewinn festzustellen, von dem jedoch weitere Abführungen an den Staat oder vorgegebene Verwendungen innerhalb oder im Umfeld der Unternehmen zu finanzieren waren. Zunächst ist hier die „Produktionsfondsabgabe" (PFA), eine Art Vermögenssteuer, zu nennen. Sie wurde für die Unternehmen auf der Grundlage des Werts der in den Unternehmen steckenden Investitionen, einschließlich unvollendeter, (den sogenannten Produktionsfonds) berechnet.5 Sie machte zum Beispiel 1988 knapp 11 Prozent der Einnahmen des Staatshaushaltes aus.6

Erst nach Abführung der Fonds an den Zentralstaat war der Nettogewinn zu errechnen, von dem wiederum erneut der größte Teil an den Staatshaushalt als eine Art Körperschaftssteuer zu überweisen war. Sie wurde für jeden Betrieb unterschiedlich als fester Betrag in der (Finanz-)Planung der Unternehmen festgelegt. Die Nettogewinnabführung machte 1988 etwa 43,5 Mrd. DDR-Mark aus und deckte knapp 16 Prozent des DDR-Staatshaushaltes ab.7

Schließlich war von den Unternehmen (seit 1984 für die zentral geleiteten Industriebetriebe, ab 1985 dann auch für das Bauwesen) ein „Beitrag zu den gesellschaftlichen Fonds“, eine Art Lohnsummensteuer, zu entrichten. Sie entsprach einheitlich 70 Prozent der in den Unternehmen gezahlten Löhne.8

Vergleicht man diese Werte mit den seinerzeit in der Bundesrepublik üblichen Steuersätzen für Unternehmen, erkennt man, dass die VEB in der DDR gar nicht in der Lage sein konnten, Investitionen zu einem größeren Teil aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Sie waren deshalb von vornherein auf sehr hohe Kredite angewiesen, die ihnen im System der Zentralverwaltungswirtschaft vom Staat, vermittelt über eigens dazu beauftragte staatseigene Banken, zugeteilt wurden. Die an den Staatshaushalt abgeführten finanziellen Mittel wurden so den Unternehmen, nunmehr in Form von Kreditschulden, wieder zugeordnet.

Diese Eigenart staatssozialistischer Planung und Lenkung der Wirtschaft war an sich erst einmal unschädlich. Die Unternehmen agierten als VEB zwar formal als eigenständige juristische Personen, die berechtigt waren, Verträge abzuschließen und Konten zu führen. Tatsächlich waren sie aber nur „Organe“ des Gesamtstaates, der nicht nur ihre Gewinne weitestgehend abschöpfte, sondern auch im Falle eines Falles für ihre Verluste vollständig aufkommen würde. Einer möglichen Zahlungsunfähigkeit eines VEB folgte nicht der Zwang, dass dieser Insolvenz anmelden und seine Belegschaft gegebenenfalls entlassen müsste. Der Staat als Gesamteigentümer sprang in jedem Fall der Zahlungsunfähigkeit ein. Eine hohe Verschuldung der DDR-Betriebe war im planwirtschaftlichen System des Landes für die Betriebe also nicht bedrohlich.

Genau das änderte sich in den 2 Minuten um die Mitternachtsstunde des 30. Juni/1. Juli 1990. Zwar blieb der Staat bis zu ihrem Verkauf - zunächst die DDR und ab dem 3. Oktober 1990 dann die Bundesrepublik - Eigentümer der Unternehmen, aber sie waren ab diesem Zeitpunkt nicht mehr untergeordnete „Organe“ des Staates, sondern komplett eigenständige juristische Personen mit der alleinigen Pflicht zur Haftung für Verluste und Schulden.

Damit lag die Aufgabe, die sehr hohen Kredite aus planwirtschaftlicher Zeit zu bedienen, nunmehr rechtlich allein bei den Unternehmen selbst. Ein eventueller Kreditausfall wurde jetzt nicht mehr durch den Zentralhaushalt verhindert. Weil die Kredite und finanziellen Guthaben bei den Unternehmen aber mit einem fixen Kurs von DDR-Mark- in D-Mark-Rechnung umgestellt worden waren, die Güter aber, die damit finanziert wurden, nach ganz anderen Kriterien umbewertet worden waren, entstand nun eine Lücke in den D-Mark-Eröffnungsbilanzen der Unternehmen. Nach bundesdeutschem Recht hätte in jedem einzelnen Fall genau deshalb sofort Insolvenz angemeldet werden müssen. Der logische Schluss aus dieser Diagnose war also, dass die DDR pleite sein musste.

Es wurden aber nicht am 1. Juli 1990 massenhaft Insolvenzen angemeldet. Wäre es so gewesen, hätte der Zusammenbruch der Wirtschaft in der DDR in den letzten Monaten ihrer Existenz eine - rein ökonomisch und nicht mehr politisch bedingte - Massenflucht in die Bundesrepublik ausgelöst - dorthin, wo Arbeit zu bekommen war, die es dann im Osten Deutschlands weitgehend nicht mehr gegeben hätte.

Die Fortführung der Unternehmen in der DDR und den späteren neuen Bundesländern wurde deshalb sehr schnell mit einem besonderen Finanzinstrument sichergestellt. Die Entscheidung über eine dann doch erforderliche Abwicklung nicht überlebensfähiger Unternehmen wurde mit ihr vertagt. Die Unternehmen konnten mittels sogenannter Liquiditätskredite aus dem DDR-Staatshaushalt (und nach der Vereinigung aus dem Bundeshaushalt) weiter aufrecht erhalten werden, bis über ihre Zukunft - idealerweise ihren Verkauf an neue Eigentümer - entschieden worden war.

Es waren dann im wesentlichen diese Liquiditätskredite an die ostdeutsche Wirtschaft, die bereits in der Eröffnungsbilanz der Treuhand einen Umfang von 209,3 Mrd. D-Mark und am Ende das Gros des Abschlussdefizits der Privatisierungsanstalt ausmachen sollten.9 Aber genau war das das Instrument, um nicht nur die Eröffnungsbilanzen der Unternehmen, sondern auch die der Treuhand selbst ausgeglichen darzustellen.

In den Monaten des Übergangs von einer Währung zur anderen und von einem Staat zum anderen wurde von den nun Verantwortlichen in der Treuhandanstalt und den beiden deutschen Regierungen noch vermutet, die Liquiditätskredite müssten nur für kurze Zeit gewährt werden. Das erfolgte in dem irrigen Glauben, die Wirtschaft der DDR, respektive der ostdeutschen Bundesländer, würde sehr schnell an Fahrt wieder gewinnen und die Kredite schließlich selbst bedienen können.

Ein Rundschreiben von Otto Schlecht (1925-2003), seinerzeit Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, vom 9. August 1990 an die Mitglieder des Kabinettsausschusses Deutsche Einheit ist dafür ein markantes Beispiel. Schlecht erklärte darin zwar, dass ein tiefgreifender „Umstellungsprozeß in allen Bereichen der Wirtschaft [der Noch-DDR] notwendig“ sei und nicht „ohne zeitweilige schmerzhafte Reibungsverluste (z.B. Schließung von Betrieben, zeitweilige hohe Arbeitslosigkeit) abgehen“ könne. „Wer dies zum Anlaß für Panikmache“ aber nähme, zeige „nur seine Inkompetenz.“ Ähnliches sei auch nach der Währungsreform von 1948 in Westdeutschland zu beobachten gewesen. Die Probleme seien damals aber „rasch überwunden“ worden.10

Das war bezüglich der Rückschau auf die frühe Bundesrepublik sicherlich richtig. Nur hatte Schlecht zwei völlig unterschiedliche Bedingungsgefüge in den Blick genommen. 1948 war in den Westzonen Deutschlands mit der Deutschen Mark eine reine Binnenwährung eingeführt worden, die sich dann ab 1957/58 zu einer der wichtigsten frei konvertierbaren Hartwährungen der Welt entwickeln konnte. Der Außenhandel der Westzonen und der frühen Bundesrepublik musste in den Zeiten der D-Mark als Binnenwährung in US-Dollar durchgeführt werden. Das war zeitweilig mit einer sehr restriktiven Devisenbewirtschaftung und Genehmigungspraxis für Geschäfte im Außenhandel der jungen Bundesrepublik verbunden. Sie bedeutete den Zwang, jeden US-Dollar, der für Importe ausgegeben werden sollte, erst durch eigene Exporte erwirtschaften zu müssen. Die Regelung stellte einen der Katalysatoren für das Wirtschaftswunder im Westen Deutschlands in den 1950er Jahren dar.

In der D-Mark-DDR des Sommers von 1990 und dem Beitrittsgebiet ab 3. Oktober des selben Jahres war keine Devisenbewirtschaftung und keine Genehmigungspraxis für Geschäfte im innerdeutschen und Außenhandel vorgesehen. Mit ihrem Verschwinden erlebte die „Mark der DDR“ mit einem Schlag eine enorme Aufwertung, die aber einschneidende Konsequenzen für die Unternehmen des Gebietes haben musste: Der Trabant musste sofort mit dem Renault oder Opel konkurrieren und konnte diesen Wettbewerb gar nicht bestehen. Alle Produkte in der DDR wurden nicht mehr über einen zentral gesteuerten Plan an ihren ebenfalls durch diesen Plan vorgesehenen Abnehmer verteilt, sondern mussten nun unter den Bedingungen der nationalen und internationalen Konkurrenz an den Mann gebracht werden.

Hinzu kam, dass sich bereits in Zeiten der DDR-Planwirtschaft eine enormer Investitionsrückstau aufgebaut hatte, sicherlich nicht alle, aber viele Maschinen und Anlagen in Industrie und Landwirtschaft der DDR technologisch und selbst auch technisch verschlissen waren. Die oben erläuterten hohen Abgaben der Betriebe an den Staatshaushalt spielten für den sich zum Ende der DDR verstärkenden Verschleiß von Maschinen, Anlagen und Gebäuden eine große Rolle.11

Das wiederum hatte zur Folge, dass ein erheblicher Produktivitätsrückstand die Anpassungsprobleme der ostdeutschen Wirtschaft noch verschärfen musste. Der Eindruck, die DDR sei 1989/90 eh pleite gewesen, musste sich angesichts der vielfach zu sehenden Bilder von kaputten Anlagen oder heruntergekommenen Häusern in den Städten noch verfestigen.

1. Juli 1990, 0:01 Uhr. Es hatte also nicht einfach nur eine Währungsreform in der DDR stattgefunden, wie sie in der Geschichte viele Länder erlebt hatten und auch in der Zukunft immer wieder einmal erleben werden. Nein: Es war im Falle der DDR mehr passiert - eine Währungsunion mit einem damals noch anderen Land, der Bundesrepublik, mit dem die staatliche Vereinigung erst etwas mehr als drei Monate später vollzogen wurde. Einem anderen Land, das eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt war und ist und an das sich die DDR, respektive die neuen Bundesländer anzupassen hatten - nicht umgekehrt.

Auf der anderen Seite hatte das Beitrittsgebiet im Vergleich zu den mittel- und osteuropäischen Transformationsländern mit der absehbaren Zugehörigkeit zur Bundesrepublik einen enormen Vorteil. In den anderen ehemaligen Ostblockstaaten Mittel-und Osteuropas sollte der Anpassungsprozess der jeweiligen Volkswirtschaften mit deutlich größeren Härten vonstatten gehen. Im Osten Deutschlands half die finanzielle Stärke des Westens Deutschlands, das Überleben sehr vieler Betriebe abzusichern, gerade auch durch eine oftmals vollzogene - nachholende - Entschuldung der früheren VEB.

Diese sollte jedoch erst im Zuge der Privatisierung der Unternehmen erfolgen, was den Neustart der ehemaligen VEB in der Marktwirtschaft vor ihrer Privatisierung zunächst enorm erschweren musste. Wegen ihrer hohen Verschuldung aus DDR-Zeit litt ihre Kreditwürdigkeit bei der erforderlichen Aufnahme neuer Darlehen.12

Zudem brachten die Schulden der Unternehmen ihre potenziellen Käufer in eine für sie vorteilhafte Verhandlungsposition. Bei der Bewertung der Kaufobjekte spielte neben ihrem Zustand und der Güte der bei ihnen hergestellten Produkte die vorgefundene finanzielle Situation der Betriebe eine entscheidende Rolle beim Ausverhandeln des Verkaufspreises und/oder der Festlegung von staatlichen Investitionszuschüssen. Das betraf schließlich auch ganz besonders die seit dem 1. Juli 1990 ausgereichten Liquiditätskredite.

Die Käufer konnten nicht immer, aber in der überwiegenden Zahl der Fälle so durchsetzen, das ihnen große Teile der in DDR-Zeiten als früheren VEB zugeordneten Kredite erlassen wurden. Abhängig davon, ob überhaupt eine Privatisierung der Unternehmen (und nicht nur ihrer Immobilien) sinnvoll war, oder in welchem Maße sie Käufer mit Investitionszusagen verbanden, wurde jeweils individuell entschieden, die Kredite zum weiteren Bedienen bei den Unternehmen selbst zu belassen oder eine teilweise oder volle Entschuldung zu Lasten des Haushaltes der Treuhand vorzunehmen. Je nachdem, wie hoch die Lasten der noch zu bedienenden Kredite für die Käufer sein würden, konnten diese ihren Verbleib in den Büchern der übernommenen Unternehmen akzeptieren oder ihre Übernahme durch die Treuhand durchsetzen.

Für die nicht überlebensfähigen Unternehmen war letztgenannter Fall immer die Lösung. Wurden sie in die Abwicklung geschickt, blieb das Tilgen von Altschulden genannten Verbindlichkeiten aus DDR-Zeiten durch die Bundesrepublik als letzter Eigentümerin der Unternehmen unausweichlich. Eine letzte Folge in der Beitrittsgeschichte der DDR, die maßgeblich zur Diagnose, sie sei 1989/90 pleite gewesen, beitragen sollte.

1 vgl. Treuhandanstalt (Hrsg.), Dokumentation 1990-1994, 15 Bde., Abschlussbericht, Berlin 1994, S. 5.

2 vgl. Matthias Judt, „Das Startkapital“ 8im folgenden Judt 2020), in Olaf Jacobs (Hg.), Die Treuhand. Ein deutsches Drama, Halle (Saale) 2020, S. 22 - dort nach Der Spiegel vom 29.10.1990 und Dieter Fockenbrock, „Treuhand- Ein Ding der Unmöglichkeit“, in Handelsblatt vom 8.11.2019.

3 Vgl. Treuhandanstalt, DM-Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990, Berlin 1992, hier Anhang, S. 35-42.

4 vgl. Reinhard Pohl, „Alt-Schulden der DDR-Betriebe: Streichung unumgänglich“, in DIW-Wochenberichte 36/1990, S. 503-509.

5 vgl. Dietrich Miller, „Zur Wert- und Kostentheorie des realen Sozialismus und ihrer Praxis in der Wirtschaft der DDR“, in: www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/54064/zur-wert-und-kostentheorie-des-realen-sozialismus-br-und-ihrer-praxis-in-der-wirtschaft-der-ddr/, vom 7. März 2011, im folgenden: Miller 2011.

6 ebenda, dort zitiert nach: Diethelm Hunstock, „Die Nutzung der Geld-, Finanz- und Kreditpolitik zur Wachstumssteuerung und Gleichgewichtssicherung“, in: Wiss. Zeitschrift der Hochschule für Ökonomie, 2/1990 (im folgenden Hunstock 1990) Berlin (Ost), S. 16.

7 vgl. Judt 2020, S. 29, dort nach Hunstock 1990, S. 16.

8 vgl. Miller 2011.

9 Vgl. Treuhandanstalt, DM-Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990, Berlin 1992, hier Anhang, S. 35-42.

10 Vgl. Rundschreiben des Staatssekretärs Schlecht an die Mitglieder des Kabinettsausschusses Deutsche Einheit (vom 9. August 1990) mit Bericht „Zur wirtschaftlichen Situation in der DDR. Stand 8. August 1990“ 8im folgenden: Rundschreiben vom 9. August 1990), in Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998; s. 1458-1461, hier S. 1458.

11 vgl. Judt 2020; S. 30.

12 vgl. dazu die Ausführungen in Rundschreiben vom 9. August 1990, S. 1459.