Editorial H-und-G.info 1/25

Wurde die ostdeutsche Wirtschaft im Zuge der Deutschen Einheit verschleudert? Zwei Personen, drei Meinungen. Kaum ein Thema ist bis heute in Ostdeutschland so umstritten wie die Treuhand. Viele meinen - daher der Titel - das DDR-Volksvermögen sei schlicht verramscht worden. Der zweite[1] Treuhandpräsident Detlev Karsten Rohwedder hatte selbst falsche Erwartungen erweckt, als er behauptete „der ganze Salat“ sei 600.000 Milliarden Mark der DDR wert. Die Zahl beruhte allerdings nicht auf marktwirtschaftlichen Einschätzungen, sondern stammte aus der Datenbank der Plankommission der DDR. Statt eines Milliardengewinns fuhr die Treuhand schließlich ein dreistelliges Minus ein. Viele hatten daher den Eindruck, die Volkseigene Wirtschaft sei unter Wert privatisiert worden. Doch gerade Verkäufe zu geringen Preisen oder symbolisch einer Mark (s. Titel) signalisieren, dass die Treuhand Käufern entgegenkam, um deren Spielraum für Investitionen zu erweitern. Dass die Berliner Behörde dabei öfter von Erwerbern getäuscht wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Schon lange ist bekannt, dass der Ostberliner Privatisierungsagentur manches angerechnet wurde, für das sie gar nicht verantwortlich war: die vielfach marode Wirtschaft der DDR, über die die SED die Bevölkerung getäuscht hatte; der Zusammenbruch der kommunistischen Wirtschaftsvereinigung RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) noch unter Hans Modrow; die Wirtschafts- und Währungsunion mit der Geldumstellung von 1 Mark zu 1 DM, die die Bevölkerung der DDR „erkämpft“ hatte; die politischen Rahmenbedingungen und die weltwirtschaftliche Entwicklung, die den Raum von Wladiwostock bis Ostberlin deregulierte. All dies wirkte sich auf die Chancen ostdeutscher Betriebe aus, in der Marktwirtschaft zu bestehen, ohne dass die Treuhand diese steuern konnte. Dennoch wurde sie für all die negativen Folgen angeprangert. Sie eignete sich auch gut als Sündenbock, da das Management ganz überwiegend aus dem Westen kam und es den Anschein hatte, als öffnete sie den Westkapitalisten nur die Tür zur Einkaufstour. Dass die Ostdeutschen teilweise selber die Ablösung der SED-Wirtschaftsfunktionäre gefordert hatten, um die Bildung von Seilschaften zu verhindern, hatten viele schnell vergessen.

Die Stimmung in der ostdeutschen Bevölkerung bzw. den in Umstrukturierung befindlichen Betrieben, war zweitweise so schlecht, dass eine Art revolutionäres Nachbeben in Ostdeutschland befürchtet wurde. Bis heute wird von vielen übersehen, wie stark und vergleichsweise schnell die Treuhand nachsteuerte, wenn Probleme auftauchten. Als ehemaliger Hauptstadtkorrespondent des SFB-Hörfunks war ich zwei Jahre auch für die Treuhand zuständig. Nur aus der Erinnerung seien fünf Punkte erwähnt, wo nachgebessert wurde: Als die Betriebe 1990/1 zu kollabieren drohten, weil ihr Absatz zusammenbrach, nachdem die Währung umgestellt war und sich die DDR-Produkte verteuert hatten, wurden sie mit Milliarden gestürzt. Als Massenproteste gegen Entlassungen und (Teil-)Betriebsschließungen anstanden, wurden massenhaft Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen v.a. in der Metall- und Chemiebranche etabliert. Auf Betrügereien von Investoren und Mitarbeitern reagierte die Anstalt mit der Einrichtung eine Rechtsstabsstelle; auf die Kritik, dass zu wenig Ostdeutsche zu Eigentümern würden, wiederum mit einem MBO-Programm (Management Buy out), das ostdeutschen Leitern eine Chance gab. Man kann sicher sagen, das alles kam zu spät und reichte nicht aus, auf der anderen Seite erwies sich der große aus dem Boden gestampfte Apparat als erstaunlich lernfähig.

Inzwischen sind die Akten der Treuhand vom Bundesarchiv freigegeben und zum Teil ausgewertet. Manche erhoffen sich davon eine Versachlichung der Debatte. Doch das ist vermutlich zu viel erwartet, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein Chemnitzer Großbetrieb produzierte einst für den gesamten RGW. Er bekam durch politische Entscheidungen Großaufträge und Beschäftigte 5000 Personen. Mit dem Zusammenbruch des RGW (noch unter SED-Regierungschef Hans Modrow) fielen diese Aufträge weg, mit der Währungsunion verteuerte sich sein Angebot auf dem Markt um den Faktor 4. Trotzdem gelang es dem Betrieb zu überleben: Mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das war eine riesige Leistung. Dennoch dürfte es zu viel verlangt sein, von den 4500 Beschäftigten, die nicht mehr dabei sein konnten, das Ergebnis als Erfolg zu feiern. Man hat so gar den Eindruck, dass die die wirtschaftlich erfolgreich durch die „Wende“ kamen, sich nicht trauen, das zu sagen, weil sie genügend Leute kennen, bei denen es nicht so war und die sie dafür kritisieren könnten. Erschreckend fand ich die Absage eines Autors. Er befürchtete massive Anfeindungen von ehemaligen Kollegen, weil er die Privatisierung seines Betriebes grundsätzlich als Erfolgsgeschichte ansähe. Wo Dialog nicht möglich ist, gibt es auch keine Erkenntnisfortschritte.

Der Inhalt dieser Ausgabe beginnt mit einer Kontroverse zur Treuhandeinschätzung (Ramelow, Pötzl, Gebhardt, Schröder), wohl wissend, dass sie in manchen Bevölkerungskreisen härter ausgetragen wird. Der Blick von draußen, aus Polen, (Okoński) dürfte manche Treuhandkritik im milderen Licht erscheinen lassen. Vor einigen Jahren hat das Bundesarchiv die Akten zur Treuhand geöffnet. Vor allem das Projekt des Institutes für Zeitgeschichte hat sich Verdienste erworben, mit mehreren Wissenschaftlern eine erste Schneise durch das Konvolut zu ziehen. Wir freuen uns, dass gleich drei von Ihnen mit Beiträgen vertreten sind (Projektleiter Dierk Hoffmann, Andreas Malycha, Rainer Karlsch).

Zunächst wird ein Überblick über die Jahre 1990-1994 und die Rahmenbedingungen gegeben, unter denen die Treuhand existierte. Exemplarisch werden dann Punkte genannt, die schon seinerzeit kritische Diskussionen hervorriefen. (Kriminalität/Bischoff, Staatseinfluss/Malycha, Seilschaften/Malycha). Interessant die Erkenntnis aus den Akten, dass der Druck ostdeutsche Manager zu entlasten aus der ostdeutschen Bevölkerung kam, während die Treuhandverantwortlichen eher an ihnen festhalten wollten. Das steht im Gegensatz zu manchen heutigen Plattitüten über die angebliche Kolonisierung des Ostens.

Schon 1995 am Ende der Treuhand gab es Versuche an Hand von Arbeitsplatzzahlen die Privatisierungserfolge zu bilanzieren (Kühl, u.a.), heute fällt die Bilanz auf Grund von Aktenkenntnissen differenzierte aus. (Judt)

Interessant sind die Überlegungen des ehemaligen Pressesprechers der Treuhand, Wolf Schöde, ob es damals Alternativen zur Arbeit der Treuhand gegeben hätte.

Insbesondere auf Grund der bis heute nicht verheilten Wunden wird neben wirtschaftlichen auch auf soziale und mentale Aspekte des Umbruchs eingegangen. (Gleicke, Wierling, Neumaier) Man könnte den Radius noch weiter ziehen, etwa auf die Zersetzung von Milieus oder Auswirkungen von Betriebsschließungen auf eine Region. Wir haben uns im Wesentlichen auf das Thema Frauen beschränkt, weil diese zweifellos zu den Verlierern auf dem Arbeitsmarkt gehörten.

Im Grunde muss man jeden einzelnen Fall separat bewerten, weil Zustand der Betriebe, politische Unterstützer und Marktchancen jeweils unterschiedlich waren. Wir haben daher versucht, eine breite Palette von Beispielen aufzufächern (Karlsch, Sarrazin, Steiner, Rapp, Morgenstern, Warnecke, Lindner-Elsner, Clausecker, Axster, Dörre, Brunner)

Wo steht Ostdeutschland heute? Blühende Landschaften oder verdorrter Mezzogioro? Die Bilanz scheint gar nicht so schlecht, aber die Fortschritte sind bescheiden und heutige globale Krisen bedrängen Betriebe, die glaubten es in den 1990ern „geschafft“ zu haben. (van Deuverden, Gropp/Holtemöller)

Wie immer gibt es auch einzelne Beiträge zu anderen Themen und Rezensionen.

Der nächste Schwerpunkt soll sich dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen für Europa widmen. Beiträge sind erwünscht ( H-und-G.info@web.de)

 

Dr. Martin Böttger, Dr. Christian Booß

 


[1] Die kurze Zeit des ersten Treuhandchefs Raine Maria Gohlke wird oft übersehen.