Von der Bewahrung zur Privatisierung des Volkseigentums
Die Treuhandanstalt zwischen Erwartungen und Enttäuschungen (1990-1994)
Dierk Hoffmann[1]
Die Treuhandanstalt war eine dem Bundesfinanzministerium nachgeordnete Behörde, die für die Privatisierung der ostdeutschen Industrie zuständig war und deren Tätigkeit im vereinten Deutschland bis heute sehr umstritten ist. Insbesondere in Ostdeutschland hat sich die Treuhandanstalt tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Bilanz der Behörde niederschmetternd ist: Von den etwa 12.000 Treuhandbetrieben wurden 30 Prozent liquidiert; von den ursprünglich vier Millionen Arbeitsplätzen blieb am Ende nur ein Drittel übrig. Doch darin ein behördliches Versagen zu erblicken wäre ahistorisch und einseitig. Der folgende Beitrag will einen kurzen Überblick über die Geschichte der Treuhandanstalt geben und die Rahmenbedingungen für die Privatisierung der volkseigenen Betriebe (VEB) Anfang der 1990er Jahre skizzieren.[2]
I. Rahmenbedingungen: Mauerfall und deutsche Einheit
Die Gründung der Treuhandanstalt ging auf ostdeutsche Bürgerrechtler in der friedlichen Revolution 1989 zurück, die einen Ausverkauf der DDR-Industrie an SED-Seilschaften, aber auch an westliche Investoren verhindern wollten. Denn der Mauerfall am 9. November 1989 beendete das Devisen- und Außenhandelsmonopol der SED und erhöhte schlagartig den ökonomischen Druck auf die volkseigenen Betriebe (VEB). Westliche Waren konnten nun fast ungehindert in die DDR gelangen, und die westdeutsche D-Mark entwickelte sich von einer heimlichen Währung zu einer faktischen Leitwährung. In der Folge trat das bereits zuvor bestehende Produktivitäts- und Wohlstandsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR offen zu Tage. Die Wirtschaftskrise, in der sich die DDR schon im Verlauf der 1980er Jahren befunden hatte, spitzte sich weiter zu. Die letzte SED-Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow verfügte von Anfang an über einen äußerst geringen Handlungsspielraum, was nicht nur mit der Hypothek einer gescheiterten Wirtschaftspolitik in Ost-Berlin, sondern auch mit der Dynamik der Ereignisse seit dem Mauerfall zusammenhing. Innerhalb von wenigen Monaten veränderte sich das politische, wirtschaftliche und soziale Koordinatensystem für die Menschen in der DDR nahezu vollständig.
Nachdem sich das Ende des SED-Regimes abgezeichnet hatte und über die Zukunft der DDR offen diskutiert wurde, tauchte auf den Montagsdemonstrationen in den ostdeutschen Städten vermehrt die Forderung nach Einführung der westdeutschen D-Mark auf. Deren rasche Einführung erschien den politischen Akteuren in Bonn Anfang 1990 als geeignetes politisches Mittel, um den anhaltend hohen Zustrom in die Bundesrepublik zu stoppen und der Bevölkerung in der DDR eine Bleibeperspektive zu bieten. Eine kontrollierte und über einen längeren Zeitraum gestreckte Angleichung der ostdeutschen Wirtschaft an das Modell der sozialen Marktwirtschaft, die von der Bundesbank und anderen Wirtschaftsexperten gefordert worden war, schien kaum noch realistisch zu sein. Hinzu kam die Tatsache, dass der ebenso überraschende wie eindeutige Ausgang der freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 allgemein als Plebiszit für eine schnelle Vereinigung gewertet wurde. Daraus erklärt sich auch die Entscheidung für die Modalitäten der Währungsumstellung zum 1. Juli 1990. Der dabei festgelegte Umrechnungskurs trug zwar den hohen Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung Rechnung, widersprach aber den ökonomischen Rahmendaten und bewirkte einen Aufwertungsschock für die Betriebe in der DDR.
Die Einführung der D-Mark 1990 hatte noch einen weiteren Effekt: Die Nachfrage nach westdeutschen Produkten, die vorher nur wenigen Ostdeutschen zugänglich gewesen waren, stieg nämlich sprunghaft an. Gleichzeitig sank die Nachfrage nach ostdeutschen Produkten. Dieser Nachfragerückgang, der auch durch ein Absenken der Preise nicht aufzuhalten war, bedeutete das endgültige Aus für viele Treuhandunterunternehmen in der Konsumgüterindustrie. Die einbrechende Binnennachfrage und die Eroberung des ostdeutschen Marktes durch westdeutsche bzw. westliche Unternehmen waren zwei Seiten einer Medaille. Noch schwerer wog freilich der Zusammenbruch des Osthandels, der mit der Einführung der D-Mark als alleiniges Zahlungsmittel einsetzte und durch die Auflösung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) Mitte 1991 und vor allem durch die Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 weiter beschleunigt wurde. Wirtschaftsexperten gingen bereits damals davon aus, dass die Exporte ostdeutscher Firmen nach Osteuropa um 60 Prozent einbrechen würden. Dieser dramatisch verlaufende Prozess ließ sich weder durch Tauschgeschäfte (Bartergeschäfte) noch durch die Ausdehnung der Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung kompensieren.
Zwischen West- und Ostdeutschland herrschte 1990 weitgehend Einigkeit darüber, dass westliches – und damit vor allem westdeutsches Kapital – notwendig war, um die Herausforderungen meistern zu können, vor denen die DDR-Wirtschaft zweifellos stand. So erklärt sich das Bemühen der Modrow-Regierung, Investoren aus dem Westen zu gewinnen. Dazu wurde im Januar 1990 ein Joint-Venture-Gesetz in der Volkskammer verabschiedet, das eine ausländische Kapitalbeteiligung an ostdeutschen Unternehmen mit bis zu 49 Prozent ermöglichte. Der Wunsch nach ausländischen Kapitalgebern war ein Türöffner für die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe. Vor diesem Hintergrund hatte sich ein Funktionswandel vollzogen, der sich im Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (kurz: Treuhandgesetz) niederschlug, das die frei gewählte Volkskammer am 17. Juni 1990 beschloss und das die zentrale Rechtsgrundlage für die Arbeit der Behörde bis zu ihrer offiziellen Auflösung Ende 1994 bildete. Wichtigste Aufgabe war nicht mehr die Bewahrung des „volkseigenen Vermögens“, sondern deren Privatisierung. Mit den dadurch erzielten Erlösen glaubte man den Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft finanzieren zu können. So gesehen war die Treuhandanstalt plötzlich ein Instrument zur Lösung eines gewaltigen ökonomischen Problems. Doch mit der Öffnung für Investoren und der damit verbundenen Teilprivatisierung waren von Anfang an unterschiedliche Ziele und Vorstellungen verbunden. Der Privatisierungskonsens begann sich im Herbst 1990 aufzulösen, als die ersten Betriebe schließen musste.
II. Die Treuhandanstalt unter Detlev K. Rohwedder
Bis zum Sommer 1990 erfolgten die ersten großen Privatisierungsentscheidungen (z.B. bei Banken, Versicherungen, Zeitungen und Verlagen), ohne dass die Treuhandanstalt daran beteiligt war. Seit ihrer Gründung am 1. März 1990 war sie nur ein zahnloser Papiertiger gewesen. Erst in der kurzen Amtszeit von Detlev Karsten Rohwedder als Treuhandpräsident entwickelte sie sich ab Ende August 1990 zu einer funktionsfähigen Behörde, die dem gesetzlichen Auftrag nachkommen konnte. Binnen weniger Monate stieg der Personalbestand rasant an: von 379 (Stand: 30. September) auf 1.140 (Stand: 31. Dezember 1990). Rohwedder veranlasste nicht nur den massiven personellen Ausbau, sondern auch den strukturellen Umbau der Treuhandanstalt, um die Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. Ende 1990 wies die Anstalt fünf Unternehmensbereiche sowie vier weitere Vorstandsbereiche auf, die entweder Querschnittsbereiche umfassten oder für die Niederlassungen zuständig waren. Während die Belegschaft der Treuhandanstalt mehrheitlich ostdeutsch geprägt war, traf dies für die Leitungspositionen im Vorstand und in den einzelnen Direktoraten nicht zu. Diese Entwicklung war auf Rohwedder zurückzuführen, der seine in der Bonner Republik geknüpften Netzwerke nutzte, um Spitzenmanager für die von ihm geleitete Behörde zu gewinnen. Die rasche Übernahme von Leitungspositionen durch Westdeutsche erklärt sich aber auch durch die öffentliche Debatte über tatsächliche oder vermeintliche SED- bzw. MfS-Seilschaften. Um der öffentlichen Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte die Berliner Behörde im Herbst 1990 sogenannte Vertrauensbevollmächtigte ein.
Die Treuhandspitze erkannte im Spätsommer 1990, dass der eingeschlagene Privatisierungskurs Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit nach sich ziehen würde, und suchte nach einer Antwort auf die wirtschaftliche Talfahrt in Ostdeutschland. Ende September diskutierte der Vorstand über arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen. Die Diskussion drehte sich um die Aufstellung und Finanzierung von Sozialplänen sowie die Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Der Vorstand der Treuhandanstalt fasste am 26. Februar 1991 einen Grundsatzbeschluss mit weitreichender Bedeutung und erweiterte so das Aufgabentableau der Behörde erheblich. Seit diesem Zeitpunkt beteiligte sich die Behörde in Ostdeutschland an der beruflichen Fortbildung und Umschulung, den ABM, Beschäftigungsgesellschaften und Existenzgründungen (Management-Buy-out). Doch für diese Maßnahmen mussten zuvor viele rechtliche und fiskalische Fragen geklärt werden, denn die neuen Aufgaben entsprachen nicht dem ursprünglichen Auftrag der Treuhandanstalt. Dazu waren Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium und den ostdeutschen Landesregierungen erforderlich. Außerdem mussten die Tarifparteien bei der Aufstellung von Sozialplänen eingebunden werden.
Durch die Ausweitung des Aufgabenprofils vergrößerte sich der Kreis der Akteure, die an der Privatisierung der ostdeutschen Betriebe beteiligt waren. Das schlug sich auch in der Zusammensetzung des Verwaltungsrates nieder, in dem die ostdeutschen Ministerpräsidenten, aber auch Unternehmer und Gewerkschafter (DGB, DAG, IG Metall, IG Chemie-Papier-Keramik) Sitz und Stimme erhielten. Das korporatistische Wirtschaftsmodell des rheinischen Kapitalismus, das sich in Westdeutschland über Jahrzehnte bewährt hatte und das wichtige Interessengruppen berücksichtigte, diente als Vorbild. Obwohl die letzte Entscheidung beim Vorstand und dem ihm zuarbeitenden Leitungsausschuss lag, hatte der Verwaltungsrat ein Mitspracherecht. Die Ausweitung des Aufgabenkatalogs der Treuhandanstalt warf im Übrigen staats- und verfassungsrechtliche Fragen auf, tangierte die Behörde doch das fein austarierte Zusammenspiel zwischen Bund und Länder. Mehr noch: Die Treuhandanstalt war ein Fremdkörper in der föderativen Ordnung der Bundesrepublik, die aus dem Gleichgewicht zu geraten drohte. Denn die Berliner Behörde griff mit der ihr zugewiesenen Industrie- und Strukturpolitik (Politik der „industriellen Kerne“) in die Domäne der Länder direkt ein, was von den westdeutschen Bundesländern mit Argwohn registriert wurde. Daraus erklärt sich auch das gesteigerte Interesse bei den politischen Akteuren in West und Ost an einer zeitnahen Abwicklung der Behörde. Die Treuhandanstalt sollte keine dauerhafte Einrichtung werden.
III. Die Treuhandanstalt unter Birgit Breuel
Im Frühjahr 1991 erschütterte ein Ereignis die bundesdeutsche Öffentlichkeit: In der Nacht auf Ostermontag fiel Treuhandchef Rohwedder einem Mordanschlag zum Opfer, der einem Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF) zugeschrieben wurde. Obwohl die Kritik an der Behörde nicht abriss, flauten die ostdeutschen Massenproteste etwas ab. Bereits am 13. April ernannte der Verwaltungsrat Birgit Breuel zur neuen Präsidentin der Treuhandanstalt, die von Anfang an die Kontinuität zu ihrem Amtsvorgänger betonte. Die Personalexpansion setzte sich weiter fort: Mitte 1991 zählte die Treuhandanstalt insgesamt 2.722 Beschäftigte und sechs Monate später 3.604. Den Zenit erreichte die Behörde am 30. Juni 1992, als die Personalstärke bei 3.941 lag. Danach folgte der Rückbau der Behörde, der sich auch in sinkenden Beschäftigtenzahlen manifestierte – zunächst in den Niederlassungen und anschließend in der Berliner Zentrale. Am 30. Dezember 1994 schraubte die Treuhandchefin vor laufenden Kameras das Behördenschild im Eingangsbereich ihres Amtssitzes ab. Die symbolträchtige Aktion dokumentierte die Auflösung der Treuhandanstalt, deren Aufgaben von der bis heute existierenden, inzwischen aber in Liquidation befindlichen Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) übernommen wurden. Während die Treuhandanstalt bis heute in Ostdeutschland einen hohen Bekanntheitswert hat, kann mit der BvS kaum jemand in der Öffentlichkeit etwas anfangen.
Die Treuhandanstalt reagierte auf die Zunahme des Privatisierungstempos und der damit verbundenen öffentlichen Kritik, indem sie das interne Regelwerk verschärfte und zusätzliche Kontrollinstanzen schuf. So ließ der Vorstand Handbücher mit Handlungsanweisungen für die Privatisierung und Abwicklung der Betriebe ausarbeiten, die für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde verbindlichen Charakter hatten. Seit dem Frühjahr 1991 gab es drei interne Kontrollinstanzen, die weiter ausgebaut wurden – die Abteilungen Controlling und Revision sowie die Stabsstelle für besondere Aufgaben. Letztere sollte unter der Leitung eines beurlaubten Staatsanwalts strafrechtlich relevante Vorgänge in der Treuhandanstalt untersuchen. Die Einrichtung der Stabsstelle verfolgte zwei Ziele: Zum einen signalisierte sie der Öffentlichkeit, dass die Behördenspitze auf Missstände und individuelles Fehlverhalten reagierte. Zum anderen hatte sie eine disziplinierende Funktion für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhandanstalt. Die Einrichtung dieser Ermittlungsstelle erfolgte allerdings auf öffentlichen Druck, denn im Frühjahr 1991 tauchten in der Presse vermehrt Vorwürfe über angeblich korrupte Mitarbeiter auf. Die genaue Anzahl der Korruptionsfälle lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Fest steht: Auch wenn es Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit der Privatisierung ostdeutscher Betriebe gab, geht doch darin allein die Geschichte der Treuhandanstalt nicht auf.
Unter Birgit Breuel beschleunigten sich die Privatisierungsabschlüsse der Treuhandanstalt. Lag die Anzahl der Einzelentscheidungen im ersten Quartal 1991 noch bei etwa 800, erhöhte sie sich innerhalb eines halben Jahres auf etwa 1.500 (3. Quartal 1991). In der öffentlichen Wahrnehmung überwog lange Zeit der Eindruck, erst in der Amtszeit der Treuhandpräsidentin Breuel habe die Zeit der Turboprivatisierung begonnen, bei der nur noch betriebswirtschaftliche Aspekte im Fokus gestanden hätten. Auf diese Weise verfestigte sich in der Öffentlichkeit das Bild, Rohwedder habe – anders als seine Nachfolgerin – die Unternehmen erst sanieren und dann privatisieren wollen. Die vergleichsweise geringe Anzahl von Privatisierungsabschlüssen in der Amtszeit von Rohwedder hängt jedoch primär mit der Tatsache zusammen, dass die Treuhandanstalt in dieser Frühphase erst noch auf- und ausgebaut werden musste. Ein kohärentes Konzept zur Privatisierung der ostdeutschen Betriebe hat es weder bei der Bundesregierung noch bei der Treuhandanstalt gegeben. Die Privatisierung verlief im Einzelfall ganz unterschiedlich und war von mehreren Faktoren abhängig. Bei der Bewertung aus heutiger Perspektive müssen z.B. die Betriebsgröße, der Zeitpunkt der Privatisierung, die Markt- und Ertragslage, das Produktsortiment, die potenziellen Käufer, aber auch die politischen Rahmenbedingungen vor Ort berücksichtigt werden. Außerdem muss der Untersuchungszeitraum bis in die 2000er Jahre verlängert werden, da mit der Erstprivatisierung das Überleben eines Betriebes noch nicht gesichert war. Generell gilt, dass die Entscheidungen der Treuhandanstalt in der Anfangsphase unter einem Mangel an Zeit und fachlicher Expertise litten.
Die eigentliche Herkulesaufgabe, mit der sich die Treuhandanstalt auseinandersetzen musste, war der ökonomische Strukturwandel in Ostdeutschland. Da für die SED-Führung die Garantie der Vollbeschäftigung („Recht auf Arbeit“) nicht zur Disposition gestanden hatte, war eine Anpassung der DDR-Wirtschaft an die Entwicklung der Weltwirtschaft kaum erfolgt. Diese schien aus Sicht der Machthaber in Ost-Berlin auch nicht notwendig zu sein. Denn mit der Neuordnung der Produktionsverhältnisse, der Durchsetzung der Planwirtschaft und der Integration der DDR in das Wirtschaftssystem des RGW glaubte man eine Antwort auf die Krise des Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit gefunden zu haben. Doch dieser verschlafene Strukturwandel war eine große Belastung für die ostdeutschen Betriebe, wie sich nach dem Mauerfall 1989 herausstellte. Denn nun musste der Preis dafür gezahlt werden, dass sich die SED-Führung in den 1970er und 1980er Jahren standhaft geweigert hatte, auf den Veränderungsdruck zu reagieren, der vom globalen Strukturwandel ausging. Das zeigte sich nicht nur im Bereich der Hochtechnologie, etwa bei der Massenproduktion von Mikrochips, bei der die DDR trotz vorheriger Anstrengungen in keiner Weise konkurrenzfähig war. Die 1989/90 einsetzende ökonomische Transformation in Ostdeutschland vollzog sich in nur wenigen Jahren. Im Vergleich dazu zog sich der Strukturwandel etwa im westdeutschen Ruhrbergbau über sechs Jahrzehnte hin – von Ende der 1950er Jahre bis 2018. Damit fallen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Veränderungsprozesse in Ost und West ins Auge.
IV. Verlusterfahrungen und Proteste
Die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit, die viele Ostdeutsche nach 1990 erstmals machen mussten, erzeugten nicht nur neue soziale Ungleichheiten, sondern prägte auch nachhaltig die politischen und kulturellen Einstellungen vieler Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Mit den Betriebsschließungen gingen nicht nur sicher geglaubte Arbeitsplätze verloren. Es verschwand auch die betriebszentrierte sozialistische Arbeitswelt, die für die Bevölkerung bis zum Mauerfall 1989 eine Rundumversorgung mit Polikliniken, Kitas und Ferienheimen bis hin zu Feierabendheimen und Kulturhäusern bereitgehalten hatte. Damit veränderten sich Arbeitswelten und die daran gekoppelten tradierten Familien- und Geschlechterbilder. Darüber hinaus zeigte sich bereits Anfang der 1990er Jahre, dass die durch das SED-Regime garantierte sozialistische Arbeitswelt die Erwartungshaltungen großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung langfristig geprägt hatte. Allem Anschein nach favorisierten viele Ostdeutsche einen starken, d.h. fürsorgenden Staat, der die Ausgestaltung der sozialen Lebenswirklichkeit nicht dem Markt überließ. Die wirtschaftliche Talfahrt in den ostdeutschen Bundesländern und die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit in den 1990er Jahren haben diese Grundhaltung nochmals verfestigt.
Der Protest, der sich in Ostdeutschland gegen die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt Ende 1990 formierte, nahm im Frühjahr 1991 an Intensität weiter zu. Vor den Werktoren vieler Betriebe, deren Zukunft ungewiss war, demonstrierten Beschäftigte für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Die Proteste, die von Gewerkschaften und Betriebsräten unterstützt wurde, waren dezentral und im lokalen Raum organisiert. Die Auseinandersetzung um die Schließung des Kalibergwerks in Bischofferode und der Hungerstreik der Kalikumpel 1993 gelten als Höhe- und Wendepunkt der Protestwelle in Ostdeutschland. Alle Akteure – die Treuhandanstalt, die Bundesregierung, die thüringische Landesregierung und die Gewerkschaften – waren von dem Ausmaß der öffentlichen Proteste und dem großen medialen Interesse vollkommen überrascht. Bischofferode stellt bis heute nicht nur einen hochgradig kontaminierten Erinnerungsort des ostdeutschen Strukturwandels dar, sondern zeigt auch die selektive Wahrnehmung sozioökonomischer Prozesse in der Medienöffentlichkeit. So erzielten die Betriebe der ostdeutschen Textilindustrie, die in den 1990er Jahren ebenfalls schließen mussten, keine vergleichbare Aufmerksamkeit. Dieser Strukturwandel vollzog sich weitgehend unterhalb des Radarschirms der Öffentlichkeit und fand kaum öffentliches Interesse.
Die Tätigkeit der Treuhandanstalt wurde von Anfang an von einer unglücklich erscheinenden Kommunikationspolitik begleitet, die angesichts der Größe der Privatisierungsaufgabe und der Vielzahl der Arbeitsfelder nur scheitern konnte. Das zeigte sich schon im Herbst 1990, als Präsident Rohwedder in der Öffentlichkeit etwas vorschnell eine Bilanzsumme des volkseigenen Vermögens nannte, die sich rasch als Fehleinschätzung entpuppte. Der Treuhandchef hatte gegenüber insistierenden Pressevertretern erklärt, die ostdeutsche Wirtschaft sei angeblich 600 Milliarden D-Mark wert. Diese Zahl beruhte auf ersten Schätzungen der Modrow-Regierung. Deshalb war das Bonner Wirtschaftsministerium lange Zeit davon ausgegangen, dass bei einer raschen Privatisierung mit hohen Verwertungserlösen zu rechnen sei. Dabei waren allerdings nicht die sogenannten Altschulden der DDR-Betriebe berücksichtigt, die in der Planwirtschaft keine Rolle gespielt hatten, aber nach der Währungsumstellung am 1. Juli 1990 mit etwa 120 Milliarden D-Mark zu Buche schlugen. Außerdem standen die D-Mark-Eröffnungsbilanzen aus, die von den Treuhandunternehmen noch zu erstellen waren und die den Blick auf den Zustand der ostdeutschen Betriebe erheblich eintrüben sollten. Aus den erwarteten Verkaufserlösen ergaben sich am Ende hohe Verluste.
Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Dazu gehört etwa das Versprechen von den „blühenden Landschaften“, das Bundeskanzler Helmut Kohl, aber auch andere westdeutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter der ostdeutschen Bevölkerung im Sommer 1990 gaben. Zu den zählebigen Legenden, die bis heute nachwirken, gehört aber auch die von Erich Honecker 1967 in die Welt gesetzte Behauptung, die DDR zähle zu den zehn größten Industrieländern der Erde. Daraus lassen sich zwei Lehren ziehen: Erstens gilt es, die Komplexität der ökonomischen Herausforderung zu erkennen, die mit der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft verbunden war. Dafür gab es keine Vorbilder. Zweitens geht es darum, die unterschiedlichen Erfahrungswelten der Menschen in Ost und West stärker zu berücksichtigen, die sich im Zuge der Teilung über 40 Jahre herausgebildet hatten und die über die Zäsur von 1989/90 noch lange nachwirken.
[1] Dierk Hoffmann ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Er hat das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ geleitet.
[2] Der Text basiert auf den Ergebnissen einer früheren Darstellung von mir. Vgl. Dierk Hoffmann: Treuhandanstalt – Privatisierung – Öffentlichkeit. Eine Einführung, in: Dierk Hoffmann (Hrsg.): Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft, Berlin 2022, S. 13-115. Der Sammelband ist Teil eines größeren Forschungsprojekts zur Geschichte der Treuhandanstalt, das am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin durchgeführt wurde. Die insgesamt zehn Einzelstudien sowie der Sammelband sind in der Reihe „Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt“ beim Ch. Links Verlag erschienen. Vgl. https://www.aufbau-verlage.de/ch-links-verlag/die-umkampfte-einheit/978-3-96289-174-9 [Zugriff am 6.5.2025].